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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6P.86/2003 
6S.228/2003 /kra 
 
Urteil vom 26. September 2003 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen, 
Gerichtsschreiber Weissenberger. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Peter Schnyder, Hauptstrasse 94, 7220 Schiers, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, Sennhofstrasse 17, 7001 Chur, 
Kantonsgericht von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, Poststrasse 14, 7002 Chur. 
 
Gegenstand 
Art. 9 und 29 Abs. 2 BV (Strafverfahren; Willkür, Verletzung des Anklagegrundsatzes); 
Verletzung von Verkehrsregeln, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, vom 23. Januar 2003. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ wurde am 22. Februar 2001 mit Strafmandat wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln zu einer Busse von Fr. 4'000.-- verurteilt. X.________ erhob dagegen Einsprache, worauf das ordentliche Anklageverfahren durchgeführt wurde. 
 
Der Bezirksgerichtsausschuss Prättigau/Davos (Strafkammer) sprach X.________ am 7. November 2002 der groben Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 34 Abs. 4, Art. 35 Abs. 2 und 4 sowie Art. 90 Ziff. 2 SVG schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 4'000.--. 
 
Das Kantonsgericht von Graubünden hiess eine Berufung des Verurteilten am 23. Januar 2003 teilweise gut, setzte die Busse auf Fr. 2'500.-- herab und bestätigte im Übrigen das angefochtene Urteil. 
B. 
X.________ führt sowohl staatsrechtliche Beschwerde als auch eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit denen er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Mit der Nichtigkeitsbeschwerde beantragt er zudem eventualiter, seine Verurteilung wegen Verstosses gegen Art. 90 Ziff. 2 SVG aufzuheben. 
 
Das Kantonsgericht von Graubünden beantragt, die Beschwerden abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Auf Gegenbemerkungen verzichtet es unter Hinweis auf die Erwägungen im angefochtenen Urteil (act. 6). 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
I. Staatsrechtliche Beschwerde 
1. 
Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Anklagegrundsatzes geltend. Er bringt vor, das Kantonsgericht habe ihn auch verurteilt, weil er keinen genügenden Abstand zu dem vor ihm fahrenden VW Golf eingehalten habe. In der Anklageschrift werde jedoch die Grösse des Abstandes zwischen beiden Fahrzeugen "mit keinem Wort erwähnt". Die Anklageschrift schweige sich ferner darüber aus, ob diesbezüglich eine Verkehrsregelverletzung vorliege bzw. zu prüfen sei. Auch die Ausführungen zu den anwendbaren Gesetzesbestimmungen gäben keinen Hinweis darauf, dass zusätzlich eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 VRV (Abstand beim Hintereinanderfahren) vorliegen könnte. Das Kantonsgericht habe ihn wegen Verletzung der Abstandsvorschrift nach Art. 34 Abs. 4 SVG ("faktisch in Verbindung von Art. 12 Abs. 1 VRV") schuldig gesprochen, obwohl im angeklagten Sachverhalt die Erfüllung dieses Tatbestandes in diesem Zusammenhang nicht beschrieben werde. Damit habe es gegen den Anklagegrundsatz und somit gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV verstossen (Beschwerde, S. 4-6). 
1.1 Der Anklagegrundsatz dient dem Schutz der Verteidigungsrechte des Angeklagten und konkretisiert insofern das Prinzip der Gehörsgewährung (Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 EMRK; BGE 120 IV 348 E. 2b). Nach diesem Grundsatz bestimmt die Anklage das Prozessthema. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens können mithin nur Sachverhalte sein, die dem Angeklagten in der Anklageschrift vorgeworfen werden. Diese muss die Person des Angeklagten sowie die ihm zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise umschreiben, dass die Vorwürfe im objektiven und subjektiven Bereich genügend konkretisiert sind (Umgrenzungsfunktion). An diese Anklage ist das Gericht gebunden. Die Anklage fixiert somit das Verfahrens- und Urteilsthema (Immutabilitätsprinzip). Zum anderen vermittelt sie dem Angeschuldigten die für die Durchführung des Verfahrens und die Verteidigung notwendigen Informationen. Sie dient insofern dem Schutz der Verteidigungsrechte des Angeklagten (Informationsfunktion). Beiden Funktionen kommt gleiches Gewicht zu (BGE 126 I 19 E. 2a; 120 IV 348 E. 2b und c; 116 Ia 455 E. 3a/cc je mit Hinweisen; ferner BGE 103 Ia 6; Hauser/Schweri, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 5. Auflage, Basel 2002, § 50 N. 6 f., 8 und 16 ff.). 
1.2 Der dem zu beurteilenden Fall zugrunde liegende Sachverhalt wird von der Anklageschrift folgendermassen umschrieben: 
 
Am Morgen des 7. Dezember 2000 um 08.45 Uhr fuhr X.________ mit seinem Personenwagen auf der Hauptstrasse Nr. 28 von Klosters in Richtung Davos hinter einem VW Golf und einem Lastwagen. Die Kolonne befuhr die Ortschaft "Wijer", Gemeinde Klosters, mit 33 km/h. Von dort aus konnte die ansteigende Strasse gut 300 Meter weit bis zu einer unübersichtlichen Kurve überblickt werden, worauf der Lenker des VW Golf zum Überholen des Lastwagens ansetzte. X.________ folgte sogleich dem VW Golf. Zur gleichen Zeit näherte sich aus der Gegenrichtung ein VW Käfer, der mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h talwärts fuhr. Als die Fahrerin des VW Käfers den überholenden VW Golf erblickte, bremste sie ihr Fahrzeug sofort bis auf eine Geschwindigkeit von rund 60 km/h ab. X.________ nahm das herannahende Fahrzeug erst wahr, als er sich auf der Höhe des Lastwagens befand, den er am Überholen war. Er entschloss sich daher, das Manöver gleichwohl abzuschliessen. Im Moment, als er mit seinem Fahrzeug nach dem Überholvorgang mit rund 80 km/h brüsk wieder auf die rechte Fahrspur gewechselt hatte, betrug der Abstand zum entgegenkommenden VW Käfer lediglich noch ungefähr 45 m. Die beiden Fahrzeuge kreuzten sich rund 1,2 s später. Der ganze Überholvorgang dauerte rund 6 s und erstreckte sich über mehr als 100 m. 
1.3 Sowohl in der Begründung des Strafmandats des Kreisamtes Klosters vom 22. Februar 2001 als auch in der Anklageschrift vom 17. Juli 2002 sowie im Urteil des Bezirksgerichtsausschusses vom 7. November 2002 wird dem Beschwerdeführer zur Last gelegt, mit seinem Überholmanöver die Regeln von Art. 34 Abs. 4 und 35 Abs. 2 und 4 SVG in grober Weise gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG verletzt zu haben. Der Regelverstoss wird dabei einzig aus der Sicht des Schutzes des entgegenkommenden und allenfalls des überholten Verkehrs erörtert. Soweit dem Beschwerdeführer ein "blindes" Anhängen an das vor ihm fahrende Fahrzeug (VW Golf) vorgeworfen wird, erfolgte dies lediglich im Zusammenhang mit der Gefährdung des Gegenverkehrs (vgl. Urteil Bezirksgerichtsausschuss, S. 8 f.). Der Abstand zum vorausfahrenden VW Golf und eine daraus sich allenfalls ergebende Rechtsverletzung wird weder im Strafmandat noch in der Anklageschrift oder dem Urteil des Bezirksgerichts angesprochen. Die Unterschreitung des ausreichenden Abstandes beim Hintereinanderfahren wird dem Beschwerdeführer erstmals in der Begründung des angefochtenen Urteils vorgehalten (Urteil Kantonsgerichtsausschuss, S. 7 ff.). Wie der Beschwerdeführer zutreffend einwendet, stützt sich seine Verurteilung damit teilweise auf einen anderen Sachverhalt als denjenigen in der Anklageschrift. 
 
Das Kantonsgericht bestätigt das Urteil des Bezirksgerichtsausschusses im Schuldpunkt, das auf grobe Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 34 Abs. 4 SVG und Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 2 SVG lautete. In seiner Begründung stützt das Kantonsgericht den Schuldspruch aber auch auf eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 VRV, was es nicht hätte tun dürfen. Indem die Vorinstanz dem Beschwerdeführer in der Urteilsbegründung zusätzlich die Verletzung der Bestimmung zum ausreichenden Abstand beim Hintereinanderfahren gemäss Art. 12 Abs. 1 VRV in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 2 SVG vorwarf, obwohl der Anklagesachverhalt und das Urteil der Erstinstanz die Erfüllung des Tatbestandes der groben Verletzung der Verkehrsregeln lediglich unter dem Aspekt der Gefahren für den Gegenverkehr und die überholten Fahrzeuge umschreiben, ist sie über den klar umgrenzten Sachverhalt, an den sie gebunden war, hinausgegangen. Diese Verletzung der Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers führt ungeachtet ihrer materiellen Bedeutung zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Damit erübrigt es sich, die weiteren Rügen zu beurteilen. 
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton Graubünden hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 2 OG). 
II. Nichtigkeitsbeschwerde 
2. 
Mit der Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde und der Aufhebung des angefochtenen Urteils hat der Beschwerdeführer kein schutzwürdiges Interesse mehr an der Beurteilung der Nichtigkeitsbeschwerde. Diese ist somit als gegenstandslos abzuschreiben. Praxisgemäss werden für dieses Verfahren weder Kosten erhoben noch wird eine Entschädigung ausgerichtet. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, vom 23. Januar 2003 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
2. 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird als gegenstandslos am Geschäftsverzeichnis abgeschrieben. 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
4. 
Der Kanton Graubünden hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Dr. Peter Schnyder, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten. 
5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden und dem Kantonsgericht von Graubünden, Kantonsgerichtsausschuss, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 26. September 2003 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: