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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
5A_890/2019  
 
 
Urteil vom 9. Dezember 2019  
 
II. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Herrmann, Präsident, 
Bundesrichter Marazzi, Schöbi, 
Gerichtsschreiber Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Schroff, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1. B.________, 
2. Verein C.________, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Rolf W. Rempfler, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Wahrung der Berufungsfrist (Persönlichkeitsverletzung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 3. Oktober 2019 (ZBR.2019.26). 
 
 
Sachverhalt:  
B.________ und der Verein C.________ reichten gegen A.________ Klage wegen Persönlichkeitsverletzung ein. Der Entscheid des Bezirksgerichts Münchwilen datiert vom 16. Mai 2019 (Ausfertigung am 17. Juni 2019). 
Gegen diesen Entscheid liess A.________ durch Rechtsanwalt Christian Schroff Berufung erheben. Die Frist lief am 19. August 2019 aus. Die Berufungsschrift trägt dieses Datum, wurde jedoch erst am 20. August 2019 dem Obergericht persönlich überbracht. 
Am 2. September 2019 liess A.________ durch Rechtsanwalt Christian Schroff ein Fristwiederherstellungsgesuch stellen. 
Mit Entscheid vom 3. Oktober 2019 wies das Obergericht das Gesuch um Fristwiederherstellung ab und trat auf die Berufung nicht ein. 
Gegen diesen Entscheid hat A.________ am 5. November 2019 beim Bundesgericht eine Beschwerde eingereicht mit dem Begehren um dessen Aufhebung und Rückweisung der Sache zur Beurteilung der Berufung. Ferner wird die unentgeltliche Rechtspflege und die aufschiebende Wirkung verlangt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin schob vor Obergericht die Fristversäumnis seiner Sekretärin zu, indem er geltend machte (und auch beschwerdeweise geltend macht), diese sei beauftragt gewesen, die Berufungsschrift zur Post zu bringen, habe sich aber, als diese bereits geschlossen gewesen sei, spontan entschieden, die Sendung am Folgetag persönlich beim Obergericht vorbeizubringen. Seine Sekretärin habe mithin aus Praktikabilitätsgründen und nicht aus böser Absicht gehandelt. 
Das Obergericht hat sich auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Fristeinhaltung gestützt und befunden, das Verhalten der Sekretärin als Hilfsperson sei dem Rechtsanwalt zuzurechnen und es mache mithin keinen Unterschied, bei wem der Fehler liege. Im Übrigen müsseein Rechtsanwalt seinen Kanzleibetrieb so organisieren, dass er die fristgerechte Aufgabe von Postsendungen sicherstellen könne. Ferner hätte er seine Sekretärin auch instruieren sollen, dass die Rechtsschrift zwingend noch am 19. August 2019 der Post übergeben sein müsse. Im Übrigen sei das nur knappe Verpassen einer Frist nicht geeignet, das Verschulden geringer erscheinen zu lassen. 
 
2.   
Beschwerdeweise wird eine falsche Anwendung von Art. 148 ZPO vorgebracht (dazu E. 3 ff.) und ferner separat eine Verletzung verfassungsrechtlicher Minimalgarantien geltend gemacht. 
Was Letzteres anbelangt, kann sich die Beschwerdeführerin nicht abstrakt auf Grundrechte oder gar den allgemeinen Verhältnismässigkeitsgrundsatz von Art. 36 Abs. 3 BV berufen. Die Frage der Fristwiederherstellung ist in Art. 148 ZPO auf Gesetzesstufe konkret geregelt und es ist somit darzulegen, inwiefern diese Bestimmung falsch angewandt worden sein soll (BGE 107 Ia 277 E. 3a S. 280 f.; 143 I 217 E. 5.2 S. 219; Urteil 5A_384/2018 vom 21. September 2018 E. 3, nicht publ. in BGE 144 III 481; sodann Urteile 5P.40/2003 vom 27. Mai 2003 E. 4; 5D_8/2016 vom 3. Juni 2016 E. 3; 5A_362/2016 vom 20. Februar 2017 E. 6.3; 5A_252/2017 vom 21. Juni 2017 E. 5; 5A_98/2016 vom 25. Juni 2018 E. 3.3; 5A_408/2018 vom 28. November 2018; 5A_681/2018 vom 1. Mai 2019 E. 4.3; 5A_1050/2018 vom 17. Mai 2019 E. 3.3.2). 
Das Gleiche gilt für das Vorbringen, Art. 9 und Art. 29 Abs. 1 BV bzw. spezifisch das Verbot des überspitzten Formalismus seinen verletzt, indem der Zugang zum Gericht bzw. der Rechtsweg abgeschnitten worden sei: Zum einen müsste sich die Beschwerdeführerin mit den konkreten Gesetzesbestimmungen in der Zivilprozessordnung auseinandersetzen. Zum anderen hat ohnehin nicht das Gericht den Zugang verbaut, sondern der Rechtsanwalt hat seine Mandantin durch verspätete Eingabe des Zuganges beraubt. Es liegt keine Verletzung von verfassungsmässigen Rechten darin begründet, dass die Prozessordnungen verschiedene Eintretensvoraussetzungen aufstellen, namentlich durch Fristen, Kostenvorschüsse, Interessensnachweise, Anwesenheitspflichten u.ä.m. 
 
3.   
Die Berufungsfrist beträgt 30 Tage ab Zustellung des begründeten erstinstanzlichen Entscheides (Art. 311 Abs. 1 ZPO). Spätestens am letzten Tag der Frist sind Eingaben beim Gericht einzureichen oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post zu übergeben (Art. 143 Abs. 1 ZPO). 
Dass vorliegend die Frist am 19. August 2019 auslief und die Berufungsschrift erst am 20. August 2019 dem Obergericht überbracht wurde, dass mithin die Berufungsfrist verpasst ist, blieb unbestritten. Es stellt sich mithin einzig die Frage der Fristwiederherstellung. 
Gemäss Art. 148 ZPO kann das Gericht einer Partei auf Gesuch hin eine Nachfrist gewähren, wenn diese glaubhaft macht, dass sie kein oder nur ein leichtes Verschulden trifft. Art. 148 ZPO bezieht sich auf richterliche wie auch gesetzliche Fristen, zu welchen insbesondere auch die Rechtsmittelfristen gehören (statt vieler: FREI, in: Berner Kommentar, 2012, N. 5 zu Art. 148 ZPO). 
 
4.   
Vorab beruft sich die Beschwerdeführerin auf BGE 140 III 636. Wie sich bereits aus der Regeste ergibt, betraf dieser Entscheid aber eine völlig andere Konstellation: Dort war das Rechtsmittel  fristgerechterhoben worden, jedoch beim iudex a quo statt beim iudex ad quem. Das Bundesgericht hat gesetzesfüllend dafür gehalten, dass - wie dies in vielen anderen Verfahrensgesetzen ausdrücklich vorgesehen ist - auch im Anwendungsbereich der Zivilprozessordnung eine Weiterleitungspflicht an das sachlich zuständige Gericht besteht, weil es sich dabei um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt. Diese Überlegungen zur Frage der Weiterleitungspflicht einer rechtzeitig erfolgten Beschwerde haben mit dem vorliegenden Fall nichts zu tun; allgemeiner Rechtsgrundsatz ist vielmehr, dass Fristen einzuhalten sind.  
 
5.   
Sodann beruft sich die Beschwerdeführerin darauf, dass gemäss herrschender Lehre das Verschulden von Hilfspersonen dem Rechtsanwalt nicht zugerechnet werden dürfe (ausführlich zur betreffenden Kontroverse FREI, a.a.O., N. 27 ff. zu Art. 148 ZPO). 
In der Tat vertritt ein Teil der Lehre bzw. der Kommentatoren für die Zivilprozessordnung die entsprechende Ansicht (etwa GOZZI, in: Basler Kommentar, 3. Aufl. 2017, N. 16 zu Art. 148 ZPO; STAEHELIN, in: Kommentar zur schweizerischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, N. 10 zu Art. 148 ZPO; MERZ, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Kommentar, 2. Aufl. 2016, N. 11 zu Art. 148 ZPO; HOFFMANN-NOWOTNY, in: Kurzkommentar ZPO, 2. Aufl. 2013, N. 8 zu Art. 148 ZPO). Dies wird namentlich daraus abgeleitet, dass der Gesetzgeber bei der Zivilprozessordnung an die Aufmerksamkeit nicht zu hohe Anforderungen habe stellen und auch bei (nur) leichtem Verschulden die Fristwiederherstellung ermöglichen wollen. 
Daran ist so viel richtig, dass Art. 148 ZPO die Möglichkeit zur Fristwiederherstellung bereits dann eröffnet, wenn (nur) ein leichtes Verschulden vorliegt, während beispielsweise Art. 50 Abs. 1 BGG, Art. 33 Abs. 4 SchKG oder Art. 24 Abs. 1 VwVG fehlendes Verschulden voraussetzen. Soweit daraus jedoch abgeleitet wird, das Verschulden einer Hilfsperson sei dem Rechtsanwalt nicht zuzurechnen, werden zwei völlig verschiedene Themen vermengt bzw. gewissermassen kurzgeschlossen: Es ist zu unterscheiden zwischen der Frage der Zurechnung von Drittverhalten und derjenigen des Verschuldensgrades. 
Die Antwort auf die erste Frage bemisst sich bei Hilfspersonen nach Art. 101 Abs. 1 OR. Eine Anwaltssekretärin steht in einem von Subordination geprägten Arbeitsverhältnis zum Rechtsanwalt und ist eine typische Hilfsperson im Sinn von Art. 101 OR; entsprechend wird ihr Handeln dem Rechtsanwalt - und als Vertreter dessen Handeln dem Mandanten - wie eigenes zugerechnet, was in der publizierten wie auch unpublizierten bundesgerichtlichen Rechtsprechung bis jüngst bestätigt wurde (vgl. BGE 143 I 284 E. 2.1 S. 288; Urteil 2C_177/2019 vom 22. Juli 2019 E. 4.2.2; je mit Hinweisen auf die konstante Rechtsprechung). Wenn der Rechtsanwalt bloss für sorgfältige Auswahl und Instruktion der Sekretärin haften müsste, würde dies faktisch eine Anwendung von Art. 55 OR bedeuten. Dort geht es aber um ausservertragliche Haftung, während vorliegend die auf vertraglicher Basis erfolgende Mandatsführung durch den Rechtsanwalt und sein aus Stellvertretung der Mandantin zuzurechnendes Handeln zur Debatte steht. Entsprechend hat das Bundesgericht eine Ausrichtung an Art. 55 OR für den vorliegend interessierenden Kontext explizit abgelehnt (vgl. Urteil 2C_534/2016 vom 21. März 2017 E. 3.4 und 3.5). Im vertraglichen Bereich bemisst sich die Zurechnung von Handlungen beigezogener Drittpersonen wie gesagt nach Art. 101 Abs. 1 OR. Es gilt die Formel, dass diejenige Person, welche die Vorteile der Erfüllung von Schuldpflichten durch Beizug einer Hilfsperson geniesst, auch die sich aus der entsprechenden Tätigkeit ergebenden Nachteile tragen muss (Urteil 2C_177/2019 vom 22. Juli 2019 E. 4.2.2 mit zahlreichen Hinweisen). Es besteht kein Anlass, auf die konstante Rechtsprechung zurückzukommen. 
Ist aber die erste Frage positiv zu beantworten, so gilt mit Blick auf die Beantwortung der zweiten Frage der Grundsatz, dass der Rechtsanwalt so zu stellen ist, wie wenn er selbst entsprechend gehandelt hätte (sog. hypothetische Vorwerfbarkeit; BGE 130 III 591 E. 5.5.4 S. 605; WEBER, in: Berner Kommentar, 2000, N. 113 und 118 zu Art. 101 OR; WIEGAND, in: Basler Kommentar, 6. Aufl. 2015, N. 13 f. zu Art. 101 OR). Es ist mithin zu prüfen, von welchem Verschuldensgrad auszugehen wäre, wenn der Rechtsanwalt selbst die Sendung erst am nächsten Tag beim Gericht vorbeigebracht hätte statt sie fristgerecht der Post zu übergeben. Diesbezüglich gilt, dass Versehen stets ein grobes Verschulden bedeuten und zu den Pflichten des Rechtsanwaltes insbesondere auch die Prüfung der mit eingeschriebener Post versandten Gerichtskorrespondenz und die Fristenkontrolle gehören (FREY, a.a.O., N. 18 zu Art. 148 ZPO; GOZZI, a.a.O., N. 31 zu Art. 148 ZPO; STAEHELIN, a.a.O., N. 9 zu Art. 148 ZPO; TREZZINI, Commentario pratico, 2017, N. 15 zu Art. 148 ZPO). 
Weil das Versehen der Sekretärin beschwerdeweise stark in den Vordergrund gerückt wird, sei abschliessend bemerkt, dass dies im vorliegenden Fall insofern nicht den Ausschlag gibt, als ohnehin den Rechtsanwalt auch direkt ein eigenes Organisationsverschulden: Zur zweckmässigen Organisation einer Anwaltskanzlei gehört, dass die rechtzeitige Aufgabe von gerichtlichen Eingaben sicherzustellen ist, insbesondere wenn der Rechtsanwalt die (immerhin 30-tägige) Beschwerdefrist bis zum allerletzten Tag ausschöpfen will. Dies kann er durch relativ einfache Vorkehrungen bewerkstelligen, beispielsweise indem er sich die Aufgabequittungen vorlegen oder die Sendungsnummern übermitteln lässt. Ein pflichtbewusster Anwalt tut dies im Wissen, dass er für die rechtzeitige Aufgabe von gerichtlichen Eingaben die Verantwortung trägt. 
 
6.   
Was das Vorbringen anbelangt, die Wiederherstellung hätte das Verfahren nicht verzögert, nicht einmal um einen Tag, und bei geschlossener Poststelle hätte er die Sendung auch mit Zeugen am gleichen Abend einwerfen können, hat bereits das Obergericht zutreffend festgehalten, dass es nicht darauf ankommt, ob eine Frist nur knapp verpasst ist. Es liesse sich keine Grenze ziehen, zumal eine Eingabe auch mit B-Post versandt und bei längerer Versäumnis argumentiert werden könnte, erfahrungsgemäss hätte das Gericht die Eingabe nicht sofort an die Hand genommen, weshalb insgesamt keine Verzögerung eingetreten sei. 
 
7.   
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos. 
 
8.   
Wie die vorstehenden Erwägungen zeigen, konnte der Beschwerde von Anfang an kein Erfolg beschieden sein, weshalb es an den materiellen Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege fehlt (Art. 64 Abs. 1 BGG) und das entsprechende Gesuch abzuweisen ist. 
Die Gerichtskosten sind ausgangsgemäss der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Gegenseite ist kein entschädigungspflichtiger Aufwand entstanden. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 9. Dezember 2019 
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Herrmann 
 
Der Gerichtsschreiber: Möckli