127 IV 198
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Urteilskopf
127 IV 198
33. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. Oktober 2001 i.S. X. gegen A., B. und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste
Sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB), Legalitätsprinzip (Art. 1 StGB).
Der Tatbestand der sexuellen Nötigung erfasst entgegen seinem zu engen Wortlaut nicht nur die Nötigung zur Duldung, sondern, entsprechend seinem Sinn und Zweck und dem Willen des Gesetzgebers, auch die Nötigung zur Vornahme von sexuellen Handlungen (E. 3).
Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X. am 25. November 1999 der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 StGB, der mehrfachen sexuellen Nötigung im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB sowie der Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 Abs. 1 StGB schuldig und verurteilte ihn zu 5½ Jahren Zuchthaus, unter Anrechnung von 70 Tagen Untersuchungshaft.
Das Obergericht wirft X. zusammengefasst im Wesentlichen vor, er habe seine Stieftochter A. (geb. am 23. August 1974) in der Zeit von ca. August 1984 bis ca. Juni 1991 unter vielen Malen zur Vornahme von sexuellen Handlungen an ihm gezwungen. Er habe sie insbesondere gezwungen, ihn mit der Hand oder, später vor allem, oral zu befriedigen. Einmal, als A. ca. 15 - 16 Jahre alt gewesen sei, habe er sie zur Duldung des Beischlafs genötigt.
Von der Anklage des sexuellen Missbrauchs der Stieftochter B. sprach das Obergericht X. frei.
X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Am 21. Mai 2001 wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich die von X. gegen das Urteil des Obergerichts erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist..
Aus den Erwägungen:
3. Gemäss Art. 189 Abs. 1 StGB wird wegen sexueller Nötigung mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Gefängnis bestraft, wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht.
Dem Beschwerdeführer wird unter anderem und im Wesentlichen zur Last gelegt, er habe die Beschwerdegegnerin 1 unter vielen Malen gezwungen, ihn manuell und/oder oral zu befriedigen.
a) Der Beschwerdeführer macht wie bereits im kantonalen Verfahren geltend, durch das inkriminierte Verhalten habe er die Beschwerdegegnerin 1 nicht "zur Duldung", sondern allenfalls zur Vornahme von sexuellen Handlungen genötigt; dies sei aber etwas völlig anderes und werde vom Wortlaut von Art. 189 Abs. 1 StGB offensichtlich nicht erfasst. Seine Verurteilung wegen sexueller Nötigung verstosse daher gegen Art. 189 StGB sowie gegen das unter anderem in Art. 1 StGB verankerte Legalitätsprinzip.
Die Vorinstanz vertritt unter Hinweis auf die ihres Erachtens herrschende Lehre die Auffassung, der Tatbestand von Art. 189 Abs. 1 StGB erfasse entgegen seinem Wortlaut auch die Nötigung des Opfers zu einem aktiven Verhalten, mithin die Nötigung zur Vornahme einer sexuellen Handlung. Der insoweit zu enge Wortlaut des Gesetzes beruhe auf einem gesetzgeberischen Versehen.
b) Strafbar ist nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht (Art. 1 StGB). Der Gesetzestext ist Ausgangspunkt der Gesetzesanwendung. Selbst ein klarer Wortlaut bedarf aber der Auslegung, wenn er vernünftigerweise nicht der wirkliche Sinn des Gesetzes sein kann. Massgebend ist nicht der Buchstabe des Gesetzes, sondern dessen Sinn, der sich namentlich aus den dem Gesetz zu Grunde liegenden Wertungen ergibt, im Wortlaut jedoch unvollkommen ausgedrückt sein kann. Sinngemässe Auslegung kann auch zu Lasten des Beschuldigten vom Wortlaut abweichen. Im Rahmen solcher Gesetzesauslegung ist auch der Analogieschluss erlaubt; denn er dient dann lediglich als Mittel sinngemässer Auslegung. Der Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" (Art. 1 StGB) verbietet bloss, über den dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommenden Sinn hinauszugehen, also neue Straftatbestände zu schaffen oder bestehende derart zu erweitern, dass die Auslegung durch den Sinn des Gesetzes nicht mehr gedeckt wird (BGE 87 IV 115 E. b S. 118; BGE 95 IV 68 E. 3a S. 72 f., je mit Hinweisen). Die Abgrenzung zwischen zulässiger Auslegung einer Strafbestimmung zu Ungunsten des Beschuldigten und unzulässiger Schaffung neuer Straftatbestände durch Analogieschlüsse ist allerdings schwierig. Das Bestreben, ein strafwürdiges Verhalten tatsächlich auch zu bestrafen, darf nicht mit dem Sinn und Zweck einer Strafnorm vermengt bzw. gleichgesetzt werden. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass sich die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten unter einen Straftatbestand fällt, eben gerade dann stellt, wenn es als strafwürdig erscheint. Im Rahmen der Auslegung ist auch der Analogieschluss, wie der Umkehrschluss, zulässig (BGE 116 IV 134 E. 2a S. 138 f. mit Hinweisen).
aa) Indem der Beschwerdeführer sein Opfer zwang, ihn manuell und/oder oral zu befriedigen, hat er es nicht "zur Duldung" einer sexuellen Handlung genötigt. Vielmehr hat er es zur Vornahme einer solchen Handlung gezwungen. Dies wird aber vom Wortlaut von Art. 189 Abs. 1 StGB nicht erfasst. Diese Bestimmung erfasst auch nach ihrem französischen und italienischen Wortlaut nur die Nötigung zur Duldung von sexuellen Handlungen ("Celui qui ... l'aura contrainte à subir ..."; "Chiunque costringe una persona a subire ..."). Die Bestimmung unterscheidet sich insoweit beispielsweise von ihrer Vorgänger-Norm, d.h. von Art. 188 aStGB (Nötigung zu einer andern unzüchtigen Handlung), wonach sich strafbar machte, wer eine Person mit Gewalt (etc.) "zur Duldung oder zur Vornahme einer andern unzüchtigen Handlung" zwang. Sie unterscheidet sich insoweit aber auch etwa von Art. 192 StGB (sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten) und von Art. 193 StGB (Ausnützung einer Notlage), wonach sich strafbar macht, wer eine Person unter den darin genannten Voraussetzungen veranlasst, "eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden". Für die sich aus dem Gesetzeswortlaut ergebende Beschränkung des Tatbestands von Art. 189 StGB auf die Nötigung "zur Duldung" von sexuellen Handlungen gibt es keine sachlichen Gründe. Die Beschränkung ist sinnlos. Der Wortlaut von Art. 189 Abs. 1 StGB drückt den Sinn der Strafnorm, der sich aus den Art. 187 ff. StGB im Allgemeinen und Art. 189 StGB im Besonderen zu Grunde liegenden Zwecken und Wertungen ergibt, nur unvollständig aus. Das Recht auf Selbstbestimmung in sexueller Hinsicht, welches Art. 189 StGB schützt (siehe BGE 122 IV 97 E. 2b S. 100; BGE 119 IV 309 E. 7a S. 310), wird durch die Nötigung zur Vornahme einer sexuellen Handlung ebenso sehr beeinträchtigt wie durch die Nötigung zur Duldung einer solchen Handlung. Auch die Nötigung, etwas zu tun, ist Nötigung (Art. 181 StGB), und auch die Nötigung, eine sexuelle Handlung vorzunehmen, ist daher "sexuelle Nötigung" (Randtitel von Art. 189 StGB).
Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 189 StGB auf die Nötigung zur Duldung von sexuellen Handlungen gemäss dem Wortlaut der Bestimmung hat auch der Gesetzgeber nicht gewollt. Vielmehr liegt ein offensichtliches Versehen des Gesetzgebers vor, wie sich auch aus den Gesetzesmaterialien zweifelsfrei ergibt. Nach Art. 191 des Vorentwurfs der Expertenkommission (Nötigung zu einer andern geschlechtlichen Handlung) sollte bestraft werden, "wer eine Person mit Gewalt ... zu einer andern geschlechtlichen Handlung zwingt". Im erläuternden Bericht wird dazu ausgeführt,
BGE 127 IV 198 S. 202
hinsichtlich der Umschreibung des gesetzlichen Tatbestands werde vom geltenden Recht nur wenig abgewichen (S. 42). Gemäss Art. 190 des bundesrätlichen Entwurfs (Nötigung zu einer andern geschlechtlichen Handlung) sollte bestraft werden, "wer eine Person zu einer andern geschlechtlichen Handlung zwingt, indem er gegen sie Gewalt anwendet ...". In der Botschaft wird dazu festgehalten, Art. 188 des geltenden Rechts werde zu Art. 190. An seinem Inhalt werde nur wenig geändert. Der Bundesrat erachtete es als "unnötig, im Gesetzestext weiterhin ausdrücklich die beiden Varianten der erzwungenen Handlung - Duldung und Vornahme - zu nennen; auch wenn das Opfer bloss duldet, ist der Tatbestand erfüllt, ohne dass dies besonders gesagt werden muss" (BBl 1985 II 1009 ff., 1075, 1114). Der Ständerat, welcher die Vorlage als Erstrat behandelte, stimmte insoweit der Formulierung gemäss dem bundesrätlichen Entwurf zu (AB 1997 S 387, 399). Der Nationalrat schlug dagegen, seiner Kommission folgend, die Formulierung vor: "Wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer anderen geschlechtlichen Handlung nötigt, ..." (AB 1990 N 2300, 2323). Die Wendung "zur Duldung" war auch im Vorschlag des Nationalrats zum Tatbestand der Vergewaltigung, insoweit dem bisherigen Tatbestand der Notzucht entsprechend, enthalten ("Wer ... zur Duldung des ... Beischlafs nötigt"; AB 1990 N 2301), während im bundesrätlichen Entwurf, welchem der Ständerat auch insoweit zustimmte, wie schon im Vorentwurf der Expertenkommission kurz vom "Beischlaf" die Rede war ("Wer ... zum ... Beischlaf zwingt ..."). In den parlamentarischen Kommissionen war unter anderem darüber diskutiert worden, ob die beiden Tatbestände der Vergewaltigung und der Nötigung zu andern geschlechtlichen Handlungen in einem einzigen Tatbestand geregelt werden könnten, woraus sich beispielsweise die Formulierung ergeben hätte, dass sich strafbar mache, wer zur Duldung des Beischlafs oder einer anderen geschlechtlichen Handlung nötige. Die Zusammenfassung der beiden Tatbestände in einen einzigen Tatbestand wurde in den Kommissionen aber mehrheitlich abgelehnt. Die beiden Tatbestände wurden getrennt geregelt, doch blieb - in den Vorschlägen der nationalrätlichen Kommission, welchen der Nationalrat und in der Folge auch der Ständerat insoweit zustimmte - die Wendung "zur Duldung" nicht nur beim Tatbestand der Vergewaltigung, sondern auch beim Tatbestand der sexuellen Nötigung bestehen. Niemand bemerkte, dass bei diesem Wortlaut der Anwendungsbereich des Tatbestands der sexuellen Nötigung in sachwidriger Weise eingeschränkt wird.bb) Unter diesen Umständen ist eine berichtigende Auslegung von Art. 189 Abs. 1 StGB durch die Rechtsprechung in dem Sinne, dass die Bestimmung über ihren Wortlaut hinaus nicht nur die Nötigung zur Duldung, sondern, entsprechend ihrem Sinn und Zweck und dem Willen des Gesetzgebers, auch die Nötigung zur Vornahme von sexuellen Handlungen erfasst, mit dem Legalitätsprinzip im Sinne von Art. 1 StGB vereinbar. Eine Anwendung der Bestimmung streng nach dem engen Wortlaut, der offensichtlich auf einem gesetzgeberischen Versehen beruht, würde zu sachwidrigen und offenkundig stossenden Ergebnissen führen. Eine berichtigende Auslegung wird denn auch von der herrschenden Lehre, wenn auch teilweise mit Bedenken, akzeptiert (siehe TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl. 1997, Art. 189 N. 10; STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil I, 5. Aufl. 1995, § 8 N. 27; JENNY, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, 1997, Art. 189 StGB N. 37; REHBERG/SCHMID, Strafrecht III, 7. Aufl. 1997, S. 389 f.; PHILIPP MAIER, Die Nötigungsdelikte im neuen Sexualstrafrecht, Diss. Zürich 1994, S. 279 ff.; PETER HANGARTNER, Selbstbestimmung im Sexualbereich - Art. 188 - 193 StGB , Diss. St. Gallen 1997, S. 77 f.). Der Gesetzgeber sollte allerdings sein Versehen bei Gelegenheit korrigieren.