Urteilskopf
149 IV 342
34. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich gegen A. (Beschwerde in Strafsachen)
6B_1445/2021 vom 14. Juni 2023
Regeste
Art. 3 Abs. 2 JStG;
Art. 66a ff. StGB; Landesverweisung von Übergangsstraftätern.
Ein dem Erwachsenenstrafrecht unterstehendes Delikt eines jungen Straftäters kann eine Anlasstat für eine (nicht obligatorische) Landesverweisung darstellen, auch wenn dieser gleichzeitig für weitere Taten verurteilt wird, die er als Jugendlicher begangen hat (E. 2).
A. Die Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt warf A. mit Anklage vom 15. April 2020 diverse Delikte, teils mehrfach und zum Nachteil verschiedener Geschädigter, namentlich Angriff, Erpressung,
BGE 149 IV 342 S. 343
Nötigung und Drohung, Raufhandel, versuchte schwere Körperverletzung sowie Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittel- und Waffengesetz, vor.
B. Mit Urteil des Bezirksgerichts Zürich, Jugendgericht, vom 2. Juli 2020 wurde A. des Angriffs, der Nötigung, der versuchten Nötigung, des Raufhandels, der qualifizierten einfachen Körperverletzung, des mehrfachen Vergehens und der Übertretung gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie der Widerhandlung gegen das Waffengesetz schuldig erklärt, wobei er vom Vorwurf des Angriffs zum Nachteil von B. und C., der Erpressung zum Nachteil von D., der mehrfachen versuchten schweren Körperverletzung sowie der Nötigung zum Nachteil von E., F. und G. freigesprochen wurde. A. wurde zu einer Freiheitsstrafe von 16 Monaten sowie einer Busse von Fr. 100.- verurteilt. Des Weiteren wurde eine Unterbringung und eine ambulante Behandlung im Sinne des Jugendstrafgesetzes angeordnet.
C. Soweit angefochten, bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich auf Berufung der Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich und Anschlussberufung von A. hin den erstinstanzlichen Schuldspruch wegen qualifizierter einfacher Körperverletzung zum Nachteil von H. Es verurteilte A. zu einer Freiheitsstrafe von 25 Monaten sowie einer Busse von Fr. 100.-. Auf die Anordnung einer Unterbringung sowie einer Landesverweisung wurde verzichtet.
D.a Die Oberjugendanwaltschaft gelangt mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht und beantragt, Ziff. 5 und Ziff. 7 des angefochtenen Urteils seien aufzuheben und zur materiellen Prüfung der Voraussetzungen einer Landesverweisung im Sinn von
Art. 66abis StGB sowie zur neuen Kostenverlegung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D.b Das Obergericht verzichtet auf eine Stellungnahme. A. beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit auf diese einzutreten sei. Zudem stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von
Art. 66a ff. StGB i.V.m. Art. 3 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003
BGE 149 IV 342 S. 344
über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1). Sie macht geltend, die erwachsenenstrafrechtlichen Vorschriften über die Landesverweisung seien auch auf sogenannte Übergangstäter anwendbar. Zusammengefasst bringt sie vor,
Art. 3 Abs. 2 JStG dritter Satz verweise vollumfänglich auf das Massnahmenrecht des StGB, weshalb ein Verweis via
Art. 1 Abs. 2 JStG nicht notwendig sei. Eine andere Auslegung, wonach die Landesverweisung bei Übergangstätern nicht anwendbar wäre, würde zum stossenden Ergebnis führen, dass ein Straftäter, der im Alter von über 18 Jahren ein Katalogdelikt im Sinn von
Art. 66a Abs. 1 StGB begehe, hinsichtlich einer drohenden Landesverweisung bevorzugt behandelt würde, sofern er bereits früher als Jugendlicher strafrechtlich in Erscheinung getreten und deshalb ein Jugendstrafverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei, bevor die Erwachsenendelikte bekannt geworden seien. Selbst wenn man davon ausgehe, dass es sich bei
Art. 3 Abs. 2 JStG um eine ungenügende Verweisgrundlage handle, so sei zu bemerken, dass
Art. 1 Abs. 2 JStG zwar grundsätzlich abschliessend sei, es jedoch nicht ausschliesse, dass auch Bestimmungen des StGB auf jugendliche Straftäter angewandt werden dürften, welche an dieser Stelle nicht ausdrücklich erwähnt würden. Auch aus der fehlenden gesetzgeberischen Anpassung des JStG liesse sich kein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes ableiten. Im Übrigen stehe der Umstand, dass die Landesverweisung primär eine Sicherungsmassnahme darstelle, der kein Resozialisierungsgedanke zugrunde liege, der Anwendbarkeit der Landesverweisung bei Übergangstätern ebenso wenig entgegen.
2.2 Die Vorinstanz beurteilte die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Straftat zum Nachteil von H. als qualifizierte einfache Körperverletzung. In Bezug hierauf hielt sie fest, dass bei Übergangstätern gemäss
Art. 3 Abs. 2 JStG die Bestimmungen über die Landesverweisung nicht Anwendung finden würden. Hätte der Gesetzgeber dies vorsehen wollen, so wäre zu erwarten gewesen, dass eine explizite Regelung oder zumindest ein einschlägiger Verweis (etwa analog
Art. 1 Abs. 2 JStG) in das JStG Eingang gefunden hätte. Bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative sei - anders als beim Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (MStG; SR 321.0) - auf eine Revision des JStG verzichtet worden. In der abschliessenden Aufzählung von
Art. 1 Abs. 2 JStG seien die Bestimmungen zur Landesverweisung nicht aufgeführt. Hinzu komme, dass
Art. 3 Abs. 2 JStG lediglich hinsichtlich der Strafen für nach Vollendung
BGE 149 IV 342 S. 345
des 18. Altersjahres begangene Taten auf das StGB verweise. Um eine Strafe im Rechtssinne handle es sich bei der Landesverweisung nicht. Im Weiteren sei zu beachten, dass gemäss
Art. 3 Abs. 2 JStG bei einem Übergangstäter jene Massnahme aus dem StGB oder dem JStG anzuordnen sei, die nach den Umständen "erforderlich" sei. Bezweckt werden solle, dass jeweils diejenige Massnahme zur Anwendung komme, welche die beste erzieherische bzw. bessernde Wirkung verspreche; die Landesverweisung als primäre Sicherungsmassnahme, der kein Resozialisierungsgedanke zugrunde liege, könne keine solche Wirkung entfalten. Es mangle letztlich an einer genügenden gesetzlichen Grundlage, welche die Anwendung der Bestimmungen zur Landesverweisung bei Übergangstätern zulassen würde, weshalb die von der Beschwerdeführerin beantragte Anordnung der Landesverweisung - ob gestützt auf
Art. 66a StGB oder auf
Art. 66abis StGB - nicht möglich sei.
2.3.1 Das Gericht kann einen - volljährigen - Ausländer für 3-15 Jahre des Landes verweisen, wenn er wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das nicht von Artikel 66a StGB erfasst wird, zu einer Strafe verurteilt oder gegen ihn eine Massnahme nach den Artikeln 59-61 oder 64 StGB angeordnet wird (
Art. 66abis StGB).
2.3.2 Das JStG regelt die Sanktionen, welche gegenüber Personen zur Anwendung kommen, die vor Vollendung des 18. Altersjahres eine nach dem StGB oder einem andern Bundesgesetz mit Strafe bedrohte Tat begangen haben (
Art. 1 Abs. 1 JStG). Ergänzend zu diesem Gesetz sind die in
Art. 1 Abs. 2 JStG aufgezählten Bestimmungen des StGB sinngemäss anwendbar.
Das JStG gilt für Personen, die zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begangen haben (
Art. 3 Abs. 1 JStG). Sind gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen, so ist hinsichtlich der Strafen nur das StGB anwendbar. Dies gilt auch für die Zusatzstrafe (
Art. 49 Abs. 2 StGB), die für eine Tat auszusprechen ist, welche vor Vollendung des 18. Altersjahres begangen wurde. Bedarf der Täter einer Massnahme, so ist diejenige Massnahme nach dem StGB oder nach diesem Gesetz anzuordnen, die nach den Umständen erforderlich ist. Wurde ein Verfahren gegen Jugendliche eingeleitet, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat bekannt wurde, so bleibt dieses Verfahren anwendbar.
BGE 149 IV 342 S. 346
Andernfalls ist das Verfahren gegen Erwachsene anwendbar (
Art. 3 Abs. 2 JStG).
2.4.1 Wie das Bundesgericht jüngst entschieden hat, kann das dem Erwachsenenstrafrecht unterstehende Delikt eines jungen Straftäters eine Anlasstat für eine obligatorische Landesverweisung darstellen, auch wenn dieser für weitere Taten verurteilt wird, die er (teilweise) als Jugendlicher begangen hat. Aus dem Urteil 6B_1037/2021 vom 3. März 2022 geht hervor, dass Massnahmen im Sinn von
Art. 3 Abs. 2 JStG solche nach
Art. 12 ff. JStG und
Art. 59 ff. StGB sind; die Landesverweisung fällt nicht darunter (vgl. ZURBRÜGG/HRUSCHKA, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 66 zu Vor
Art. 66a-66d StGB). Das JStG enthält keine Rechtsgrundlage für eine Landesverweisung (vgl.
Art. 1 Abs. 2 JStG). Die Landesverweisung kommt also nur bei Verurteilungen nach dem Erwachsenenstrafrecht zum Tragen (vgl. Botschaft vom 26. Juni 2013 zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes [Umsetzung von
Art. 121 Abs. 3-6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer], BBl 2013 5975, 6013 f.; zum Ganzen: zit. Urteil 6B_1037/2021 E. 6.3.1 mit den genannten Hinweisen). An dieser Auffassung ist - auch im Hinblick auf die nicht obligatorische Landesverweisung gemäss
Art. 66abis StGB - festzuhalten.
2.4.2.1 Die Landesverweisung ist im StGB systematisch unter dem Zweiten Kapitel "Massnahmen" im Zweiten Abschnitt "Andere Massnahmen" eingeordnet (vgl. Art. 66a ff.). Sie ist damit als Institut des Strafrechts und nach der Intention des Gesetzgebers ("Ausschaffungsinitiative") primär als sichernde Massnahme zu verstehen. Somit steht weiterhin nicht der Straf- sondern vielmehr der Massnahmecharakter im Vordergrund (
BGE 146 IV 311 E. 3.7 mit Hinweisen; Urteile 6B_487/2021 vom 3. Februar 2023 E. 5.7.6; 6B_1024/2021 vom 2. Juni 2022 E. 5.2.1; 6B_149/2021 vom 3. Februar 2022 E. 2.7.1).
2.4.2.2 Aus der Botschaft des Bundesrates zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative geht hervor, dass auf die Landesverweisung für minderjährige ausländische Straftäter verzichtet werden sollte (vgl. BBI 2013 6013 f.). Indes sind weder der Botschaft noch den parlamentarischen Beratungen Äusserungen zur Frage zu entnehmen, ob dies auch für Übergangstäter im Sinne von
Art. 3 Abs. 2 JStG BGE 149 IV 342 S. 347
gelten sollte. In der Literatur wird die Meinung vertreten, wenn gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen sind, könne die Landesverweisung (nur) angeordnet werden, wenn die Anlasstat nach Vollendung des 18. Altersjahres begangen worden sei (vgl. bereits ZURBRÜGG/HRUSCHKA, a.a.O., N. 66 zu Vor
Art. 66a-66d StGB; LUZIA VETTERLI, in: StGB, Annotierter Kommentar, Damian K. Graf [Hrsg.], 2020, N. 3 zu
Art. 66a StGB).
2.4.2.3 Der Vorentwurf JStG (1993) und der Entwurf des Bundesrates (1998) hatten für sogenannte "Übergangstäter" sanktionenrechtlich die ausschliessliche Anwendbarkeit des StGB vorgesehen (vgl. Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches [Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes] und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 II 1979, 2401). Diesen Entwürfen erwuchs breite Kritik in der jugendstrafrechtlichen Doktrin, weil sie den Anwendungsbereich des Jugendstrafrechtes erheblich eingeschränkt und in vielen Fällen aufwändige Bemühungen der Jugendstrafbehörden (etwa im Rahmen vorsorglicher stationärer Platzierungen) unterlaufen hätten (
BGE 135 IV 206 E. 5.2 mit Hinweisen).
Sinn und Zweck der schliesslich vom Gesetzgeber beschlossenen Regelung von
Art. 3 Abs. 2 JStG ist es, in den sogenannt "gemischten Fällen", bei denen gleichzeitig Straftaten zu verfolgen sind, die der Beschuldigte vor und nach Vollendung seines 18. Altersjahres verübt haben soll, eine sachfragenorientierte, differenzierte und verfahrenseffiziente Lösung anzustreben, anstatt pauschal und nach einem starren Kriterium entweder das Sanktionsrecht des StGB bzw. das Verfahrensrecht für Erwachsene oder das JStG bzw. das Jugendstrafprozessrecht für anwendbar zu erklären. Ein Jugendstrafverfahren, das vor Bekanntwerden von Straftaten eingeleitet wurde, die nach Vollendung des 18. Altersjahres verübt wurden, bleibt zwar grundsätzlich anwendbar. Für die Festlegung von Strafen (auch von Zusatzstrafen für Straftaten, die vor der Volljährigkeit verübt wurden) ist jedoch ausschliesslich das StGB massgeblich. Eine
Ausnahme von der ausschliesslichen Anwendbarkeit des StGB greift Platz, wenn der Täter einer Massnahme bedarf. Diese differenzierte Regelung in "gemischten Fällen" trägt dem Umstand, dass der bei der Verfolgung bzw. Beurteilung volljährige Täter bei den ersten Straftaten noch minderjährig war, in zweifacher Hinsicht Rechnung: Zum
BGE 149 IV 342 S. 348
einen bleibt (trotz Anwendung des StGB bei der Festlegung von Strafen oder StGB-Massnahmen) das Jugendstrafprozessrecht anwendbar. Zum anderen können bei Übergangstätern auch noch Massnahmen nach JStG angeordnet werden, wenn diese sich sachlich aufdrängen (zum Ganzen:
BGE 135 IV 206 E. 5.3 mit Hinweisen [Hervorhebung hinzugefügt]).
2.4.2.4 Satz 3 von
Art. 3 Abs. 2 JStG im Besonderen sieht vor, dass bei Übergangstätern sowohl die Massnahmen nach dem JStG wie auch jene nach dem StGB angeordnet werden können, wie sie "nach den Umständen erforderlich" sind. Damit wird ermöglicht, bei Übergangstätern bzw. in "gemischten Fällen" die im Einzelfall zweckmässigste Massnahme auszusprechen. Massgeblich sind in erster Linie die persönlichen Verhältnisse des Täters und das Schutzbedürfnis der Öffentlichkeit (Urteil 6B_681/2010 vom 7. Oktober 2010 E. 3.1 mit Hinweis auf CHRISTOF RIEDO, Wenn aus Kälbern Rinder werden, AJP 2010 S. 182 Fn. 42 und GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 16 zu
Art. 3 JStG; vgl. auch RIEDO, Jugendstrafrecht und Jugendstrafprozessrecht, 2013, S. 87 Rz. 518). Im Schrifttum wird auch betont, dass bei diesem Entscheid vor allem auf die Reife und den Entwicklungsstand des jungen Täters sowie auf den Zeitbedarf der Massnahme und die realen Vollzugsmöglichkeiten abzustellen sei (vgl. PETER AEBERSOLD, Schweizerisches Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2017, S. 111, ferner S. 79 Rz. 247; ebenso NICOLAS QUELOZ, in: Droit pénal et justice des mineurs en Suisse, Nicolas Queloz [Hrsg.], 2018,N. 39 zu
Art. 3 JStG). Diese Lösung ermögliche es einerseits, eine bereits vor dem 18. Altersjahr eingeleitete, vorsorglich angeordnete jugendstrafrechtliche Schutzmassnahme trotz erneuter Delikte nach dem 18. Altersjahr fortzusetzen, wenn es der bisherige Verlauf als sinnvoll erscheinen lasse. Andererseits, wenn die Fortsetzung nicht zweckmässig sei, könne eine erwachsenenstrafrechtliche Massnahme angeordnet werden (HUG/SCHLÄFLI/VALÄR, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 16 zu
Art. 3 JStG; vgl. auch GEIGER/REDONDO/TIRELLI, in: DPMin, Droit pénal des mineurs, 2019, N. 18 zu
Art. 3 JStG). Sinn dieser Norm könne demnach nur sein, die im konkreten Fall erfolgversprechendste erzieherische bzw. bessernde Massnahme, also eine Schutzmassnahme im Sinn von
Art. 12 ff. JStG oder eine therapeutische Massnahme im Sinn von
Art. 59 ff. StGB anzuordnen (ZURBRÜGG/HRUSCHKA, a.a.O., N. 66 zu Vor
Art. 66a- 66d StGB; vgl. auch AEBERSOLD, a.a.O., S. 111; MICHEL DUPUIS UND
BGE 149 IV 342 S. 349
ANDERE, Code pénal I, Partie générale - art. 1-110, DPMin, 2008, N. 33 ff. zu
Art. 3 JStG; NICOLE HOLDEREGGER, Die Schutzmassnahmen des Jugendstrafgesetzes unter besonderer Berücksichtigung der Praxis in den Kantonen Schaffhausen und Zürich, 2009, S. 71 Rz. 121; MARCEL RIESEN, Das neue Jugendstrafgesetz [JStG], ZStrR 123/2005S. 21; BAPTISTE VIREDAZ, Le système de sanctions suisse pour mineurs et jeunes adultes, in: Junge Menschen und Kriminalität - Les jeunes et la criminalité, André Kuhn und andere [Hrsg.], 2010, S. 111;QUELOZ, Présentation de la nouvelle loi fédérale régissant la condition pénale des mineurs, in: Das neue Jugendstrafrecht - Herausforderung und Chance!, 2004, S. 11 f.). Zieht man die allgemeinen Bestimmungen zu den Schutzmassnahmen heran, fällt denn auch auf, dass - ähnlich wie der Wortlaut von
Art. 3 Abs. 2 Satz 3 JStG - die urteilende Behörde
die nach den Umständen erforderlichen Schutzmassnahmen anzuordnen hat, wenn der jugendliche Straftäter einer besonderen erzieherischen Betreuung oder therapeutischen Behandlung
bedarf (vgl.
Art. 10 Abs. 1 JStG). Ebenso vergleichbar setzen die therapeutischen Massnahmen nach dem Erwachsenenstrafrecht am Bedürfnis bzw. an der Notwendigkeit (und den Erfolgsaussichten) einer Behandlung des Täters an (vgl. im Grundsatz
Art. 56 StGB). Demgegenüber geht es bei der Landesverweisung gemäss
Art. 66a ff. StGB als "andere Massnahme" nicht um die zukünftige Behebung des mit der Tat in einem inneren Zusammenhang stehenden Gefahrenzustands des (ausländischen) Täters. Sodann erschöpft sich ihr Sicherungszweck letztlich darin, dass der Verurteilte während der Vollzugsdauer der Landesverweisung keine Möglichkeit hat, auf dem Gebiet der Schweiz weitere Straftaten zu begehen (vgl. auch ZURBRÜGG/HRUSCHKA, a.a.O., N. 53 ff. zu Vor
Art. 66a-66d StGB).
2.4.2.5 Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Bestimmung von
Art. 3 Abs. 2 JStG im Rahmen der kürzlich beschlossenen StPO-Revision wie folgt angepasst wurde (Datum des Inkrafttretens noch nicht festgelegt): "Sind gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen und wurde die vor Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat erst bekannt, nachdem das Verfahren wegen einer nach Vollendung des 18. Altersjahres begangenen Tat eingeleitet wurde, so ist hinsichtlich der Strafen und Massnahmen nur das StGB anwendbar; das Verfahren richtet sich nach der Strafprozessordnung" (vgl. BBl 2022 1560 S. 18). Die Änderung geht zurück auf die in der Rechtsprechung und
BGE 149 IV 342 S. 350
Literatur geäusserte Kritik insbesondere an der verfahrensrechtlichen Regelung in Satz 4 und 5 der bestehenden Bestimmung (vgl. Botschaft vom 28. August 2019 zur Änderung der Strafprozessordnung [Umsetzung der Motion 14.3383, Kommission für Rechtsfragen des Ständerats, Anpassung der Strafprozessordnung], BBl 2019 6697, 6773 f. mit Hinweisen). Demnach sollen Straftaten von Übergangstätern neu formell getrennt beurteilt und sanktioniert werden. Wird gegenüber einem Jugendlichen ein Strafverfahren wegen einer Straftat vor Vollendung des 18. Altersjahres eröffnet, so soll diese (grundsätzlich) im Jugendstrafverfahren beurteilt und gemäss JStG sanktioniert werden. Begeht dieser Jugendliche während des hängigen Jugendstrafverfahrens, aber nachdem er das 18. Altersjahr vollendet hat, eine weitere Straftat, so soll diese Straftat neu in einem erwachsenenstrafrechtlichen Verfahren gesondert beurteilt und ausschliesslich gemäss StGB sanktioniert werden (vgl. auch HUG/SCHLÄFLI/VALÄR, a.a.O., N. 21 mit Aktualisierung vom 31. Oktober 2022 zu
Art. 3 JStG). Diese separate Verfahrensführung und Sanktionierung rechtfertigt sich nach der Botschaft, weil so jede Behörde nur die ihr vertrauten Regelungen anwenden muss. Einzig im folgenden Fall soll keine Trennung stattfinden: Wurde gegen einen jungen Erwachsenen ein Strafverfahren wegen einer Straftat, die er nach Vollendung des 18. Altersjahres begangen hat, eröffnet und wird dann erst bekannt, dass er schon vor Vollendung des 18. Altersjahres delinquiert hat, so wird auch diese Straftat - wie im geltenden Recht - im erwachsenenstrafrechtlichen Verfahren beurteilt. In Bezug auf die Strafen und insbesondere die Massnahmen soll neu nur noch das StGB zur Anwendung kommen. Nach der Botschaft wäre die Anordnung einer jugendstrafrechtlichen Massnahme gegenüber einem jungen Erwachsenen systemfremd und ist deshalb nicht angezeigt (zum Ganzen: BBl 2019 6774).
Auch daraus erhellt, dass der Gesetzgeber mit der (noch) geltenden Bestimmung von
Art. 3 Abs. 2 JStG für massnahmebedürftige Übergangstäter die Wahl zwischen Schutzmassnahme gemäss
Art. 12 ff. JStG und therapeutischer Massnahme gemäss
Art. 59 ff. StGB vorsah und gleichzeitig die (obligatorische oder nicht obligatorische) Landesverweisung für nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Anlasstaten offensichtlich nicht ausschliessen wollte. Letztere werden nach dem Erwachsenenstrafrecht beurteilt, womit
Art. 66a ff. StGB Anwendung findet. Entsprechend ist unerheblich, dass in
Art. 1 Abs. 2 JStG die Bestimmungen über die Landesverweisung
BGE 149 IV 342 S. 351
nicht aufgeführt sind. Am Ganzen ändert auch nichts, dass das Jugendstrafverfahren anwendbar bleiben soll, wenn dieses eingeleitet wurde, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat bekannt wurde (Sätze 4-5 von
Art. 3 Abs. 2 JStG), zielte der Gesetzgeber mit dieser Lösung doch darauf ab, im Interesse der Verfahrensökonomie unnötige Prozessleerläufe zu verhindern (
BGE 135 IV 206 E. 5.3). Schliesslich kann es nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen sein, einen jungen Straftäter, der im Alter von über 18 Jahren eine Anlasstat begeht, hinsichtlich einer allfälligen Landesverweisung bevorzugt zu behandeln, nur bzw. gerade weil er zuvor als Jugendlicher bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und deshalb (gleichzeitig) eine vor und eine nach Vollendung seines 18. Altersjahres begangene Tat beurteilt werden.
2.5 Im Ergebnis verletzt die Vorinstanz Bundesrecht, wenn sie für die vom Beschwerdegegner nach Vollendung dessen 18. Altersjahres begangene qualifizierte einfache Körperverletzung eine nicht obligatorische Landesverweisung
a priori ausschliesst. Die Vorinstanz wird zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen gemäss
Art. 66abis StGB erfüllt sind. Im Rahmen der Interessenabwägung wird sie auch die Rechtsprechung zur obligatorischen Landesverweisung heranzuziehen haben, wonach die unter das JStG fallenden - und somit nicht als Anlasstaten zählenden - strafbaren Handlungen bei der Interessenabwägung nach
Art. 66a Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sind. Das Gericht darf die Rückfallgefahr auch unter Einschluss von nicht als Anlasstaten geltenden Straftaten beurteilen. Das Rückfallrisiko, das in einer wiederholten Delinquenz zum Ausdruck kommt, ist zentrales Element des öffentlichen Interesses im Sinn von
Art. 66a Abs. 2 StGB (zum Ganzen: Urteil 6B_1037/2021 vom 3. März 2022 E. 6.3.2 mit Hinweis).