105 IV 322
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Urteilskopf
105 IV 322
82. Urteil des Kassationshofes vom 16. November 1979 i.S. V. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Art. 169 StGB.
Die Verfügung über die in einem Retentionsverfahren amtlich aufgezeichneten Sachen erfüllt den Tatbestand von Art. 169 StGB auch dann, wenn die Behörde es unterlassen hat, dem Schuldner innert der Ordnungsfrist von drei Tagen seit Vornahme der Retention eine Abschrift der Retentionsurkunde zuzustellen.
A.- Das Betreibungsamt Würenlingen retinierte am 22. August 1977 in den Mieträumen der Firma V. AG verschiedene Gegenstände. Die Retention erfolgte auf Begehren der Kunststeinfabrik S. AG für den laufenden Mietzins vom 1. Oktober 1977 bis zum 28. Februar 1978. Die Retentionsurkunde wurde am 9. September 1977 erstellt und an V. versandt. Dieser hatte schon Ende August oder spätestens anfangs September 1977 die Gegenstände weggeschafft.
B.- Die I. Abteilung des Bezirksgerichts Baden sprach V. am 20. September 1978 der Verfügung über amtlich aufgezeichnete Sachen im Sinne von Art. 169 StGB schuldig und bestrafte ihn mit 2 Monaten Gefängnis unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs bei einer Probezeit von 2 Jahren.
Die von V. gegen diesen Entscheid eingereichte Berufung wies die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Aargau am 7. Juni 1979 ab.
C.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt V., das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zum Freispruch an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Gemäss Art. 169 StGB wird mit Gefängnis bestraft, wer über eine Sache, die in einem Retentionsverfahren amtlich aufgezeichnet
BGE 105 IV 322 S. 323
ist, eigenmächtig zum Nachteil der Gläubiger verfügt. Wird die Handlung im Geschäftsbetriebe einer juristischen Person begangen, ist deren Organ, das diese Handlung vorgenommen hat, strafrechtlich verantwortlich (vgl. Art. 172 StGB).Gegen seine Verurteilung macht der Beschwerdeführer zunächst sinngemäss geltend, zur Zeit, als er über die Sachen verfügte, habe keine gültige Retentionsurkunde mehr vorgelegen. Als ihm am 12. September 1977 eine Abschrift der Retentionsurkunde zugestellt worden sei, sei die 3tägige Frist des Art. 113 SchKG schon siebenmal überschritten gewesen. Bei Aufnahme der Retention werde dem Schuldner nichts Schriftliches abgegeben, so dass er, wenn die Retentionsurkunde lange auf sich warten lasse, unter Umständen gar nicht mehr genau wisse, welche Sachen retiniert worden seien. Aus Gründen der Rechtssicherheit sei daher davon auszugehen, dass die Wirkungen des Retentionsbeschlages und der Aufnahme des Retentionsverzeichnisses nach 3 Tagen dahinfielen, wenn dem Schuldner die Retentionsurkunde nicht in dieser Zeit zugestellt werde, und dass sie erst mit der Zustellung der Retentionsurkunde bezüglich der dann noch in den Mieträumen vorhandenen Gegenstände wieder aufleben. Das gelte besonders dann, wenn die Frist zur Zustellung der Retentionsurkunde so massiv wie hier überschritten werde.
2. a) Art. 169 StGB setzt einen gültigen Retentionsbeschlag voraus. Hierüber bestimmt Art. 283 SchKG nichts Näheres, so dass die über die Pfändung geltenden Regeln sinngemäss herangezogen werden müssen (JAEGER, Kommentar, Art. 283, N. 1 und 6, S. 342 und 346; FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 2. Auflage, 1968, S. 253, Ziff. 2; vgl. auch BGE 97 III 46 E. 4, BGE 93 III 22 E. 4).
Die Pfändung beweglicher Sachen erfolgt in der Regel dadurch, dass der Pfändungsbeamte an Ort und Stelle dem Schuldner oder seinem Vertreter mündlich erklärt, welche Sachen gepfändet sind. Damit ist die Pfändung vollzogen (A. FAVRE, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, S. 157; BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechts, S. 336). Von diesem Augenblick an ist die eigenmächtige Verfügung des Schuldners über die Sachen im Sinne von Art. 96 SchKG rechtlich unwirksam, verboten und strafbar. Das Pfändungsprotokoll (Betreibungsformular Nr. 6), die
BGE 105 IV 322 S. 324
Pfändungsurkunde und deren Abschriften an Gläubiger und Schuldner (Betreibungsformular Nr. 7 usw.) sind lediglich Beweisurkunden für die schon vollzogene und wirksame Pfändung, was schon aus dem Gesetzestext hervorgeht (Art. 112 Abs. 1: "Über jede Pfändung wird eine ... Urkunde aufgenommen ..."; Art. 113: "Dem Gläubiger und dem Schuldner ist binnen drei Tagen nach der Pfändung eine Abschrift der Pfändungsurkunde zuzustellen."; BGE 50 III 48; FRITZSCHE, a.a.O., Bd. 1, S. 190; BLUMENSTEIN, a.a.O., S. 351 f.; R. JOOS, Handbuch für die Betreibungsbeamten der Schweiz, S. 165). Art. 113 SchKG enthält lediglich eine Ordnungsfrist; auch wenn diese nicht eingehalten wird, bleibt die Pfändung gültig und eine Verfügung über die gepfändeten Sachen strafbar (vgl. BGE 89 IV 81 E. 4g).Diese Regelung gilt sinngemäss auch bei der Retention. Weil diese wie die Pfändung oft eine grössere Anzahl von Informationen, Feststellungen und Entscheidungen erfordert, ist es praktisch oft gar nicht möglich, innert drei Tagen eine vollständige und einwandfreie Retentionsurkunde zu erstellen und dem Mieter zu übergeben. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers fällt daher der Retentionsbeschlag nicht dahin, wenn dem Schuldner nicht gemäss dem auch im Retentionsverfahren geltenden Art. 113 SchKG innert der Ordnungsfrist von drei Tagen eine Abschrift der Retentionsurkunde zugestellt wird. Vielmehr erlischt der Retentionsbeschlag erst, wenn es der Vermieter unterlässt, für die laufende Mietzinsforderung innerhalb von 10 Tagen nach ihrer Fälligkeit Betreibung auf Pfandverwertung anzuheben (vgl. Formular Nr. 40).
b) Art. 169 StGB setzt des weiteren voraus, dass die Sache, über welche der Schuldner eigenmächtig zum Nachteil der Gläubiger verfügt, "in einem ... Retentionsverfahren amtlich aufgezeichnet ist" ("objet ... porté à un inventaire constatant un droit de rétention"; "oggetti ... compresi in un inventario della procedura ... di ritenzione"). Die Form dieses Inventars ist, anders als das Pfändungsprotokoll (Formular Nr. 6), das bei der Betreibung auf Pfändung aufgenommen wird, nirgends näher umschrieben; ein besonderes Formular ist hier nicht vorgesehen, so dass eine formlosere Aufzeichnung der retinierten Gegenstände genügen muss. Ein solches Verzeichnis der Retentionsgegenstände hat der Betreibungsbeamte am 22. August 1977 nach Feststellung der Vorinstanz erstellt; damit waren die
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Gegenstände im Sinne von Art. 169 StGB amtlich aufgezeichnet.c) Bei der Betreibung auf Pfändung wird der Schuldner schon in der Pfändungsankündigung auf die Straffolgen gemäss Art. 96 SchKG und Art. 169 StGB aufmerksam gemacht (Formular Nr. 5). Beim Pfändungsvollzug wird diese Belehrung wiederholt (Art. 96 Abs. 1 SchKG; Formular Nr. 6). Ob ein solcher Hinweis Voraussetzung einer Verurteilung wegen Verfügung über die in einem Retentionsverfahren amtlich aufgezeichneten Sachen sei, kann offen bleiben, da nach den verbindlichen Feststellungen des Obergerichts der Beschwerdeführer vom Betreibungsbeamten anlässlich des Retentionsbeschlags am 22. August 1977 ausdrücklich auf die Straffolgen der unberechtigten Verfügung über die retinierten Gegenstände aufmerksam gemacht wurde.
3. Der Beschwerdeführer bestreitet auch den subjektiven Tatbestand. Er beschränkt sich aber darauf, die Beweiswürdigung und die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz zu kritisieren. Damit kann er gemäss Art. 273 Abs. 1 lit. b und Art. 277bis Abs. 1 BStP im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde nicht gehört werden. Die angebliche Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo", der kein Satz des Bundesrechts ist (BGE 100 IV 269 E. 1, BGE 96 I 444), beschlägt die Beweiswürdigung und wäre mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen gewesen.
Solange der Schuldner noch keine Abschrift der Retentionsurkunde besitzt, ist ein Irrtum über die retinierten Gegenstände leichter denkbar als nachher. V. hat indessen in seinem konkreten Fall einen solchen Irrtum nie behauptet. Soweit der Beschwerdeführer unter Berufung auf die angeblich falsche Auskunft des Betreibungsbeamten Rechtsirrtum geltend macht, stellt er sich in unzulässiger Weise in Widerspruch zu den verbindlichen Feststellungen des Obergerichts, wonach der Betreibungsbeamte den Beschwerdeführer gestützt auf das Formular Nr. 40 über den weiteren Gang des Verfahrens richtig informiert hat.
Geht man von den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz aus, so hat der Beschwerdeführer vorsätzlich zum Nachteil der Vermieterin über die retinierten Gegenstände verfügt, um, wie er vor Gericht sagte, seine Löhne bezahlen zu können.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
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