122 V 362
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Urteilskopf
122 V 362
54. Auszug aus dem Urteil vom 19. August 1996 i.S. C. gegen Öffentliche Arbeitslosenkasse Basel-Stadt und Kantonale Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung des Kantons Basel-Stadt
Regeste
Art. 23 Abs. 1 AVIG: Versicherter Verdienst.
Der versicherte Verdienst umfasst Gratifikationen ohne Rücksicht auf ihre Klagbarkeit, weshalb sich Rz. 140 des Kreisschreibens des BIGA über die Arbeitslosenentschädigung (KS-ALE; in der ab 1. Januar 1992 gültigen Fassung) insofern als rechtswidrig erweist.
Aus den Erwägungen:
2. Streitig ist im vorliegenden Fall nur mehr die Höhe des versicherten Verdienstes. Im einzelnen geht es darum, ob das der Beschwerdeführerin regelmässig ausgerichtete "14. Monatsgehalt" im Rahmen von Art. 23 Abs. 1 AVIG berücksichtigt werden muss. Das kantonale Gericht hat die fraglichen Leistungen in Einklang mit der Umschreibung im Arbeitsvertrag und der Bezeichnung in der Arbeitgeberbescheinigung vom 15. Juni 1995 (Ziff. 21) als Gratifikation aufgefasst (vgl. Art. 322d OR). Von dieser Qualifikation ist
BGE 122 V 362 S. 363
auch im folgenden auszugehen, wobei vorerst ausdrücklich dahingestellt bleibt, ob aus arbeitsvertraglicher Sicht nicht sogar ein eigentlicher Lohnbestandteil vorliegen könnte (vgl. BGE 109 II 448 Erw. 5c).
3. a) Gemäss Art. 23 Abs. 1 AVIG in der hier anwendbaren Fassung vom 25. Juni 1982 gilt als versicherter Verdienst der für die Beitragsbemessung massgebende Lohn, der während eines Bemessungszeitraumes normalerweise erzielt wurde, einschliesslich der vertraglich vereinbarten regelmässigen Zulagen, soweit sie nicht Entschädigung für arbeitsbedingte Inkonvenienzen sind (Satz 1). Nach Art. 3 Abs. 1 AVIG sind die Beiträge an die Versicherung vom massgebenden Lohn im Sinne der AHV-Gesetzgebung zu entrichten. Zu diesem gehören laut Art. 7 lit. c AHVV u.a. auch Gratifikationen. Dabei ist für die Beitragspflicht nicht von Belang, ob auf solche Leistungen ein Rechtsanspruch besteht oder ob sie der Arbeitgeber freiwillig gewährt (EVGE 1960 S. 296 f. mit Hinweisen; Rz. 2006 der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung über den massgebenden Lohn [WML] in der AHV, IV und EO, gültig ab 1. Januar 1994; vgl. ferner KÄSER, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, Rz. 4.86 S. 128).
b) Das kantonale Gericht hat den Einbezug der Gratifikation in den versicherten Verdienst mit der Begründung verworfen, es habe kein Rechtsanspruch auf sie bestanden. Damit ist es der Verwaltungspraxis gefolgt, wonach zum versicherten Verdienst nebst dem Grundlohn die vertraglich vereinbarten regelmässigen Zulagen, wie beispielsweise der 13. Monatslohn, Treueprämien, Orts- und Teuerungszulagen gehören sowie die Gratifikationen, soweit ein Rechtsanspruch darauf besteht (Rz. 140 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit über die Arbeitslosenentschädigung [KS-ALE], gültig ab 1. Januar 1992).
Ob sich diese Auffassung halten lässt, ist in mehrfacher Hinsicht zu prüfen. Zunächst ist der Frage nachzugehen, ob das vom Kreisschreiben verwendete Kriterium des Rechtsanspruchs überhaupt Rechtens ist. Je nachdem wäre sodann zu untersuchen, ob im Falle der Beschwerdeführerin ein solcher Anspruch - entgegen Verwaltung und Vorinstanz - aufgrund der Gegebenheiten nicht doch begründet wurde oder ob sogar von einem eigentlichen Lohnbestandteil auszugehen wäre (vgl. Erw. 2 hievor).
c) Verwaltungsweisungen der Art des vorerwähnten Kreisschreibens sind für den Sozialversicherungsrichter nicht verbindlich. Er soll sie bei seiner Entscheidung mitberücksichtigen, sofern sie eine
BGE 122 V 362 S. 364
dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Er weicht anderseits insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 120 V 86 Erw. 4b, BGE 119 V 259 Erw. 3a mit Hinweisen).
4. a) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zugrunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 120 V 102 mit Hinweisen).
b) Bei der hier anwendbaren Fassung von Art. 23 Abs. 1 AVIG fällt zunächst auf, dass als Grundlage für die Festsetzung des versicherten Verdienstes nebst dem "für die Beitragsbemessung massgebenden Lohn" auch die "vertraglich vereinbarten regelmässigen Zulagen" genannt werden. Dies mag auf den ersten Blick erstaunen, da diese Zulagen im Begriff des massgebenden Lohnes nach Art. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 AHVG und Art. 7 AHVV bereits mitenthalten sind, so dass sie im Gesetz gar nicht mehr besonders zu erwähnen gewesen wären (GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, N. 12 zu Art. 23 AVIG). Die Bedeutung dieser Hervorhebung lässt sich denn auch allein im Zusammenhang mit dem nachfolgenden Nebensatz ("soweit sie nicht Entschädigung für arbeitsbedingte Inkonvenienzen sind") verstehen. Denn damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es gerade bei den fraglichen Zulagen solche gibt, die - obwohl massgebenden Lohn darstellend - bei der Bemessung des versicherten Verdienstes ausser acht zu lassen sind, weil der eigentliche Grund ihrer Ausrichtung mit der Arbeitslosigkeit entfallen ist (vgl. BGE 115 V 331 Erw. 5b; GERHARDS, a.a.O., N. 13 zu Art. 23 AVIG).
Dass die hier in Frage stehenden Zahlungen, die der Beschwerdeführerin unter dem Titel der Gratifikation ausgerichtet wurden, den Zweck einer Inkonvenienzentschädigung gehabt hätten (vgl. BGE 115 V 331 Erw. 5b), ist weder behauptet noch zu ersehen, weshalb
BGE 122 V 362 S. 365
sich weitere Ausführungen in diesem Zusammenhang erübrigen. Ebenso mag dahingestellt bleiben, ob Gratifikationen im Sinne von Art. 322d OR als Zulagen gemäss Art. 23 Abs. 1 AVIG gelten, was aufgrund der Erfordernisse der vertraglichen Vereinbarung und der Regelmässigkeit ohnehin nur dann in Frage käme, wenn eine entsprechende Verpflichtung des Arbeitgebers bestünde. Hierauf ist indes darum nicht weiter einzugehen, weil die Bemessung des versicherten Verdienstes - analog zur Beitragsbemessung (Art. 3 AVIG) - am massgebenden Lohn im Sinne der AHV-Gesetzgebung anknüpft, womit die Gratifikationen bereits über dieses Kriterium erfasst werden. Und dies ist - wie bereits ausgeführt (Erw. 3a) - gemäss Rechtsprechung und Verwaltungspraxis zu Art. 5 Abs. 2 AHVG und Art. 7 lit. c AHVV selbst dann der Fall, wenn sie vom Arbeitgeber ohne jede rechtliche Verpflichtung erbracht wurden.c) Somit besteht aufgrund des klaren Wortlautes von Art. 23 Abs. 1 AVIG kein Zweifel, dass die Gratifikationen ohne Rücksicht auf ihre Klagbarkeit über das allgemeine Kriterium des massgebenden Lohnes zum versicherten Verdienst zu zählen sind. Darin unterscheidet sich Art. 23 Abs. 1 AVIG in der hier anwendbaren Fassung genauso wie in derjenigen vom 23. Juni 1995 vom früheren Recht, welches im übrigen die Gratifikationsthematik ausdrücklich geregelt hatte. Während Arbeitgeberleistungen dieser Art unter der bis zum 31. Dezember 1983 gültig gewesenen Übergangsordnung (AlVB vom 8. Oktober 1976) in der Tat vom versicherten Verdienst auszunehmen waren, soweit kein Rechtsanspruch darauf bestand (vgl. Art. 33 Abs. 1 AlVV vom 14. März 1977), hatten sie nach dem zuvor bis Ende März 1977 in Kraft gestandenen Recht (AlVG vom 22. Juni 1951) schlechthin unbeachtlich zu bleiben (Art. 24 Abs. 1 AlVV vom 17. Dezember 1951; vgl. zum Ganzen BGE 115 V 328 f. Erw. 3a).
Dass sich der Gesetzgeber bei der Schaffung von Art. 23 Abs. 1 AVIG im hier fraglichen Zusammenhang bewusst und mit Absicht für eine grundlegende Neuordnung entschieden hätte, ist den Materialien nicht zu entnehmen. Angesichts des bundesrätlichen Gesetzesentwurfs und der dazu erlassenen Botschaft vom 2. Juli 1980 scheint vielmehr das Gegenteil zuzutreffen (BBl 1980 III 577 und 656). Diesem Umstand kommt aber insofern keine entscheidende Bedeutung zu, als jener Entwurf im Verlaufe der weiteren Beratung jedenfalls hinsichtlich der arbeitsbedingten Inkonvenienzen wesentliche Änderungen erfuhr (vgl. BGE 115 V 329 Erw. 3b), wobei die
BGE 122 V 362 S. 366
Gratifikationsthematik gänzlich unerörtert blieb (vgl. insb. das Protokoll der vorberatenden Nationalratskommission vom 24./25. November 1980, S. 17 f.). Gleichwohl wäre es verfehlt, allein gestützt auf die unterbliebene Diskussion dieses Gesichtspunktes triftige Gründe dafür anzunehmen, dass der Gesetz gewordene Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergebe. Denn zum einen ginge trotz gewisser Anhaltspunkte in den Materialien der Schluss nicht an, der (historische) Gesetzgeber habe mit Art. 23 Abs. 1 AVIG einfach die alte Ordnung fortführen wollen. Abgesehen davon erscheint der Einbezug der freiwillig ausgerichteten Gratifikationen in den versicherten Verdienst als durchaus sachgerecht und insbesondere vom Gesetzeszweck her geboten, nachdem auch solche Entgelte der Beitragspflicht (Art. 3 Abs. 1 AVIG) unterliegen und das Gesetz zwischen letzterer und dem Leistungsbezug grundsätzlich Deckungsgleichheit anstrebt (vgl. GERHARDS, a.a.O., N. 7 zu Art. 23 AVIG). Endlich sprechen ebenso praktische Gründe für einen Einbezug der freiwilligen Gratifikationen, zumal sich die Abgrenzung gegenüber den klagbaren Leistungen in der Praxis als äusserst schwierig erweist, wie kontroverse (kantonale) Rechtsprechung(en) und Doktrin unschwer zu belegen vermögen (vgl. statt vieler die Hinweise bei BRÜHWILER, Kommentar zum Einzelarbeitsvertrag, 2. Aufl., N. 1 ff. zu Art. 322d OR).d) Nach dem Gesagten entspricht der Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 AVIG seinem Rechtssinn. Folglich soll der versicherte Verdienst die Gratifikationen unbesehen ihrer allfälligen Klagbarkeit erfassen, womit sich in diesem Punkt Rz. 140 KS-ALE als rechtswidrig erweist. Im Hinblick auf allfällige Missbrauchsgefahr bleibt freilich Voraussetzung, dass die betreffenden Leistungen im Bemessungszeitraum überhaupt zur Ausrichtung gelangten (ARV 1995 Nr. 15 S. 81 Erw. 2c). Soweit dabei der einmonatige Bemessungszeitraum nach Art. 37 Abs. 1 AVIV zur Anwendung gelangt, sind allfällige Gratifikationen analog zu den 13. Monatsgehältern anteilsmässig anzurechnen (vgl. ARV 1988 Nr. 15 S. 120 Erw. 4).