Urteilskopf
148 IV 96
11. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) gegen A. und A. gegen Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) und Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
6B_938/2020 / 6B_942/2020 vom 12. November 2021
Regeste
Art. 101 Abs. 1, 4 und 5 MWSTG;
Art. 9 VStrR;
Art. 49 StGB; Berechnung der Mehrwertsteuerbusse bei Tatmehrheit; Asperations- und Kumulationsprinzip.
Der in Art. 9 VStrR verankerte Ausschluss des Asperationsprinzips für Bussen und Umwandlungsstrafen gilt - besondere Bestimmungen in den entsprechenden Verwaltungsgesetzen vorbehalten - auch bei Konkurrenz zwischen Widerhandlungen gegen verschiedene Verwaltungsgesetze sowie bei mehreren Widerhandlungen nach demselben Verwaltungsgesetz (E. 4.5.1).
Im Anwendungsbereich des MWSTG ist das Asperationsprinzip - trotz des generellen Ausschlusses von
Art. 9 VStrR in
Art. 101 Abs. 1 MWSTG - auf die in
Art. 101 Abs. 4 und 5 MWSTG geregelten Fälle beschränkt.
Art. 101 Abs. 4 MWSTG erfasst im Zuständigkeitsbereich der EZV nur die Idealkonkurrenz ("eine Handlung"), während
Art. 101 Abs. 5 MWSTG für den Zuständigkeitsbereich der ESTV auch die Realkonkurrenz regelt ("eine oder mehrere Handlungen"). Für im Zuständigkeitsbereich der EZV in Realkonkurrenz begangene Straftaten, d.h. durch Nichtanmeldung von Waren bei deren Einfuhr in die Schweiz zu unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. an unterschiedlichen Orten, gilt daher das Kumulationsprinzip (E. 4.5.2-4.7).
A. Die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) auferlegte A. mit Strafbescheid vom 24. März 2016 wegen mehrfacher vollendeter und mehrfacher versuchter Einfuhrsteuerhinterziehung eine Busse von Fr. 4'000'000.-. Die EZV wirft A. vor, zahlreiche Kunstgegenstände bei der Einfuhr in die Schweiz nicht oder falsch angemeldet zu haben. A. erhob gegen den Strafbescheid Einsprache.
B.
Mit Strafverfügung vom 6. Oktober 2016 verurteilte die EZV A. erneut wegen mehrfacher vollendeter und mehrfacher versuchter Mehrwertsteuerhinterziehung zu einer Busse von Fr. 4'000'000.- .
A. verlangte eine gerichtliche Beurteilung. Die EZV überwies die Angelegenheit mit Verfügung vom 25. November 2016 an die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich zuhanden des zuständigen Gerichts mit dem Antrag, A. sei bezüglich der 152 in der Strafverfügung vom 6. Oktober 2016 beurteilten Fälle der vollendeten, vorsätzlich begangenen Einfuhrsteuerhinterziehung im Sinne von Art. 96 Abs. 4 lit. a i.V.m. Art. 97 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 12. Juni 2009 über die Mehrwertsteuer (Mehrwertsteuergesetz, MWSTG; SR 641.20) schuldig zu sprechen und zu einer Busse von Fr. 4'000'000.- zu verurteilen. Eventualiter sei A. der mehrfachen vollendeten, fahrlässig begangenen Steuerhinterziehung im Sinne von Art. 96 Abs. 4 lit. a MWSTG schuldig zu sprechen und mit einer angemessenen Busse zu bestrafen.
C. Das Bezirksgericht Bülach verurteilte A. mit Urteil vom 4. Mai 2018 wegen mehrfacher Steuerhinterziehung im Sinne von Art. 85 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 2. September 1999 über die Mehrwertsteuer (aMWSTG; in Kraft bis am 31. Dezember 2009) und
Art. 96 Abs. 4 lit. a MWSTG zu einer Busse von Fr. 4'000'000.- . Gegen dieses Urteil erhoben A. Berufung und die EZV Anschlussberufung.
D.
Das Obergericht des Kantons Zürich stellte das Verfahren gegen A. am 4. Juni 2020 bezüglich einzelner Fall-Dossiers ein. In weiteren Fall-Dossiers sprach es ihn vom Vorwurf der Steuerhinterziehung frei. Im Übrigen bestätigte es die erstinstanzlichen Schuldsprüche. Es bestrafte A. mit einer Busse von Fr. 2'503'000.- .
BGE 148 IV 96 S. 99
E.
Die EZV beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil vom 4. Juni 2020 sei aufzuheben und die Sache sei zur neuen Beurteilung an das Obergericht des Kantons Zürich zurückzuweisen. Eventualiter sei A. der mehrfachen vollendeten, vorsätzlich begangenen Steuerhinterziehung im Sinne von Art. 96 Abs. 4 lit. a i.V.m.
Art. 97 Abs. 1 MWSTG schuldig zu sprechen und mit einer Busse von Fr. 4'000'000.- zu bestrafen (Verfahren 6B_938/2020).
F.
A. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, die vorinstanzlichen Schuldsprüche seien aufzuheben und er sei vollumfänglich freizusprechen. Eventualiter sei das Verfahren bezüglich zusätzlicher Fälle einzustellen und die Busse angemessen zu reduzieren. Subeventualiter sei die Busse angemessen zu reduzieren. Subsubeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Verfahren 6B_942/2020).
G.
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich schloss sich in ihrer Stellungnahme der Beschwerde der EZV an. A. stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde der EZV. Die Vorinstanz verzichtete auf eine Stellungnahme (je Verfahren 6B_938/2020). Im Verfahren 6B_942/2020 wurden keine Vernehmlassungen eingeholt.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der EZV gut. Die Beschwerde von A. weist es ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
4.1 Beide Beschwerdeführer fechten die vorinstanzliche Strafzumessung an. Die EZV (nachfolgend: Beschwerdeführerin 1) rügt eine bundesrechtswidrige Anwendung von
Art. 101 MWSTG,
Art. 9 VStrR (SR 313.0) und
Art. 49 StGB. Sie argumentiert im Wesentlichen, die Vorinstanz gehe im angefochtenen Entscheid in Anwendung von
Art. 101 Abs. 1 MWSTG von einem Ausschluss von
Art. 9 VStrR und damit von der Anwendung von
Art. 49 Abs. 1 StGB aus. Dabei blende sie
Art. 101 Abs. 4 MWSTG vollständig aus. Die Realkonkurrenz sei in
Art. 101 Abs. 4 MWSTG - anders als in
Art. 101 Abs. 5 MWSTG - nicht enthalten. Das Asperationsprinzip von
Art. 49 Abs. 1 StGB gelte im Zuständigkeitsbereich der EZV trotz des Ausschlusses von
Art. 9 VStrR bei Vorliegen einer Deliktsmehrheit daher nicht. Dass die Realkonkurrenz in
Art. 101 Abs. 4 MWSTG - anders als in
Art. 101 Abs. 5 MWSTG - nicht enthalten sei, sei darauf zurückzuführen, dass aufgrund der
BGE 148 IV 96 S. 100
dezentralen Organisation der EZV jede für die Strafbeurteilung zuständige Stelle, insbesondere diejenigen an den unterschiedlichen Grenzübergängen, die Tatbestandsverwirklichung separat mit einer Sanktion bestrafen könne. Darauf sei die EZV aus ihrer Organisation heraus angewiesen, weshalb im Zuständigkeitsbereich der EZV bei Vorliegen von Deliktsmehrheit keine Gesamtstrafenbildung im Sinne von
Art. 49 Abs. 1 StGB beabsichtigt gewesen sei. Vielmehr gelte
Art. 9 VStrR innerhalb der Einschränkung von
Art. 101 Abs. 4 MWSTG weiterhin, was sich aus dem Sachzusammenhang und der Systematik zwischen
Art. 101 Abs. 1 und 4 MWSTG ergebe.
Unabhängig davon erblicke die Vorinstanz im Bussenrahmen des Einzelfalls fälschlicherweise die Obergrenze für sämtliche anderen zu sanktionierenden Einfuhren, womit sie Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG zu Unrecht mit dem Asperationsprinzip im Sinne von Art. 49 Abs. 1 StGB verknüpfte. Der Strafrahmen im Fiskalstrafrecht des Bundes variiere in Abhängigkeit des konkreten Steuervorteils, weshalb er nach oben quasi offen sei, dies im Gegensatz zu den Sanktionsrahmen im Kernstrafrecht. Aus dem klaren Wortlaut von Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG ergebe sich, dass es keine einheitliche abstrakte Strafandrohung und kein Höchstmass der Strafart gebe. Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG und Art. 49 Abs. 1 StGB, wo vom "Höchstmass der angedrohten Strafe" und vom "gesetzlichen Höchstmass der Strafart" die Rede sei, würden vom Wortlaut her nicht zusammenpassen. Sinn und Zweck von Art. 49 Abs. 1 StGB müsse auch bei einem "variierenden oder fliessenden" Strafrahmen die Strafschärfung und gleichzeitige Vermeidung der Kumulation der Einzelstrafen sein. Vor diesem Hintergrund sei unter der auslegungsbedürftigen Formulierung "schwerste Straftat" im Sinne von Art. 49 Abs. 1 StGB im Zusammenhang mit einem "variierenden oder fliessenden" Strafrahmen für die Bildung des Strafrahmens der Gesamtstrafe der gesamte Steuervorteil, welcher durch die zu sanktionierenden Widerhandlungen erzielt worden sei, zu verstehen. Innerhalb des Strafrahmens bleibe eine konkrete Einzelwürdigung möglich. Dies führe nicht zu einer Kumulation der Einzelstrafen, weil die Obergrenze von Fr. 800'000.- nicht addiert werde.
4.2.1 Die Vorinstanz erwägt,
Art. 9 VStrR sei gemäss
Art. 101 Abs. 1 MWSTG nicht anwendbar. Für das Mehrwertsteuerstrafrecht gelte seit dem 1. Januar 2010 das Asperationsprinzip gemäss
Art. 49 StGB BGE 148 IV 96 S. 101
daher uneingeschränkt. Es gelte gemäss Art. 104 i.V.m.
Art. 49 StGB auch für Übertretungsbussen. Für das Mehrwertsteuerstrafrecht bedeute die Geltung des Asperationsprinzips, dass bei mehrfachen Widerhandlungen die für einen Täter im Ergebnis ungünstige Addition der Einzelbussen nicht mehr zulässig sei und der maximale Bussenrahmen in Anwendung der
Art. 96 Abs. 4 lit. a und Art. 97 Abs. 1 MWSTG nicht (mehr) auf der Basis des durch mehrere vorsätzlich begangene Einzeltaten insgesamt hinterzogenen Einfuhrsteuerbetrags bestimmt werden dürfe. Vielmehr sei dieser ausgehend von der schwersten Einzeltat festzulegen. Nur wenn der durch die schwerste Einzeltat erzielte Steuervorteil Fr. 800'000.- übersteige, könne in Anwendung von
Art. 97 Abs. 1 MWSTG für diese schwerste Tat eine Busse in der Höhe bis zum Doppelten des konkret erzielten Steuervorteils ausgefällt werden. Ansonsten bleibt es beim abstrakten Bussenmaximum von Fr. 800'000.-. Bei der Festlegung der Gesamtstrafe dürfe der abstrakte Bussenrahmen für die schwerste Tat sodann (nur) beim Vorliegen aussergewöhnlicher Umstände um bis zur Hälfte überschritten werden (
Art. 49 Abs. 1 StGB;
BGE 136 IV 55 E. 5.8). Im Ergebnis führe die Anwendung des neuen Mehrwertsteuerstrafrechts bei mehrfacher Tatbegehung, wie sie A. (nachfolgend: Beschwerdegegner 1) vorgeworfen werde, damit zwangsläufig zu einer tieferen Gesamtbusse als diejenige des im Zeitpunkt der Taten im Jahr 2009 geltenden Gesetzes. Die Strafzumessung sei daher in Anwendung des neuen Mehrwertsteuergesetzes vorzunehmen. Den höchsten Steuervorteil habe der Beschwerdegegner 1 mit Fr. 1'251'628.80 in Fall 121 erzielt. Gleichzeitig sei dies der einzige Fall, bei dem die hinterzogene Einfuhrsteuer die Strafdrohung von
Art. 96 Abs. 4 lit. a MWSTG übersteige. Für die Tat gemäss Fall-Dossier 121 erhöhe sich der ordentliche Bussenrahmen folglich in Anwendung von Art. 97 Abs. MWSTG [recte wohl:
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG] über die in
Art. 96 Abs. 4 lit. a MWSTG vorgesehene Strafandrohung hinaus auf Fr. 2'503'257.-. Die in Anwendung des Asperationsprinzips für die Vielzahl von Einzeltaten festzusetzende Gesamtbusse sei damit ausgehend von Fall 121 als schwerster Tat und innerhalb des für diese geltenden ordentlichen Strafrahmens von Busse bis zu Fr. 2'503'257.- zu bestimmen. Aussergewöhnliche Umstände, die es angezeigt erscheinen liessen, den ordentlichen Bussenrahmen in Anwendung von
Art. 49 Abs. 1 Satz 2 StGB (im Ergebnis) zu überschreiten, bestünden auch unter Berücksichtigung der Tatmehrheit nicht. Das ordentliche
BGE 148 IV 96 S. 102
Bussenmaximum übersteige die Höchstbeträge gemäss den Art. 106 Abs. 1 und
Art. 34 Abs. 1 und 2 StGB bereits um ein Mehrfaches und lasse auch im Fall des wohlhabenden Beschwerdegegners 1 genügend Spielraum, um eine tat- und täterangemessene Gesamtstrafe festzulegen. Im Ergebnis erscheine eine Busse von Fr. 2'503'000.- dem Verschulden sowie den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Beschwerdegegners 1 angemessen. Mit der um Fr. 257.- unter dem ordentlichen Höchstmass der Busse liegenden Strafe werde dabei auch dem Umstand Rechnung getragen, dass der Beschwerdegegner 1 am 20. Juni 2013 bereits wegen einer unterlassenen Anmeldung von zwei Damenhandtaschen mit einem Mehrwertsteuerwert von total Fr. 1'453.- im abgekürzten Verfahren mit einer Busse von Fr. 230.- bestraft worden sei und somit ein Fall von retrospektiver Konkurrenz im Sinne von
Art. 49 Abs. 2 StGB vorliege.
4.2.2 Der Beschwerdegegner 1 argumentiert in seiner Stellungnahme vor Bundesgericht im Wesentlichen,
Art. 101 Abs. 1 MWSTG schliesse die Anwendbarkeit von
Art. 9 VStrR aus, weshalb das in
Art. 49 StGB verankerte Asperationsprinzip im Mehrwertsteuerstrafrecht uneingeschränkt zur Anwendung gelange. Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus
Art. 101 Abs. 4 MWSTG, der das Asperationsprinzip auch für die EZV bestätige.
Art. 101 Abs. 4 und 5 MWSTG würden bloss das Asperationsprinzip auf den Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Strafbehörde zuschneiden. Ohnehin sei die hier angefochtene Strafe von einem Gericht festgelegt worden. Aus
Art. 101 Abs. 4 MWSTG ergäben sich für Gerichte keine Einschränkungen.
4.3.1 Ist die Verfolgung und Beurteilung von Widerhandlungen wie vorliegend (vgl.
Art. 103 Abs. 2 MWSTG) einer Verwaltungsbehörde des Bundes übertragen, so gelangen die Bestimmungen des VStrR zur Anwendung (vgl.
Art. 1 VStrR). Vorbehalten bleiben abweichende Bestimmungen der einzelnen Verwaltungsgesetze, vorliegend des MWSTG. Die allgemeinen Bestimmungen des StGB gelten, soweit das VStrR oder das einzelne Verwaltungsgesetz nichts anderes bestimmt (
Art. 2 VStrR).
4.3.2 Gemäss
Art. 96 Abs. 4 lit. a MWSTG wird mit Busse bis zu Fr. 800'000.- bestraft, wer die Steuerforderung zulasten des Staates verkürzt, indem er vorsätzlich oder fahrlässig bei der Einfuhr
BGE 148 IV 96 S. 103
Waren nicht oder unrichtig anmeldet oder verheimlicht. Sofern der durch die Tat erzielte Steuervorteil höher ist als die Strafdrohung, kann die Busse bei vorsätzlicher Begehung bis zum Doppelten des Steuervorteils erhöht werden (
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG).
4.3.3 Die Busse wird gemäss Art. 97 Abs. 1 erster Halbsatz MWSTG in Anwendung von
Art. 106 Abs. 3 StGB bemessen. Danach hat das Gericht die Busse nach den Verhältnissen des Täters zu bemessen, dass dieser die Strafe erleidet, die seinem Verschulden angemessen ist (
Art. 106 Abs. 3 StGB).
Art. 34 StGB, wonach das Gericht bei Geldstrafen die Anzahl Tagessätze nach dem Verschulden des Täters und die Höhe des Tagessatzes nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters im Zeitpunkt des Urteils bestimmt, kann dabei sinngemäss herangezogen werden (Art. 97 Abs. 1 zweiter Halbsatz MWSTG). Bussen bis zu Fr. 5'000.- sind gemäss
Art. 8 VStrR nach der Schwere der Widerhandlung und des Verschuldens zu bemessen; andere Strafzumessungsgründe müssen nicht berücksichtigt werden.
4.3.4 Art. 9 VStrR bestimmt, dass die Vorschriften von aArt. 68 StGB über das Zusammentreffen von strafbaren Handlungen oder Strafbestimmungen für Bussen und Umwandlungsstrafen nicht gelten. aArt. 68 StGB entspricht dem geltenden
Art. 49 StGB, der das Asperationsprinzip für den Fall verankert, dass der Täter durch eine oder mehrere Handlungen die Voraussetzungen für mehrere gleichartige Strafen erfüllt.
Art. 49 StGB gelangt sowohl bei echter Idealkonkurrenz (Tateinheit bzw. Zusammentreffen von Strafbestimmungen) als auch bei echter Realkonkurrenz (Tatmehrheit bzw. Zusammentreffen von strafbaren Handlungen) zur Anwendung (Urteil 6B_173/ 2016 vom 8. Dezember 2016 E. 1.3.1).
Art. 9 VStrR ist gemäss
Art. 101 Abs. 1 MWSTG auf die Mehrwertsteuerhinterziehung nicht anwendbar. Stattdessen enthalten
Art. 101 Abs. 4 und 5 MWSTG spezielle Bestimmungen, welche die Strafzumessung beim Zusammentreffen mehrerer Straftaten regeln. Erfüllt eine Handlung sowohl den Tatbestand einer Hinterziehung der Einfuhrsteuer oder einer Steuerhehlerei als auch einer durch die EZV zu verfolgenden Widerhandlung gegen andere Abgabenerlasse des Bundes, so wird die Strafe für die schwerste Widerhandlung verhängt; diese kann angemessen erhöht werden (
Art. 101 Abs. 4 MWSTG). Hat der Täter oder die Täterin durch eine oder mehrere Handlungen die Voraussetzungen für mehrere Strafen erfüllt, die
BGE 148 IV 96 S. 104
in den Zuständigkeitsbereich der ESTV fallen, so wird die Strafe für die schwerste Widerhandlung verhängt; diese kann angemessen erhöht werden (
Art. 101 Abs. 5 MWSTG).
4.4.1 Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, d.h. nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Das Bundesgericht befolgt einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen (zum Ganzen:
BGE 146 II 201 E. 4.1;
BGE 144 I 242 E. 3.1.2;
BGE 142 IV 401 E.3.3; je mit Hinweisen; vgl. für die Berücksichtigung des Legalitätsprinzips und des in
Art. 2 Abs. 2 StPO verankerten Grundsatzes der Formstrenge bei der Gesetzesauslegung im Strafrecht zudem
BGE 148 IV 1 E. 3.5). Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu (
BGE 146 II 201 E. 4.1;
BGE 144 I 242 E. 3.1.2; je mit Hinweisen).
4.4.2 Die geltenden Strafbestimmungen von
Art. 96 ff. MWSTG gehen auf die Arbeit in der nationalrätlichen Kommission zurück, welche ein neues Konzept des Mehrwertsteuerstrafrechts entwarf, das sich wesentlich vom Entwurf des Bundesrats und damit auch vom Vernehmlassungsentwurf unterscheidet. Dem Antrag ging ein Antrag eines Kommissionsmitglieds voraus. Dieser Antrag wurde in den Kommissionen des National- und Ständerats mit der Hilfe der Bundesverwaltung überarbeitet und verbessert. Damit sollte sichergestellt werden, dass nebst den rechtsstaatlichen Anliegen der nationalrätlichen Kommission auch die verwaltungstechnischen Anliegen der Verwaltung berücksichtigt werden (vgl. Voten Müller und Rime, AB 2009 N 489 f.; Voten Sommaruga und Merz, AB 2009 S 439). Ziel des in
Art. 96 ff. MWSTG verankerten neuen Konzepts des Mehrwertsteuerstrafrechts war es, der steuerpflichtigen Person mehr Rechtssicherheit zu geben, sie bei Bagatelltatbeständen vor einer Kriminalisierung zu schützen und umgekehrt schwere
BGE 148 IV 96 S. 105
Delikte strenger zu ahnden. Weiter sollte mit dem neuen Konzept eine Trennung von Steuererhebungs- und Strafverfahren herbeigeführt werden zwecks Wahrung der strafprozessualen Verfahrensrechte, insbesondere des in
Art. 104 Abs. 2 und 3 MWSTG explizit verankerten Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrechts (Voten Müller, AB 2009 N 489 f., und David, AB 2009 S 439; vgl. zum Ganzen auch PIRMIN BISCHOF, Revision des MWST-Verfahrensrechts und MWST-Strafrechts, Erläuterung der vom Nationalrat vorgenommenen Anpassungen, Schweizer Treuhänder 6-7/2009 S. 492 ff., insb. S. 494 und 497). Da das neue Konzept vom Parlament ohne eine vertiefte inhaltliche Diskussion übernommen wurde, fehlen Gesetzesmaterialien und insbesondere Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen, welche für die Gesetzesauslegung von
Art. 101 MWSTG herangezogen werden könnten, weitgehend.
4.5.1 Mit
Art. 9 VStrR wird das in
Art. 49 StGB verankerte Asperationsprinzip für Bussen und Umwandlungsstrafen ausser Kraft gesetzt. Im Verwaltungsstrafrecht gilt in Anwendung von
Art. 9 VStrR daher grundsätzlich das Kumulationsprinzip, d.h. mehrere Bussen sind zu kumulieren (vgl. JÜRG-BEAT ACKERMANN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 103 zu
Art. 49 StGB; STEFAN HEIMGARTNER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 30 vor
Art. 103 StGB; BISCHOF, a.a.O., S. 496).
Art. 49 StGB ist auf die Verfolgung von gemeinrechtlichen Straftaten zugeschnitten, da im Kernstrafrecht grundsätzlich ein und derselbe Richter alle strafbaren Widerhandlungen eines Täters beurteilen soll (vgl.
Art. 29 Abs. 1 lit. a StPO). Die ratio legis von
Art. 9 VStrR, d.h. des Ausschlusses des in
Art. 49 StGB verankerten Asperationsprinzips im Verwaltungsstrafrecht, liegt gemäss den Gesetzesmaterialien darin, dass bei Konkurrenz zwischen einer gemeinrechtlichen strafbaren Handlung und einer Widerhandlung gegen ein Verwaltungsgesetz eine gemeinsame Zuständigkeit fehlt, wenn das zuletztgenannte Delikt im Verwaltungsstrafverfahren zu verfolgen ist, in welchem die Busse erstinstanzlich immer von der Verwaltung verfügt wird. Das Institut der Gesamtbusse ist aus diesem Grunde im Verwaltungsstrafrecht nicht realisierbar. Es würde überdies zu praktisch unüberwindbaren Schwierigkeiten im Vollzug führen, weil die Verwaltungsgesetze über die Verteilung der Bussen unter Bund, Kantonen, Gemeinden usw. ganz unterschiedliche Regeln aufstellen (Botschaft vom 21. April 1971 zum Entwurf eines
BGE 148 IV 96 S. 106
Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht, BBl 1971 I 993 ff., 1006; Parlamentarische Initiative, Bundesgesetz über die Mehrwertsteuer [Dettling], Stellungnahme des Bundesrates vom 15. Januar 1997 zum Bericht vom 28. August 1996 der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates [nachfolgend: Stellungnahme des Bundesrates], BBl 1997 II 389 ff., 426 f.).
Art. 9 VStrR gilt - besondere Bestimmungen in den entsprechenden Verwaltungsgesetzen vorbehalten - auch bei Konkurrenz zwischen Widerhandlungen gegen verschiedene Verwaltungsgesetze (BBl 1971 I 993 ff., 1006) sowie bei mehreren Widerhandlungen nach dem selben Verwaltungsgesetz (EICKER/FRANK/ACHERMANN, Verwaltungsstrafrecht und Verwaltungsstrafverfahrensrecht, 2012, S. 74; HEIMGARTNER, a.a.O., N. 30 vor Art. 103 StGB; gleich: Urteile des Bundesstrafgerichts SK.2018.53 vom 23. Mai 2019 E. 13.2.3; SK.2016.19 vom 19. September 2018 E. 9.2.2; SK.2017.22 vom 14. Juni 2018 E. 6.2.2). Der gegenteiligen Auffassung, wonach Art. 9 VStrR generell immer dann nicht zur Anwendung gelangen soll, wenn mehrere in echter Konkurrenz zueinander stehende verwaltungsstrafrechtliche Übertretungen zu beurteilen sind, die (mehrheitlich) durch eine und dieselbe Verwaltungsbehörde zu beurteilen sind (vgl. JONAS ACHERMANN, in: Basler Kommentar, Verwaltungsstrafrecht, 2020, N. 9-12 zu Art. 9 VStrR; siehe dazu auch RENATE SCHWOB, Verwaltungsstrafrecht des Bundes, Schweizerische Juristische Kartothek [SJK] Karte 1287, Stand: 1. Oktober 1985, S. 8 f.), kann nicht gefolgt werden. Dagegen spricht nicht nur der Gesetzeswortlaut, sondern auch der Umstand, dass der Gesetzgeber für punktuelle Abweichungen von Art. 9 VStrR gesetzliche Spezialregeln erlassen hat, welche teils weniger weit gehen und lediglich die Idealkonkurrenz regeln (siehe dazu hinten E. 4.5.4).
4.5.2 Der explizite Ausschluss von
Art. 9 VStrR in
Art. 101 Abs. 1 MWSTG führt grundsätzlich zur Anwendbarkeit des in
Art. 49 StGB verankerten Asperationsprinzips. In welchem Umfang das Asperationsprinzip zur Anwendung gelangen soll, ist indes in
Art. 101 Abs. 4 und 5 MWSTG geregelt. Im Anwendungsbereich des MWSTG ist das Asperationsprinzip - trotz des generellen Ausschlusses von
Art. 9 VStrR in
Art. 101 Abs. 1 MWSTG - demnach auf die in
Art. 101 Abs. 4 und 5 MWSTG geregelten Fälle beschränkt.
Art. 101 Abs. 4 MWSTG betrifft den Zuständigkeitsbereich der EZV, während
Art. 101 Abs. 5 MWSTG die Strafzumessung im Zuständigkeitsbereich der ESTV regelt.
BGE 148 IV 96 S. 107
Art. 101 Abs. 4 MWSTG erfasst im Zuständigkeitsbereich der EZV - anders als Art. 101 Abs. 5 MWSTG, der auch die Realkonkurrenz regelt ("eine oder mehrere Handlungen") - nur die Idealkonkurrenz ("eine Handlung"). Art. 101 Abs. 4 MWSTG sieht ein Abweichen vom Kumulationsprinzip (vgl. Art. 9 VStrR) explizit nur für den Fall vor, dass "eine Handlung" sowohl den Tatbestand einer Hinterziehung der Einfuhrsteuer oder einer Steuerhehlerei als auch einer durch die EZV zu verfolgenden Widerhandlung gegen andere Abgabenerlasse des Bundes erfüllt. Art. 101 Abs. 4 MWSTG beschränkt den Ausschluss des Kumulationsprinzips folglich auf in Idealkonkurrenz begangene weitere Straftaten im Zuständigkeitsbereich der EZV.
4.5.3 Eine mit
Art. 101 Abs. 4 MWSTG inhaltlich weitgehend identische Regelung war bereits in Art. 89 Abs. 2 aMWSTG enthalten. Der Bundesrat begründete in seiner Stellungnahme vom 15. Januar 1997 zur Parlamentarischen Initiative Dettling ausführlich, weshalb er den Vorschlag der Parlamentarischen Initiative, das Asperationsprinzip ohne Einschränkungen im MWSTG zu verankern, verwarf und die schliesslich in Art. 89 Abs. 2 aMWSTG ins Gesetz aufgenommene Regelung vorschlug, welche der damals geltenden Bestimmung von Art. 77 Abs. 4 der Verordnung vom 22. Juni 1994 über die Mehrwertsteuer entsprach (vgl. dazu Stellungnahme des Bundesrates, a.a.O., BBl 1997 II 389 ff., 426 ff.). An der Regelung von Art. 89 Abs. 2 aMWSTG, welche das Asperationsprinzip für in Idealkonkurrenz begangene Straftaten im Zuständigkeitsbereich der EZV verankerte, hielt der Gesetzgeber angesichts des praktisch identischen Wortlauts von
Art. 101 Abs. 4 MWSTG folglich auch im neuen Mehrwertsteuergesetz fest.
4.5.4 Dem Sinn von
Art. 101 Abs. 4 MWSTG entsprechende Regelungen kennen auch das Zollgesetz vom 18. März 2005 (ZG; SR 631.0) sowie zahlreiche weitere verwaltungsstrafrechtliche Bestimmungen im Zuständigkeitsbereich der EZV (vgl. etwa Art. 42 des Bundesgesetzes vom 21. März 1969 über die Tabakbesteuerung [Tabaksteuergesetz, TStG; SR 641.31]; Art. 36 Abs. 4 des Automobilsteuergesetzes vom 21. Juni 1996 [AStG; SR 641.51]; Art. 38 Abs. 4 des Mineralölsteuergesetzes vom 21. Juni 1996 [MinöStG; SR 641.61]). Erfüllt eine Handlung gleichzeitig den Tatbestand einer Zollwiderhandlung und anderer von der EZV zu verfolgender Widerhandlungen, so wird gemäss
Art. 126 Abs. 2 ZG die für die
BGE 148 IV 96 S. 108
schwerste Widerhandlung verwirkte Strafe verhängt; diese kann angemessen erhöht werden (vgl. auch
Art. 126 Abs. 1 ZG, welcher das Zusammentreffen von Straftatbeständen des Zollgesetzes regelt). Das Zollgesetz beschränkt das Asperationsprinzip in
Art. 126 Abs. 1 und 2 ZG ("erfüllt eine Handlung") ebenfalls auf die Idealkonkurrenz. Es erklärt
Art. 9 VStrR zwar nicht explizit für nicht anwendbar. Indes führt
Art. 126 ZG nach der Lehre im Anwendungsbereich der Bestimmung faktisch zu einem Ausschluss von
Art. 9 VStrR (OLIVER BRAND, in: Zollgesetz [ZG], Kocher/Clavadetscher [Hrsg.], 2009, N. 2 f. zu
Art. 126 ZG).
Der Hauptanwendungsfall von Art. 126 Abs. 2 ZG ist die Konkurrenz mit dem MWSTG (BRAND, a.a.O., N. 3 zu Art. 126 ZG). Art. 126 Abs. 2 ZG regelt daher die gleiche Frage wie Art. 101 Abs. 4 MWSTG, nämlich den Fall, dass eine Handlung im Zuständigkeitsbereich der EZV sowohl einen Straftatbestand des MWSTG als auch des Zollgesetzes erfüllt. Hätte der Gesetzgeber im neuen MWSTG eine Ausdehnung des Asperationsprinzips im Zuständigkeitsbereich der EZV auf in Realkonkurrenz begangene Straftaten beabsichtigt, hätte er daher auch Art. 126 Abs. 2 ZG sowie weitere Bundesgesetze einer Revision unterziehen müssen, was er nicht tat.
4.5.5 Die in
Art. 101 Abs. 4 MWSTG statuierte Begrenzung des Asperationsprinzips auf die Idealkonkurrenz erscheint zudem insofern konsequent, als
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG am Grundsatz, wonach sich die Maximalbusse am erzielten Steuervorteil orientiert, trotz der beabsichtigten Loslösung des Steuerveranlagungs- vom Steuerstrafverfahren festhält. Dieser Grundsatz liegt auch anderen Steuer- bzw. Abgabeerlassen zugrunde (vgl. etwa Art. 175 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer [DBG; SR 642.11];
Art. 118 Abs. 1 ZG für die Zollhinterziehung). Eine strikte Anwendung des Asperationsprinzips auf in Realkonkurrenz begangene Mehrwertsteuerhinterziehungen - wie sie die Vorinstanz vertritt - hätte daher zur Folge, dass der Täter, der gleichzeitig eine grössere Menge einer Ware ohne Deklaration der Mehrwertsteuer in die Schweiz einführt, eine höhere Busse bis zum Doppelten des gesamten Steuervorteils riskiert (vgl.
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG), als wenn er die gleiche Ware unterteilt in mehrere Teillieferungen an mehreren Tagen und/oder Orten ohne Deklaration eingeführt hätte. Dies entsprach angesichts des klaren Wortlauts von
Art. 101 Abs. 4 MWSTG ("eine Handlung") kaum dem gesetzgeberischen Willen.
BGE 148 IV 96 S. 109
4.6 Der Beschwerdegegner 1 beruft sich auf einen Literaturbeitrag von BISCHOF, auf welchen die Arbeiten in der nationalrätlichen Kommission zurückgehen. Der Autor vertritt die Auffassung, das Asperationsprinzip gelte im Mehrwertsteuerstrafrecht uneingeschränkt, da
Art. 101 Abs. 1 MWSTG Art. 9 VStrR für nicht anwendbar erkläre. Sobald ein Tatbestand von einem Strafrichter beurteilt werde, in dessen umfassender Kompetenz auch die Beurteilung anderer Strafnormen stehe, mache die Regelung von
Art. 9 VStrR - welche das Aussprechen von separaten Bussen für jede einzelne Widerhandlung verlange - keinen Sinn. Würden aber die Bussen von Verwaltungsbehörden ausgesprochen, müsse das Asperationsprinzip auf diejenigen Bereiche des Strafrechts, welche in der Zuständigkeit der jeweiligen Strafbehörde lägen, zugeschnitten werden (BISCHOF, a.a.O., S. 496 f.).
Dem ist entgegenzuhalten, dass sich dies in dieser Absolutheit nicht aus dem mit Hilfe der Bundesverwaltung überarbeiteten Vorschlag (vgl. dazu oben E. 4.4.2) ergibt, wie er schliesslich ins Gesetz aufgenommen wurde. Entscheidend ist vorliegend der Gesetzeswortlaut, der durch die historische, systematische und teleologische Gesetzesauslegung bestätigt wird (vgl. oben E. 4.5.3-4.5.5). Für die ESTV sieht das neue Mehrwertsteuergesetz in
Art. 101 Abs. 5 MWSTG tatsächlich eine substanzielle Ausweitung des Asperationsprinzips vor. Im Zuständigkeitsbereich der EZV beschränkt
Art. 101 Abs. 4 MWSTG die Anwendung des Asperationsprinzips bzw. den Ausschluss von
Art. 9 VStrR jedoch ausdrücklich auf in Idealkonkurrenz ("eine Handlung") begangene Straftaten. Dies muss auch im gerichtlichen Verfahren gelten, wenn die beschuldigte Person nach einer Strafverfügung der EZV die gerichtliche Beurteilung verlangte (vgl.
Art. 72 Abs. 1 und 2 VStrR). Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Strafzumessungsregeln über alle Instanzen hinweg identisch sein müssen, ansonsten der Weiterzug der Strafverfügung der EZV bzw. der Antrag auf gerichtliche Beurteilung zwecks einer milderen Bestrafung in zahlreichen Konstellationen lediglich durch den Wechsel vom Kumulations- zum Asperationsprinzip bedingt wäre (vgl. dazu ACHERMANN, a.a.O., N. 16 f. zu
Art. 9 VStrR). Zum anderen lässt sich nicht sagen, die Strafverfolgung der EZV im Sinne von
Art. 101 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 2 MWSTG ende mit der Strafverfügung, da die EZV im gerichtlichen Verfahren Parteistellung hat (
Art. 74 Abs. 1 VStrR) und gegen Gerichtsentscheide selbstständig die Rechtsmittel der StPO ergreifen kann (
Art. 80 VStrR).
BGE 148 IV 96 S. 110
4.7 Die Beschwerdeführerin 1 macht nach dem Gesagten zu Recht geltend, das Asperationsprinzip gelange im Mehrwertsteuerstrafrecht auf die Ausfällung von Bussen nur in den in
Art. 101 Abs. 4 und 5 MWSTG geregelten Fällen zur Anwendung. Vorliegend liegt weder ein Anwendungsfall von
Art. 101 Abs. 4 MWSTG noch von
Art. 101 Abs. 5 MWSTG vor. Die Strafverfolgung obliegt bei der Einfuhrsteuer der EZV (
Art. 103 Abs. 2 MWSTG), weshalb
Art. 101 Abs. 5 MWSTG nicht zur Anwendung gelangt.
Art. 101 Abs. 4 MWSTG sieht ein Abweichen vom Kumulationsprinzip und eine angemessene Straferhöhung wie dargelegt nur für die in Idealkonkurrenz begangenen weiteren Straftaten im Zuständigkeitsbereich der EZV vor. Für in Realkonkurrenz begangene Straftaten, d.h. durch Nichtanmeldung von Waren bei deren Einfuhr in die Schweiz zu unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. an unterschiedlichen Orten, gilt entgegen der Vorinstanz daher das in
Art. 9 VStrR verankerte Kumulationsprinzip.
Die Beschwerde der Beschwerdeführerin 1 ist folglich gutzuheissen und die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
4.8 Damit kann offenbleiben, nach welchen Grundsätzen die Busse im Rahmen von
Art. 101 Abs. 4 und 5 MWSTG zu bemessen ist. Hervorzuheben ist indes, dass sich die Grundsätze der Gesamtstrafenbildung von
Art. 49 Abs. 1 StGB nicht unbesehen auf das Steuerstrafrecht mit seinen Besonderheiten übertragen lassen. Das MWSTG kennt im Anwendungsbereich von
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG keinen abstrakten oberen Bussenrahmen, sondern lediglich eine Maximalbusse für den konkret zu beurteilenden Einzelfall, welche sich am Betrag der hinterzogenen Steuern orientiert (vgl.
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG). Die Beschwerdeführerin 1 weist in ihrer Eventualbegründung daher zutreffend darauf hin, dass der Bussenrahmen von
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG nicht mit dem "Höchstmass der angedrohten Strafe" im Sinne von
Art. 49 Abs. 1 Satz 2 StGB gleichgesetzt werden kann. Die Busse nach
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG ist nach dem klaren Gesetzeswortlaut um die Busse für die weiteren Straftaten im Sinne des Asperationsprinzips "angemessen" zu erhöhen. Angemessen bedeutet dabei entsprechend der ratio legis des Asperationsprinzips, welche in der Vermeidung der Kumulation verwirkter Einzelstrafen besteht, dass sich die Deliktsmehrheit nur unterproportional straferhöhend auswirken darf. Die Erhöhung muss daher geringer sein als die
BGE 148 IV 96 S. 111
Busse, welche bei isolierter Beurteilung der zusätzlichen Straftat ausgesprochen worden wäre (vgl.
BGE 144 IV 217 E. 3.5.2; ACKERMANN, a.a.O., N. 118c zu
Art. 49 StGB). Demgegenüber kennt
Art. 101 Abs. 4 StGB - gleich wie
Art. 126 Abs. 2 ZG - weder eine Pflicht im Sinne von
Art. 49 Abs. 1 Satz 2 StGB, die Gesamtbusse im Rahmen oder in Abhängigkeit von
Art. 97 Abs. 1 Satz 2 MWSTG (bzw. der Zollhinterziehungs- oder Zollgefährdungsbusse nach Art. 118 f. ZG) festzulegen, noch ein gesetzliches Höchstmass der Busse im Sinne von
Art. 49 Abs. 1 Satz 3 StGB (vgl. dazu auch ACHERMANN, a.a.O., N. 26 zu
Art. 9 VStrR).
Die Vorinstanz verkennt zudem, dass
BGE 136 IV 55 die Frage betrifft, ob bzw. wann der untere Strafrahmen bei verminderter Schuldfähigkeit unterschritten werden darf. Daraus kann nicht abgeleitet werden, die Strafe sei - ausserordentliche Umstände vorbehalten - auch bei Tatmehrheit im Rahmen von
Art. 49 Abs. 1 StGB in der Regel innerhalb des Strafrahmens für die schwerste Tat festzusetzen. Der erwähnte Bundesgerichtsentscheid bezieht sich nicht auf
Art. 49 StGB und äussert sich auch nicht zum Strafrahmen bei Tatmehrheit.