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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_830/2010 
 
Urteil vom 21. Dezember 2010 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Kernen, Seiler, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
avanex Versicherungen AG, 
Recht, Postfach, 8081 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
H.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Christa Rempfler, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung (Krankenpflege; Zahnarzt), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 25. August 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Bei der 1940 geborenen H.________ bestand eine Oberkieferkammatrophie vom Schweregrad Cawood VI. Sie begab sich deswegen im Mai 2006 in zahnärztliche Behandlung (Wiederherstellung eines prothesefähigen Oberkiefers durch einen Sinuslift beidseits und Setzen von vier Implantaten). Die Helsana Versicherungen AG, bei welcher sie obligatorisch krankenpflegeversichert war, vergütete die in Rechnung gestellten Kosten im gesetzlichen Rahmen. 2008 erfolgte die Versorgung mit einer Hybridprothese als Zahnersatz. Die avanex Versicherungen AG (nachfolgend: avanex), seit 1. Januar 2008 neuer Krankenversicherer von H.________, lehnte mit Verfügung vom 13. Januar 2009 eine Kostenübernahme ab. Daran hielt sie nach ergänzenden Abklärungen gestützt auf die Beurteilung ihres Vertrauenskieferchirurgen fest (Einspracheentscheid vom 15. September 2009). 
 
B. 
Auf Beschwerde hin hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid vom 15. September 2009 auf und wies die Sache an die avanex zurück, damit diese über den Anspruch von H.________ auf Versicherungsleistungen neu im Sinne der Erwägungen verfüge (Entscheid vom 25. August 2010). 
 
C. 
Die avanex führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 25. August 2010 sei aufzuheben. 
H.________ lässt die Abweisung der Beschwerde beantragen. Das kantonale Versicherungsgericht und das Bundesamt für Gesundheit haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Der vorinstanzliche Entscheid weist die Sache zur Prüfung der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Behandlung vom 3. Januar bis 16. Juli 2008 (Anfertigung und Einsetzen einer Hybridprothese am Oberkiefer; Art. 32 Abs. 1 KVG) und zu neuer Verfügung über den Anspruch auf Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung an den Beschwerde führenden Krankenversicherer zurück. Dabei handelt es sich um einen selbständig eröffneten Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG, der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Abs. 1 lit. a dieser Bestimmung bewirken kann, soweit er im Grundsatz das Vorliegen einer zahnärztlichen Behandlung einer Erkrankung des Kausystems im Sinne von Art. 17 lit. c Ziff. 3 KLV bejaht (BGE 135 V 141 E. 1.1 S. 143, 133 V 477 E. 5.2.4 S. 484 f.). 
 
2. 
2.1 Nach Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten der zahnärztlichen Behandlung, u.a. wenn diese durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems bedingt ist. Voraussetzung ist, dass das Leiden Krankheitswert erreicht; die Behandlung ist nur so weit von der Versicherung zu übernehmen, wie es der Krankheitswert des Leidens notwendig macht (Art. 17 Ingress KLV in Verbindung mit Art. 33 lit. d KVV und Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG). Zu den in Art. 17 lit. a-f KLV abschliessend aufgezählten schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems (BGE 130 V 464 E. 2.2 S. 467) gehören u.a. Osteopathien der Kiefer (Art. 17 lit. c Ziff. 3 KLV). 
 
2.2 Eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems im Sinne von Art. 17 Ingress KLV setzt allgemein ein durch prophylaktische Massnahmen im Sinne und im Rahmen zumutbarer Mund- und Zahnhygiene (BGE 128 V 59 und 70) nicht zu verhinderndes pathologisches Geschehen voraus, welches zu erheblichen Schäden an Zähnen, Kieferknochen oder Weichteilen geführt hat oder nach klinischem und allenfalls radiologischem Befund mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde (BGE 127 V 328 E. 7a S. 335; SVR 2008 KV Nr. 3 S. 8, 9C_50/2007 E. 4.2). 
 
3. 
In tatsächlicher Hinsicht steht fest, dass bei der Beschwerdegegnerin eine Oberkieferatrophie vom Schweregrad Cawood VI bestand. Der ganze Alveolarfortsatz war somit bis auf die Kieferbasis abgebaut, sodass aus anatomisch-morphologischen Gründen kein Zahnersatz eingegliedert werden konnte (Atlas der Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Kausystem der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft SSO, 2008, S. 39 f.; vgl. SVR 2008 KV Nr. 3 S. 8, 9C_50/2007 E. 5.2.1). Es steht ausser Frage, dass eine Kieferatrophie vom Schweregrad Cawood VI eine schwere Erkrankung im Sinne von Art. 17 Ingress KLV und Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG darstellt (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 113/99 vom 21. November 2001 E. 3; Urteil 9C_584/2008 vom 3. November 2008 E. 3.3; SVR 2008 KV Nr. 3 S. 8, 9C_50/2007 E. 5.2.1). 
 
4. 
Nach Auffassung der Vorinstanz ist die Oberkieferatrophie vorliegend auch als nicht vermeidbar zu betrachten, selbst wenn der Verlust der Zähne durch zumutbare Mundhygiene hätte verhindert werden können. Gemäss dem Atlas-SSO S. 39 könne der Abbau des ganzen Alveolarfortsatzes bis auf die Kieferbasis nicht allein auf Zahnverlust zurückgeführt werden. Es müsse somit eine weitere Ursache hinzukommen, damit der Schweregrad Cawood VI erreicht werden könne. Dementsprechend sei denn auch zu Recht die vorgängige Wiederherstellung eines prothesefähigen Oberkiefers durch einen Sinuslift beidseits und Setzen von vier Implantaten durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernommen worden. Damit bestehe aber auch eine Leistungspflicht in Bezug auf die hier in Frage stehende Hybridprothese als Bestandteil der zu ergreifenden zahnärztlichen Massnahmen zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit. Es verhalte sich gleich wie im Falle einer Osteomyelitis der Kiefer (BGE 125 V 16) resp. wenn es um den Ersatz für künstliche Zähne gehe, die wegen normaler Abnützung ihre Funktionstauglichkeit verloren hätten und die vorangegangene zahnärztliche Versorgung einen Tatbestand nach Art. 31 Abs. 1 oder 2 KVG gebildet hatte (GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Band XIV, 2. Aufl. 2007, Rz. 456 S. 552). 
Der Krankenversicherer hält dagegen, die Atrophie des Oberkiefers mit einem Schweregrad Cawood VI wäre vermeidbar gewesen. Gemäss der Stellungnahme seines Vertrauenskieferchirurgen vom 27. Juni 2009 hätten die Zähne wegen eines schweren fortgeschrittenen parodontalen Knochenschwundes (Parodontose) entfernt werden müssen. Die Parodontose sei Folge einer Parodontitis (bakterielle Entzündung des Zahnhalteapparates), welche in jedem Fall auf eine ungenügende Mundhygiene zurückzuführen sei. Der entzündlich bedingte Knochenabbau im Rahmen einer Parodontose mit der Folge des Verlusts aller Zähne führe zu einer stärkeren Atrophie des Kiefers, was auch bei der Versicherten der Fall sein dürfte. Weiter könnten auch schlecht sitzende Prothesen durch ungünstige Belastung des tragenden Kieferknochens zusätzlich zu einer verstärkten Knochenatrophie führen. Im vorliegenden Fall sei der Zahnverlust die alleinige Ursache der Kieferatrophie gewesen. Hinweise auf eine allgemeine Knochenerkrankung (Osteopathie) fehlten, und eine wissenschaftliche Evidenz, dass eine solche zu einer Kieferatrophie führen würde, bestehe bis heute nicht. Ein "Cawood VI" könne nur in zahnlosem Zustand entstehen. Diesen Zustand habe vorliegend die Beschwerdegegnerin mit ihrer ungenügenden Mundhygiene selber zu verantworten, weshalb die nach Wiederherstellung eines prothesefähigen Kiefers erfolgte Anfertigung und Anpassung einer (Hybrid-)Prothese als Zahnersatz nicht zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gehen könne. Anders verhielte es sich, wenn eine bereits bestehende Prothese wegen des Knochenaufbaus hätte ersetzt werden müssen. Dies treffe jedoch nicht zu, da im Wissen um den Kieferaufbau (lediglich) eine provisorische Prothese angefertigt worden sei. Schliesslich sei BGE 125 V 16 nicht anwendbar. 
Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass sie eine "ungenügende Mundhygiene" betrieben habe, ein "vermeidbarer Zahnverlust" vorliege, welcher "in jedem Fall" die primäre Ursache der Kieferatrophie sei, und vor dem Knochenaufbau lediglich eine provisorische Prothese als Zahnersatz bestanden habe. Im Übrigen schliesst sie sich der vorinstanzlichen Argumentation an. 
 
5. 
5.1 Die vorinstanzliche Argumentation beruht im Wesentlichen darauf, dass gemäss Atlas-SSO S. 39 eine Atrophie (bis auf den Kieferkörper) vom Schweregrad Cawood VI nicht allein auf Zahnverlust zurückzuführen ist. Das kantonale Versicherungsgericht weist in diesem Zusammenhang auf die Schweizer Monatszeitschrift für Zahnmedizin (Vol 108: 9/1998, S. 872) hin, wo die Ursachen der Alveolarfortsatzresorption nach dem Zahnverlust als vielfältig und zu einem grossen Teil auch noch nicht völlig geklärt beschrieben würden. Das steht im Einklang mit der Aussage im Atlas-SSO, wonach ein Cawood VI nicht allein auf Zahnverlust zurückzuführen ist. Daraus ist zu folgern, dass der Kieferaufbau Pflichtleistung der Krankenversicherung ist, weil er nicht allein durch einen (allenfalls vermeidbaren) Zahnverlust verursacht worden sein kann. Hingegen erstreckt sich die Leistungspflicht der KV nur auf zahnärztliche Massnahmen, soweit diese direkt durch das Grundleiden bedingt sind. Zahnärztliche Massnahmen, die auch ohne das Grundleiden erforderlich gewesen wären, fallen nicht darunter. Wäre somit der Verlust der Zähne - überwiegend wahrscheinlich - vermeidbar gewesen, beispielsweise wenn er auf eine ungenügende Mundhygiene und eine daraus sich entwickelnde Parodontitis zurückzuführen ist, stellt ein Zahnersatz zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit keine zahnärztliche Behandlung (oder Bestandteil einer solchen) im Sinne von Art. 17 KLV dar. Dies gilt auch, wenn die Kosten der vorgängigen Behandlung zur Wiederherstellung eines prothesefähigen Kiefers von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen worden waren. Durch das Mitwirken anderer die Entstehung einer Kieferatrophie vom Schweregrad Cawood VI begünstigender Faktoren wird der Kausalzusammenhang zwischen der Ursache des Zahnverlusts und der Notwendigkeit eines Zahnersatzes nicht unterbrochen. Die Rechtsprechung gemäss BGE 125 V 16, wonach in den in Art. 17 KLV aufgeführten Fällen auch die Kosten der Wiederherstellung (Zahnprothesen) zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gehen, kommt nicht zum Zuge, da es insofern an der Voraussetzung einer nicht vermeidbaren Erkrankung in Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG und Art. 17 Ingress KLV fehlt (BGE 125 V 16 E. 3b in fine S. 20). 
 
5.2 Der Vertrauenskieferchirurg des Krankenversicherers hielt in seiner Beurteilung vom 27. Juni 2009 fest, aufgrund der Unterlagen (Angaben des früheren Zahnarztes und Röntgenbilder) hätten die Zähne wegen parodontosebedingter Lockerung, d.h. wegen des parodontosebedingten Knochenschwundes entfernt werden müssen. Die Parodontose sei Folge der über Jahrzehnte ungenügenden Zahnpflege gewesen. Es besteht kein Anlass, diese Schlussfolgerung in Frage zu stellen. Der frühere (bis Oktober 2004) Zahnarzt der Beschwerdegegnerin äusserte sich dahingehend, die Parodontose sei "in den ganzen 40 Jahren" nicht behandelt worden. Die Versicherte sei auch nicht zu einer Dentalhygienikerin gegangen (Telefonnotiz vom 9. Juni 2009). Es ist daher davon auszugehen, dass der (totale) Zahnausfall oben überwiegend wahrscheinlich vermeidbar gewesen wäre, weshalb eine Leistungspflicht des Krankenversicherers für die Versorgung mit einer Hybridprothese als Zahnersatz entfällt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Beschwerdegegnerin vor der Wiederherstellung eines prothesefähigen Oberkiefers (durch einen Sinuslift beidseits und Setzen von vier Implantaten) provisorische oder definitive Prothesen trug. Der anders lautende vorinstanzliche Entscheid verletzt Bundesrecht. 
 
6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat praxisgemäss keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG; BGE 118 V 158 E. 7 S. 170; Urteil K 152/06 vom 4. Juli 2007 E. 5). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 25. August 2010 aufgehoben 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 21. Dezember 2010 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Meyer Fessler