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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
8C_353/2018  
 
 
Urteil vom 26. Juli 2018  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Wirthlin, 
Gerichtsschreiberin Elmiger-Necipoglu. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Marcel Strehler, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 28. März 2018 (VV.2017.308/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________, verheiratet und Mutter von vier inzwischen erwachsenen Kindern, arbeitete, teils als Hausfrau, teils als Landwirtin auf dem landwirtschaftlichen Betrieb ihres Ehemannes. Am 30. Januar 2001 erlitt A.________ ein Schädelhirntrauma und meldete sich infolgedessen am 6. Juni 2002 bei der IV-Stelle des Kantons Thurgau zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 31. Oktober 2003 sprach ihr die IV-Stelle ab dem 1. März 2002 eine ordentliche halbe Invalidenrente sowie eine ordentliche Kinderrente zu. Im Verfügungstext wurde als massgebendes durchschnittliches Jahreseinkommen der Betrag von Fr. 35'448.- aufgeführt. Die Verfügung erwuchs unangefochten in Rechtskraft.  
Als sich der Ehemann von A.________ für eine Altersrente anmeldete, stellte die IV-Stelle fest, dass bei der Berechnung der Invalidenrente von A.________ eine falsche Versichertennummer herangezogen und deshalb auch nicht das korrekte massgebende durchschnittliche Jahreseinkommen von Fr. 21'150.-, sondern ein solches von Fr. 35'448.- berücksichtigt worden war. Mit Verfügung vom 24. März 2017 wurde der Versicherten mitgeteilt, dass die Nachzahlung der neu berechneten Rente von Fr. 39'696.- direkt mit der Rückforderung von Fr. 51'585.- verrechnet werde, so dass eine Rückforderung von Fr. 11'889.- bestehe. 
 
A.b. Am 2. Juni 2017 ersuchte die Versicherte um Erlass der zwischenzeitlich rechtskräftigen Rückerstattungsforderung Das Gesuch wurde mit Verfügung vom 27. September 2017 wegen fehlenden guten Glaubens abgewiesen.  
 
B.   
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 28. März 2018 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheit beantragt A.________, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die verfügte Rückforderung von Fr. 11'898.- für bezogene IV-Leistungen sei zu erlassen; eventualiter sei das Verfahren zur Prüfung der Voraussetzung der grossen Härte an die Vorinstanz bzw. an die Verwaltung zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung, erstere unter Hinweis auf ihre Verfügung und den angefochtenen Gerichtsentscheid. Das kantonale Gericht verweist ebenfalls auf den angefochtenen Entscheid. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG).  
 
2.   
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, als sie den Erlass der mit rechtskräftiger Verfügung vom 24. März 2017 geforderten Rückerstattung von Fr. 11'889.- verweigerte. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin den von der Verwaltung verursachten Fehler in den Rentenberechnungsgrundlagen bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen müssen. 
 
3.  
 
3.1. Gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG muss, wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt. Wie das kantonale Gericht zutreffend darlegte, ist der gute Glaube als Erlassvoraussetzung nicht schon mit der Unkenntnis des Rechtsmangels gegeben. Der Leistungsempfänger darf sich vielmehr nicht nur keiner böswilligen Absicht, sondern auch keiner groben Nachlässigkeit schuldig gemacht haben. Der gute Glaube entfällt somit einerseits von vornherein, wenn die zu Unrecht erfolgte Leistungsausrichtung auf eine arglistige oder grobfahrlässige Melde- oder Auskunftspflichtverletzung zurückzuführen ist. Andererseits kann sich die rückerstattungspflichtige Person auf den guten Glauben berufen, wenn ihr fehlerhaftes Verhalten nur leicht fahrlässig war (BGE 138 V 218 E. 4 S. 220 mit Hinweisen). Wie in anderen Bereichen beurteilt sich das Mass der erforderlichen Sorgfalt nach einem objektiven Massstab, wobei aber das den Betroffenen in ihrer Subjektivität Mögliche und Zumutbare (Urteilsfähigkeit, Gesundheitszustand, Bildungsgrad usw.) nicht ausgeblendet werden darf (BGE 138 V 218 E. 4 S. 220 f., Urteile 8C_79/2017 vom 30. Juni 2017 E. 4.1, 9C_14/2007 vom 2. Mai 2007 E. 4.1 mit Hinweis, in: SVR 2008 AHV Nr. 13 S. 41). Gemäss Rechtsprechung ist bei der Frage nach der Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug hinsichtlich der Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts zu unterscheiden zwischen dem guten Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter den gegebenen Umständen auf den guten Glauben berufen kann oder ob er bei zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen. Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum inneren Tatbestand und wird daher als Tatfrage nach Massgabe von Art. 105 Abs. 1 BGG von der Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich beurteilt. Demgegenüber gilt die Frage nach der gebotenen Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht, festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (BGE 122 V 221 E. 3 S. 223 mit Hinweisen, Urteile 9C_847/2017 vom 31. Mai 2018 E. 2.2, 8C_243/2016 vom 7. Juli 2016 E. 4.2, 8C_670/2014 vom 30. Dezember 2014 E. 3.3).  
 
3.2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bzw. des ehemaligen Eidgenössischen Versicherungsgerichts (EVG) konnte sich auf den guten Glauben berufen: Wer eine (betragsmässig geringe) Rente bei der Anmeldung zum Bezug von Ergänzungsleistungen korrekt angibt, die Behörde jedoch den Einbezug dieser Rente unterlässt und in der Folge eine zu hohe Ergänzungsleistung ausrichtet (SVR 1996 AHV Nr. 102); wer als Ergänzungsleistungsbezüger in der Berechnung einen nach den Umständen nicht offensichtlichen Fehler (konkret die Anrechnung der Hilflosenentschädigung bei einem Heimbewohner) nicht erkennt (Urteil P 42/92 vom 3. März 1993); wer als Witwe Hinterlassenenrenten bezieht, welche auf Beitragszeiten festgesetzt wurden, die der verstorbene Ehemann nicht zurückgelegt haben konnte (Urteil H 78/89 vom 30. Oktober 1989). Abgesprochen wurde der gute Glaube indessen einer versicherten Person, welche eine Neurberechnung ihres durchschnittlichen Jahreseinkommens als Grundlage für die IV-Rentenberechnung veranlasst, ohne zu erkennen, dass das nunmehr für massgeblich erachtete Jahreseinkommen beinahe dreimal so hoch ist, wie das ihr zuvor angerechnete (Urteil 8C_225/2013 vom 5. September 2013; zur weiteren Kasuistik vgl. ULRICH MEYER-BLASER, ZBJV 131/1995 S. 482 ff.; UELI KIESER, Kommentar zum ATSG, 3. Aufl., Zürich 2015, N. 47 zu Art. 25; JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung (MVG), Bern 2000, N. 22 zu Art. 15).  
 
4.  
 
4.1. Vorinstanz und Beschwerdegegnerin vertreten die Ansicht, dass die Beschwerdeführerin bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt ohne weiteres hätte erkennen müssen, dass das in der Rentenverfügung vom 31. Oktober 2003 angegebene durchschnittliche Jahreseinkommen nicht mit dem Einkommen übereinstimmte, welches sie in den Jahren 1973 bis 1979 erzielt hatte, welches zwischen Fr. 1'800.- und Fr. 15'150.- lag.  
 
4.2. Die Beschwerdeführerin bestreitet die Verletzung ihrer Aufmerksamkeitspflicht. Jedenfalls könne ihr keine Grobfahrlässigkeit vorgeworfen werden, die den guten Glauben zerstören würde. Es gehe vorliegend nicht darum, ob sie überhaupt Anspruch auf die Ausrichtung von Rentenleistungen habe, sondern lediglich um eine Differenz von rund Fr. 200.- in der Rentenhöhe.  
 
4.3. Wie das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat, geht aus der Verfügung vom 31. Oktober 2003 mit hinreichender Klarheit hervor, dass der Rentenberechnung ein massgebendes durchschnittliches Jahreseinkommen von Fr. 35'448.- zu Grunde liegt. Ob von der Versicherten, wie von Vorinstanz und Verwaltung erwogen, tatsächlich erwartet werden konnte, bei Erhalt der Verfügung vom 31. Oktober 2003 überhaupt zu prüfen, auf welchem durchschnittlichen Jahreseinkommen die zugesprochene Rente beruht, erscheint zweifelhaft, braucht indessen nicht näher geprüft zu werden. Jedenfalls kann, entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen, aus den in der Vergangenheit erzielten tatsächlichen Einkommen nicht ohne weiteres auf das durchschnittliche massgebende Jahreseinkommen im Sinne von Art. 29quater AHVG geschlossen werden. Dieses setzt sich zusammen aus dem Durchschnitt der aufgewerteten Summe der Erwerbseinkommen (Art. 29quater i.V.m. Art 30 AHVG), zuzüglich den durchschnittlich erworbenen Erziehungs- und Betreuungsgutschriften (Art. 29quater lit. b und c AHVG). Im Weiteren hängt das durchschnittliche Jahreseinkommen von einer Vielzahl variabler Parameter ab (Beitragsdauer, Rentenskala, Einfluss der Heirat/Scheidung, Eintritt eines Risikofalls beim Ehepartner, Karrierezuschlag). Vorliegend hat die Beschwerdeführerin ein sehr geringes durchschnittliches Erwerbseinkommen vorzuweisen, nämlich Fr. 2'088.- (Fr. 54'279.-./. 26 [Beitragsjahre]). Zu diesem Betrag werden sodann die durchschnittlichen Erziehungsgutschriften in der Höhe von Fr. 15'688.- addiert (Fr. 407'880.-./. 26; Art. 29sexies AHVG), was für das Jahr 2002 ein massgebendes durchschnittliches Jahreseinkommen von Fr. 18'540.- ergibt. Wie die Zusammensetzung der oben aufgeführten Beträge zeigt, wird das massgebende durchschnittliche Jahreseinkommen zu beinahe 90% von den Erziehungsgutschriften bestimmt. Entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen konnte daher die Versicherte aus der Kenntnis ihres relativ tiefen tatsächlichen Einkommens in den 1970er Jahren nicht ohne weiteres ableiten, dass das von der Verwaltung festgestellte massgebende Jahreseinkommen von Fr. 35'448.- zu hoch war. Im Übrigen ist zu erwähnen, dass vorliegend das durchschnittliche Erwerbseinkommen für die  gesamte Beitragsdauer zu berücksichtigen ist (Art. 30 Abs. 2 AHVG), nicht nur für die Jahre 1973 bis 1979, wie dies von der IV-Stelle und der Vorinstanz erwogen wurde. Unter den dargelegten Umständen sowie unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen und des beruflichen Werdegangs der Beschwerdeführerin, konnte von ihr nicht erwartet werden, dass sie - selbst unter Aufwendung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit - den Fehler der Verwaltung in der Rentenverfügung vom 31. Oktober 2003 hätte erkennen müssen. Ebenso wenig hätte sie bei der gegebenen Sachlage Zweifel an der Richtigkeit haben und sich deswegen bei der Verwaltung weiter erkundigen müssen. Sie durfte vielmehr auf die Richtigkeit der von der Verwaltung vorgenommenen Berechnung vertrauen, unabhängig davon, ob das Berechnungsblatt aus ACOR (dem automatisierten Rentenberechnungsprogramm der Ausgleichskassen) zusammen mit der Rentenverfügung zugestellt worden war. Eine grobfahrlässige Pflichtverletzung kann ihr nicht vorgeworfen werden. Die Vorinstanz hat mithin Bundesrecht verletzt, als sie den guten Glauben der Beschwerdeführerin verneinte.  
 
5.   
Ist demnach der gute Glaube beim Bezug der unrechtmässig ausbezahlten Invalidenrentenleistungen zu bejahen, bleibt die bisher weder von der Verwaltung noch von der Vorinstanz beantwortete Frage zu prüfen, ob die verfügte Rückerstattung für die Beschwerdeführerin eine grosse Härte bedeuten würde. Zu diesem Zweck ist die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
 
6.   
Die obsiegende Beschwerdeführerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 BGG) zulasten der Beschwerdegegnerin, welche überdies die Gerichtskosten zu tragen hat (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 28. März 2018 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 27. September 2017 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Thurgau zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 1100.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 26. Juli 2018 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Elmiger-Necipoglu