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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_758/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 26. November 2014  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, vertreten durch 
Rechtsanwalt Urs Hochstrasser, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,  
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 11. September 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.________ bezog ab 1. Februar 2005 eine halbe Rente der Invalidenversicherung. Als Ergebnis des im Dezember 2008 eingeleiteten Revisionsverfahrens hob die IV-Stelle des Kantons Aargau u.a. gestützt auf ein medizinisches Gutachten mit Verfügung vom 19. Juli 2013 die Rente auf. 
 
B.   
 
B.a. Unter Bezugnahme auf "Ihr Schreiben vom 19.07.2013 betreffend die Einstellung meiner Invalidenrente" gelangte A.________ am 12. August 2014 an die IV-Stelle und ersuchte um nochmalige Begutachtung und Überprüfung des Invaliditätsgrades. Mit Kurzbrief vom 14. August 2013 sandte die IV-Stelle das Schreiben vom 12. August 2013 an die Absenderin zurück. Sie wies darauf hin, beim "Schreiben vom 19. Juli 2013" handle es sich um die Verfügung, wogegen lediglich beim kantonalen Versicherungsgericht schriftlich Beschwerde erhoben werden könne.  
 
B.b. Am 7. Februar 2014 reichte die Beratungsstelle der Lungenliga im Namen und im Auftrag von A.________ das Schreiben vom 12. August 2013 beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau zur Weiterbehandlung als Beschwerde ein. Dieses trat mit Entscheid vom 11. September 2014 nicht darauf ein.  
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, die Sache sei zur Neubeurteilung an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen; eventualiter sei ihr bei der Rückweisung eine neue Frist einzuräumen zwecks ergänzender Begründung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Prozessthema ist, ob die Vorinstanz zu Recht nicht auf die Eingabe der Beschwerdeführerin vom 7. Februar 2014 gegen die rentenaufhebende Verfügung vom 19. Juli 2013 eingetreten ist (BGE 117 V 121 E. 1 S. 122; 116 V 265 E. 2a S. 266). 
 
 
2.   
Es steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 12. August 2013 der IV-Stelle ihr Nichteinverständnis mit der am 19. Juli 2013 verfügten Rentenaufhebung mitgeteilt und um nochmalige Begutachtung und Überprüfung des Invaliditätsgrades ersucht hatte. Damit galt die Beschwerdefrist nach Art. 60 Abs. 1 ATSG grundsätzlich als gewahrt (Art. 39 Abs. 2 ATSG [i.V.m. Art. 60 Abs. 2 ATSG] und Art. 21 Abs. 2 VwVG; BGE 120 V 413 E. 3b S. 416; 113 Ib 34 E. 3 S. 39 oben; 111 V 406 E. 2 S. 407; Urteil 9C_885/2009 vom 1. Februar 2010 E. 4.1). Die Beschwerdegegnerin, welche die Eingabe vom 12. August 2013 nicht als Wiedererwägungsgesuch im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG betrachtete, wäre daher verpflichtet gewesen, diese unverzüglich an das zuständige kantonale Versicherungsgericht weiterzuleiten bzw. zu überweisen (Art. 30 ATSG und Art. 58 Abs. 3 ATSG sowie Art. 8 Abs. 1 VwVG; BGE 120 V 413 E. 3a S. 415; 102 V 73 E. 1 S. 75; Urteil 2C_603/2008 vom 11. Februar 2009 E. 3.2; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 18/77 vom 5. Dezember 1977 E. 2, in: RSKV 1978 Nr. 316 S. 52). Davon durfte sie nicht etwa mit der Begründung absehen, das Schreiben vom 12. August 2013 stelle keine formgültige Beschwerde dar (Urteil I 251/87 vom 1. Juli 1988 E. 2c in fine mit Hinweis auf BGE 97 I 852, in: ZAK 1988 S. 617), wie die Vorinstanz anzunehmen scheint. Das zuständige Versicherungsgericht hat zu entscheiden, ob eine rechtzeitig, allenfalls bei der verfügenden IV-Stelle eingereichte, nicht notwendigerweise als solche bezeichnete Beschwerde den Formerfordernissen genügt, insbesondere ob ein Anfechtungswille gegeben ist (Urteil 9C_186/2008 vom 4. Juni 2008 E. 2.1; vgl. auch BGE 134 V 162 E. 2 S. 163). 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin überwies das Schreiben vom 12. August 2013 nicht an die Vorinstanz, sondern sandte es zwei Tage später an die Beschwerdeführerin zurück mit dem Hinweis, gegen die am 19. Juli 2013 verfügte Aufhebung der Invalidenrente könne lediglich beim kantonalen Versicherungsgericht schriftlich Beschwerde erhoben werden. Damit hat die IV-Stelle ihre Weiterleitungspflicht verletzt, was indessen - bei gegebenem Anfechtungswillen - nichts an der grundsätzlich fristwahrenden Wirkung der rechtzeitig bei ihr eingereichten Beschwerde ändert (Urteil 9C_186/2008 vom 4. Juni 2008 E. 2.1), wie die Beschwerdeführerin sinngemäss vorbringt. Dieser Fehler berechtigte sie - umgekehrt - jedoch nicht, beliebig lange mit der Erhebung der Beschwerde beim zuständigen kantonalen Versicherungsgericht zuzuwarten. Vielmehr war sie nach dem verfassungsmässigen Grundsatz von Treu und Glauben ( Art. 5 Abs. 3 BV), der auch für Private im Verkehr mit Behörden gilt (BGE 137 V 394 E. 7.1 S. 403; im Prozess im Besonderen: BGE 125 V 373 E. 2b/aa S. 375; Urteil 8C_738/2007 vom 26. März 2008 E. 6.2), gehalten, innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne zu handeln. Erst rund ein halbes Jahr später Anfang Februar 2014 reichte sie das Schreiben vom 12. August 2013 beim kantonalen Versicherungsgericht zur Behandlung als Beschwerde ein. Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Beschwerdeführerin nicht rechtskundig ist, kann der Vorinstanz weder Willkür in der Rechtsanwendung noch rechtsmissbräuchliches oder widersprüchliches Verhalten vorgeworfen werden (BGE 136 I 254 E. 5.2 S. 261) noch eine Bundesrechtsverletzung dadurch, dass sie auf die erst rund ein halbes Jahr später bei ihr eingereichte Beschwerde wegen Verspätung nicht eingetreten ist (vgl. auch Urteil 9C_186/2008 vom 4. Juni 2008 E. 2.3). 
 
4.   
Ausgangsgemäss ist die Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG); ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach sie der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist. Rechtsanwalt Urs Hochstrasser wird als unentgeltlicher Anwalt der Beschwerdeführerin bestellt. 
 
3.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.   
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Vorsorgestiftung Promena Holding AG, Zürich, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 26. November 2014 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler