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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_71/2022  
 
 
Urteil vom 17. August 2022  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Rechtsabteilung, Fluhmattstrasse 1, 6002 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Sebastian Lorentz, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Berufskrankheit; Versicherungsdeckung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. Dezember 2021 (UV 2020/86). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1963 geborene A.________ war seit dem 1. November 2019 bei der B.________ AG vollzeitlich als Fliesenleger angestellt und dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Mit Schadenmeldung UVG vom 22. Januar 2020 teilte die Arbeitgeberin der Suva mit, A.________ habe seit November 2019 immer wieder Probleme mit dem Knie, dieses sei angeschwollen. Die Unfallversicherung klärte den Sachverhalt in beruflicher und medizinischer Hinsicht ab. Laut Auskünften des Versicherten war er von 1990 bis 2010 in Kanada als Plattenleger erwerbstätig. Diesen Beruf habe er auch nach seiner Einreise in die Schweiz im Jahre 2010 ausgeübt. Dr. med. C.________, Facharzt für Arbeitsmedizin und Allgemeinmedizin, Suva, Abteilung Arbeitsmedizin, kam in seiner Beurteilung vom 22. April 2020 zum Schluss, der Versicherte verrichte als Bodenleger eine kniende Tätigkeit, die bekanntlich einen Risikofaktor für die Entstehung einer Gonarthrose darstelle. Aufgrund der hohen Prävalenz des Krankheitsbildes in der Allgemeinbevölkerung, die mit zunehmendem Alter ansteige, dem Nachweis von unterschiedlichen degenerativen Veränderungen an den Kniegelenken bei durchschnittlich gleicher Belastung und der kumulativen Kniegelenksbelastung von 11'000 Stunden (10-jährige versicherte berufliche Tätigkeit in der Schweiz) liege keine stark überwiegend beruflich verursachte Gonarthrose rechts vor. Mit Verfügung vom 24. April 2020 eröffnete die Suva A.________, die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 2 UVG (ausschliesslich oder stark überwiegend durch die berufliche Tätigkeit verursachte Krankheit) seien nicht gegeben, weshalb sie keine Versicherungsleistungen erbringen könne. Eine Einsprache wies sie mit Einspracheentscheid vom 10. November 2020 ab. 
 
B.  
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 21. Dezember 2021 den Einspracheentscheid vom 10. November 2020 auf und wies die Sache zur Festsetzung und Ausrichtung der gesetzlichen Leistungen im Sinne der Erwägungen an die Suva zurück. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Suva, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 10. November 2020 zu bestätigen. 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 139 V 42 E. 1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Gemäss Art. 90 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen. Rückweisungsentscheide, mit denen eine Sache - wie im vorliegenden Fall - zur neuen Entscheidung an die Verwaltung zurückgewiesen wird, sind grundsätzlich Zwischenentscheide, die nur unter den besonderen Voraussetzungen gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. 1 BGG angefochten werden können (BGE 138 I 143 E. 1.2; 133 V 477 E. 4.2 und 5.1). Das Bundesgericht hat jedoch, worauf die Beschwerdeführerin zutreffend hinweist, mehrfach entschieden, dass das Urteil, mit dem das kantonale Gericht den Rentenumfang, nicht aber den frankenmässigen Rentenbetrag festsetzt, als Endentscheid zu qualifizieren ist (Urteile 9C_672/2016 und 9C_685/2016 vom 2. Februar 2017 E. 2 mit Hinweis). Analog ist auch im vorliegenden Fall zu verfahren, nachdem das kantonale Gericht eine Berufskrankheit im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVG bejaht hat. Auf die Beschwerde ist daher einzutreten.  
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6; vgl. auch BGE 141 V 234 E. 1; 140 V 136 E. 1.1). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Vorliegend ist streitig, ob im Zeitpunkt des Ausbruchs der Berufskrankheit bzw. des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit Versicherungsdeckung bestanden hat. Dabei handelt es sich um eine als Vorfrage zu prüfende Voraussetzung des Leistungsanspruchs. Obwohl von der Beurteilung dieser Streitfrage letztlich auch Ansprüche auf Geldleistungen der obligatorischen Unfallversicherung abhängen, kommt die Ausnahmeregelung von Art. 105 Abs. 3 BGG hier somit nicht zur Anwendung (vgl. BGE 135 V 412 E. 1.2.2; Urteil 8C_790/2018 vom 8. Mai 2019 E. 2.2). Soweit die Beurteilung von Sachverhaltsfeststellungen abhängt, gilt daher die eingeschränkte Kognition (BGE 140 V 130 E. 2.1; 135 V 412).  
 
3.  
 
3.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie den Einspracheentscheid der Beschwerdeführerin vom 10. November 2020 aufgehoben und festgestellt hat, dass der Beschwerdegegner an einer leistungsauslösenden Berufskrankheit (Gonarthrose an den Knien) leide.  
 
3.2. Gemäss Art. 9 Abs. 1 UVG gelten Krankheiten (Art. 3 ATSG) als Berufskrankheiten, die bei der beruflichen Tätigkeit ausschliesslich oder vorwiegend durch schädigende Stoffe oder bestimmte Arbeiten verursacht worden sind. Der Bundesrat erstellt die Liste dieser Stoffe und Arbeiten sowie der arbeitsbedingten Erkrankungen. Nach Abs. 2 gelten als Berufskrankheiten auch andere Krankheiten, von denen nachgewiesen wird, dass sie ausschliesslich oder stark überwiegend durch berufliche Tätigkeit verursacht worden sind. Laut Abs. 3 sind Berufskrankheiten, soweit nichts anderes bestimmt ist, von ihrem Ausbruch an einem Berufsunfall gleichgestellt. Sie gelten als ausgebrochen, sobald der Betroffene erstmals ärztlicher Behandlung bedarf oder arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) ist.  
 
4.  
 
4.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, entsprechend dem Kausalitätsgedanken der Unfallversicherung sei für die Frage der Leistungspflicht die Versicherungsdeckung zur Zeit des Eintritts der Schadensursache bzw. des versicherten Ereignisses und nicht der Eintritt des Schadens massgebend. Das Bundesgericht habe vor diesem Hintergrund den Schluss gezogen, dass die für eine Leistungspflicht nach Art. 9 Abs. 3 UVG erforderliche Versicherungsdeckung vom Umstand abhänge, ob die von der Krankheit betroffene Person während der vorwiegenden Exposition und nicht bei Ausbruch der Krankheit versichert gewesen sei (mit Hinweis auf das Urteil 8C_383/2019 vom 5. September 2019 E. 4.1.2). Nach konstanter Rechtsprechung sei zur Bestimmung der Expositionsdauer die gesamte ausgeübte Berufstätigkeit zu berücksichtigen, mithin auch derjenige Teil, der nicht im Rahmen einer UVG-versicherten Tätigkeit erbracht worden sei (mit Hinweis auf BGE 119 V 200). Aus den Akten gehe hervor, dass der (nunmehrige) Beschwerdegegner seit 1990 ununterbrochen als Boden-/ Plattenleger erwerbstätig gewesen sei. In diesem bezogen auf die Entwicklung einer Gonarthrose risikobehafteten Beruf habe er die von Dr. med. C.________ (arbeitsmedizinische Beurteilung vom 22. April 2020) angegebene Mindestexpositionsdauer von 17'000 Stunden für die Annahme einer stark üerwiegend beruflich bedingten Krankheit bei weitem überschritten. Demnach liege eine Berufskrankheit im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVG vor, weshalb die (nunmehrige) Beschwerdeführerin für den dadurch bedingten Gesundheitsschaden aufzukommen habe.  
 
4.2. Die Beschwerdeführerin bringt vor, dass im Rahmen der Anerkennung einer Berufskrankheit im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVG die beruflichen Tätigkeiten und damit die Expositionszeiten in einem ausländischen Staat (hier: Kanada), mit dem kein staatsvertragliches Abkommen der Schweiz (wie beispielsweise mit den EU-Staaten) existiere, nicht berücksichtigt werden dürften. Der Umstand, dass die Expositionszeiten von 11'000 Stunden während der UVG-versicherten Tätigkeiten in der Schweiz für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Art. 9 Abs. 2 UVG nicht ausreichten, sei unbestritten. Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts ergebe sich aus BGE 119 V 200 nicht, dass in jedem Fall Expositionszeiten anzurechnen seien, während welcher die versicherte Person nicht obligatorisch unfallversichert gewesen sei. Vielmehr habe das ehemalige Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG; heute: sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts) einzig in intertemporalrechtlicher Hinsicht (Inkrafttreten des UVG am 1. Januar 1984) entschieden, nachdem in zeitlicher Hinsicht keine gesetzliche Beschränkung bestehe, sei unter beruflicher Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVG die gesamte, also auch die vor dem 1. Januar 1984 ausgeübte Berufstätigkeit zu verstehen. So verhalte es sich hier offensichtlich nicht. Weiter könne auch aus den vorinstanzlich zitierten Urteilen des EVG und des Bundesgerichts nichts für die Auffassung der Vorinstanz gewonnen werden, es seien Expositionszeiten zu berücksichtigen, während welchen die betroffene Person nicht obligatorisch unfallversichert gewesen sei. Namentlich in BGE 126 V 186 E. 2b habe das Bundesgericht bekräftigt, dass für die Beurteilung der Exposition (oder Arbeitsdauer) die gesamte, gegebenenfalls auch die schon vor dem 1. Januar 1984 ausgeübte Berufstätigkeit zu berücksichtigen sei. Sodann gehe auch aus dem Urteil U 20/04 vom 17. Januar 2005 E. 3.3 klar hervor, dass die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers bei Berufskrankheiten vom Umstand abhänge, ob die betroffene Person während der Einwirkung des gefährlichen Stoffes oder der Verrichtung der krankmachenden Arbeit versichert gewesen sei.  
 
4.3. Den Vorbringen der Beschwerdeführerin ist ohne Weiteres beizupflichten. Es entspricht entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts keineswegs der Rechtsprechung, bei der Beurteilung der Expositionsdauer auch Zeiten zu berücksichtigen, während welchen die betroffene Person nicht obligatorisch unfallversichert gewesen war. Vielmehr hat das Bundesgericht im vorinstanzlich zitierten Urteil 8C_383/2019 vom 5. September 2019 E. 4.1.2 mit Hinweisen erneut klargestellt, dass bei Berufskrankheiten die Einwirkung des gefährlichen Stoffs oder die Verrichtung der krankmachenden Arbeit, kurzum die Exposition (Gefährdung), nicht weniger wichtig ist als der Ausbruch der Krankheit. Die Leistungspflicht hängt somit vom Umstand ab, ob die von der Krankheit betroffene Person während der vorwiegenden Exposition versichert gewesen war. Die Versicherungsdeckung wirkt somit bei der erkrankten Person über das Ende des Versichertseins hinaus, wenn die Krankheit erst später ausbricht, sie entfaltet insoweit eine Nach-, jedoch keine Vorwirkung. Die Argumentation des kantonalen Gerichts, es seien sämtliche, auch nicht versicherte Tätigkeiten zu berücksichtigen, liefe mithin darauf hinaus, dass der im Jahre 2010 in die Schweiz eingereiste Beschwerdegegner auch vor der Versicherungsdeckung Leistungen beanspruchen könnte. Solches geht aus der Rechtsprechung nicht hervor, auch nicht aus BGE 119 V 200. Die Beschwerde ist gutzuheissen.  
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. Dezember 2021 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Beschwerdeführerin vom 10. November 2020 bestätigt. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung III, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 17. August 2022 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Grunder