Urteilskopf
124 V 180
31. Urteil vom 7. April 1998 i.S. M. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste
Art. 73bis Abs. 1 IVV;
Art. 4 Abs. 1 BV: rechtliches Gehör im Vorbescheidverfahren.
Die IV-Stelle darf sich nicht darauf beschränken, die Einwände des Versicherten im Vorbescheidverfahren zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen, sondern hat in der ablehnenden Verfügung die Gründe anzugeben, weshalb sie diesen nicht folgt oder sie nicht berücksichtigen kann.
A.- M., geboren 1943, meldete sich am 18. Dezember 1992 zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an.
Die Ausgleichskasse des Kantons Zürich erliess nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens am 15. Dezember 1994 eine Verfügung, mit welcher sie den von M. geltend gemachten Rentenanspruch verneinte.
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 2. April 1997 ab.
C.- M. beantragt mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde, die Sache sei zu neuem Entscheid zurückzuweisen; eventuell sei ihm eine Invalidenrente zuzusprechen.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich als seit dem 1. Januar 1995 neu zuständige Verwaltungsbehörde verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. Der Beschwerdeführer rügt, die Verwaltung habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, da sie in der Verfügung in keiner Weise auf die im Rahmen des Vorbescheidverfahrens gemäss
Art. 73bis IVV vorgebrachten Einwände Bezug genommen habe. Diese Rüge ist vorab zu klären.
a) Das Recht, angehört zu werden, fliesst unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 BV.
Es dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (
BGE 123 I 66 Erw. 2a,
BGE 123 II 183 f. Erw. 6c, 122 I 55 Erw. 4a, 112 Erw. 2a,
BGE 122 II 469 Erw. 4a,
BGE 122 V 158 Erw. 1a,
BGE 121 V 152 Erw. 4a,
BGE 120 Ib 383 Erw. 3b,
BGE 120 V 360 Erw. 1a, je mit Hinweisen).
Wesentlicher Bestandteil des verfassungsrechtlichen Gehörsanspruchs ist sodann die Begründungspflicht. Diese soll verhindern, dass sich die Behörde von unsachlichen Motiven leiten lässt, und dem Betroffenen ermöglichen, die Verfügung gegebenenfalls sachgerecht anzufechten. Dies ist nur möglich, wenn sowohl er wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des Entscheides ein Bild machen können. In diesem Sinn müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf welche sich ihre Verfügung stützt. Dies bedeutet indessen nicht, dass sie sich ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen muss. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (
BGE 118 V 57 Erw. 5b, 117 Ib 492 Erw. 6b/bb,
BGE 112 Ia 110 Erw. 2b; ARV 1993/94 Nr. 28 S. 197 f. Erw. 1a/aa; RKUV 1988 Nr. U 36 S. 44 f. Erw. 2).
b) Die verfahrensrechtliche Garantie des rechtlichen Gehörs hat im Verwaltungsverfahrensgesetz eine positivrechtliche Verankerung gefunden (vgl. SALADIN, Das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, Basel 1979, S. 131 Ziff. 16.225). Gemäss
Art. 29 VwVG haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Behörde hört die Parteien an, bevor sie eine Verfügung mit Begründung erlässt (
Art. 30 Abs. 1, Art. 35 VwVG). Nun findet allerdings das VwVG im Bereich der Invalidenversicherung nach Massgabe von Art. 1 Abs. 2 lit. e in Verbindung mit Art. 3 lit. a auf das Verfahren vor den kantonalen Ausgleichskassen und IV-Stellen nicht direkt Anwendung. Indes ist zu beachten, dass die Bestimmungen des VwVG über das rechtliche
BGE 124 V 180 S. 182
Gehör Ausdruck allgemeiner Rechtsgrundsätze sind und deshalb über den Anwendungsbereich des Gesetzes hinausstrahlen.
c) Nach Art. 73bis Abs. 1 IVV hat die IV-Stelle, bevor sie über die Ablehnung
eines Leistungsbegehrens oder über den Entzug oder die Herabsetzung einer bisherigen Leistung beschliesst, dem Versicherten oder seinem Vertreter Gelegenheit zu geben, sich mündlich oder schriftlich zur geplanten Erledigung zu äussern und die Akten seines Falles einzusehen. Dieses Vorbescheidverfahren bezweckt - nebst der Entlastung der Verwaltungsrechtspflegeorgane - dem Versicherten den Anspruch auf rechtliches Gehör in dem oben umschriebenen Sinne zu gewährleisten (
BGE 119 V 434 Erw. 3c,
BGE 116 V 184 Erw. 1a, 187 Erw. 3c in fine). Bei der Anwendung oder bei der vorfrageweisen Überprüfung der Verordnungsnorm hat sich der Richter somit an den in
Art. 29 ff. VwVG niedergelegten und aus
Art. 4 Abs. 1 BV abgeleiteten Grundsätzen zu orientieren.
2. a) In
BGE 116 V 186 Erw. 2a erkannte das Eidg. Versicherungsgericht eine Verletzung der Anhörungspflicht darin, dass die Verwaltung ein nach Ergehen des Vorbescheides innert Vernehmlassungsfrist eingegangenes Schreiben unbeachtet liess, mit welchem der Versicherte um Aktenedition ersucht und klar zum Ausdruck gebracht hatte, dass er sich zur vorgesehenen Rentenrevision zu äussern beabsichtigte. Ebenfalls als klare Verletzung des rechtlichen Gehörs qualifizierte das Gericht das Vorgehen einer Invalidenversicherungs-Kommission, welche eine Stellungnahme des Beirates des Versicherten zum Vorbescheid nicht berücksichtigte, sondern am Tag nach deren Eingang eine Ablehnungsverfügung erliess, ohne auf die vorgebrachten Einwände einzugehen (nicht veröffentlichtes Urteil G. vom 13. Juli 1992). Die Verwaltung hat Eingaben entgegenzunehmen und zu prüfen. Nicht ausdrücklich beantwortet wurde bislang die Frage, inwiefern - nach pflichtgemässer Prüfung der Einwände - die Gründe, welche zu einem Verwerfen der im Vorverfahren eingebrachten Einwände führen, in der anschliessend erlassenen Verfügung darzulegen sind.
b) Vorliegend wiederholt die Verwaltung in der angefochtenen Verfügung wörtlich die Ausführungen im Vorbescheid. Sie setzt sich mit keinem der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente auseinander. Zwar teilte sie diesem vorgängig brieflich mit, auf seine Einwände könne nicht eingegangen werden. Diesem Schreiben ist jedoch nicht zu entnehmen, weshalb sie die Vorbringen als irrelevant bewertete und den beantragten Beweismitteln keine Bedeutung zumass.
Bei dieser Sachlage ist für den Versicherten (wie auch für die Rechtsmittelinstanz) nicht nachvollziehbar, inwieweit die Einwände gewürdigt wurden. Die Verwaltung darf sich nicht darauf beschränken, die vom Versicherten im Vorbescheidverfahren vorgebrachten Einwände tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen; sie hat ihre Überlegungen dem Betroffenen gegenüber auch namhaft zu machen und sich dabei ausdrücklich mit den (entscheidwesentlichen) Einwänden auseinanderzusetzen oder aber zumindest die Gründe anzugeben, weshalb sie gewisse Gesichtspunkte nicht berücksichtigen kann. Dies entspricht im übrigen dem Verfahren, wie es im von der Vorinstanz richtig zitierten Kreisschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherung über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI) vorgesehen ist (Rz. 3006).
3. Der Beschwerdeführer bemängelt weiter, die Vorinstanz sei auf zwei Rügen (Beschlussfassung durch die unzuständige Verwaltungsbehörde, unvollständige Akteneinsicht) nicht eingegangen. Tatsächlich hat die Vorinstanz diese wesentlichen Fragen zu Unrecht nicht aufgegriffen, womit sie ihrerseits dem Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne einer Prüfungs- und Begründungspflicht nicht gerecht wurde.
4. a) Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung (
BGE 122 II 469 Erw. 4a,
BGE 121 I 232 Erw. 2a,
BGE 121 III 334 Erw. 3c,
BGE 121 V 155 f. Erw. 6,
BGE 120 Ib 383 Erw. 3b,
BGE 120 V 362 Erw. 2a, je mit Hinweisen). Es kommt mit anderen Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht (
BGE 118 V 314 Erw. 3c mit Hinweisen).
Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwerwiegende (
BGE 116 V 185 f. Erw. 1b mit Hinweisen) - Verletzung des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn der Betroffene die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Die Heilung eines - allfälligen - Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (
BGE 120 V 83 f. Erw. 2a,
BGE 118 V 315 Erw. 3c,
BGE 116 V 32 Erw. 3, 185 f. Erw. 1b, je mit Hinweisen).
b) Vorliegend ist festzustellen, dass nicht nur die Verwaltung, sondern auch das kantonale Gericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör missachtet hat. Diese Häufung von Rechtsverletzungen
BGE 124 V 180 S. 184
stellt einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, weshalb eine Heilungsmöglichkeit entfällt.
Die Sache ist deshalb an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese auf die vom Versicherten im Vorbescheidverfahren erhobenen Einwände eingehe und neu verfüge.