Urteilskopf
149 IV 50
5. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden (Beschwerde in Strafsachen)
6B_222/2022 vom 18. Januar 2023
Regeste
Art. 355 und 356 StPO; Einsprache gegen einen Strafbefehl, Rückzug der Einsprache.
Die beschuldigte Person kann die Einsprache nur zurückziehen, wenn die Staatsanwaltschaft nach Abnahme der Beweise am ursprünglichen Strafbefehl festhält. Die Verfügungsmacht über die Einsprache ist der beschuldigten Person bis zum Entscheid der Staatsanwaltschaft über den Fortgang des Verfahrens entzogen (E. 1.2).
A. A. wurde am 25. Mai 2019 auf der U.strasse in V. im Bereich einer Baustelle mit seinem Pkw von einer Radarkontrolle erfasst. Die gemessene Geschwindigkeit nach Abzug der Toleranz betrug 89 km/h, die zulässige Höchstgeschwindigkeit 40 km/h, die Geschwindigkeitsüberschreitung somit 49 km/h.
B. Mit Strafbefehl vom 12. Juni 2019 verurteilte die Staatsanwaltschaft Nidwalden A. wegen vorsätzlicher grober Verletzung der Verkehrsregeln nach
Art. 90 Abs. 2 SVG zu 180 Tagessätzen à Fr. 70.- Geldstrafe bedingt und Fr. 1'000.- Busse. Dagegen erhob A. am 19. Juni 2019 Einsprache, in deren Rahmen er die Messgenauigkeit des Radargeräts in Frage stellte, sodass die Staatsanwaltschaft ein Gutachten hierzu veranlasste. Nachdem dieses ergeben hatte, dass die Messung gültig war und die Geschwindigkeitsüberschreitung mindestens 50 km/h betragen hat, teilte die Staatsanwaltschaft A. am 18. Dezember 2019 mit, dass sie das Verfahren wegen vorsätzlicher besonders krasser Missachtung der signalisierten
BGE 149 IV 50 S. 51
Höchstgeschwindigkeit im Sinne von
Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG weiterführe. Am 9. Juli 2020 erhob sie, trotz Rückzugs der Einsprache durch den Beschuldigten vom 10. Januar 2020, entsprechend Anklage.
C. Mit Urteil vom 23. Februar 2021 erklärte das Kantonsgericht Nidwalden A. der vorsätzlichen qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung durch besonders krasse Missachtung der signalisierten Höchstgeschwindigkeit im Sinne von
Art. 90 Abs. 3 und 4 lit. b SVG für schuldig und sanktionierte ihn mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten. Die dagegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Nidwalden am 16. September 2021 im schriftlichen Verfahren ab.
D. A. führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, auf die Anklage sei nicht einzutreten und das Verfahren sei abzuschreiben. Eventualiter sei er freizusprechen. Subeventualiter sei die Sache zu neuer Beurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wurde von der Präsidentin der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts mit Verfügung vom 17. Februar 2022 abgewiesen.
Das Obergericht des Kantons Nidwalden verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft Nidwalden beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer rügt, auf die Anklage hätte nicht eingetreten werden dürfen, da er die Einsprache zurückgezogen habe und der Strafbefehl daher rechtskräftig geworden sei.
1.1.1 Hat die beschuldigte Person im Vorverfahren den Sachverhalt eingestanden oder ist dieser anderweitig ausreichend geklärt, so erlässt die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl, wenn sie, unter Einrechnung einer allfällig zu widerrufenden bedingten Strafe oder bedingten Entlassung, eine Busse oder eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen für ausreichend hält (
Art. 352 Abs. 1 lit. a und b StPO). Nach
Art. 353 Abs. 1 StPO enthält der Strafbefehl unter anderem den Sachverhalt, welcher der beschuldigten Person zur Last gelegt wird (lit. c), die dadurch erfüllten Straftatbestände (lit. d) und
BGE 149 IV 50 S. 52
die Sanktion (lit. e). Die beschuldigte Person kann gegen den Strafbefehl innert 10 Tagen schriftlich Einsprache erheben (
Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO). Sie muss ihre Einsprache nicht begründen (
Art. 354 Abs. 2 StPO). Ohne gültige Einsprache wird der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil (
Art. 354 Abs. 3 StPO).
1.1.2 Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind (
Art. 355 Abs. 1 StPO). Nach Abnahme der Beweise entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob sie: am Strafbefehl festhält; das Verfahren einstellt; einen neuen Strafbefehl erlässt oder Anklage beim erstinstanzlichen Gericht erhebt (
Art. 355 Abs. 3 lit. a-d StPO). Entschliesst sich die Staatsanwaltschaft am Strafbefehl festzuhalten, hat das erstinstanzliche Gericht eine Hauptverhandlung durchzuführen (
Art. 356 Abs. 1 und 2 StPO). Die Einsprache kann bis zum Abschluss der Parteivorträge zurückgezogen werden (
Art. 356 Abs. 3 StPO).
Nach Abnahme der Beweise geht die Staatsanwaltschaft nach
Art. 355 Abs. 3 lit. c oder d StPO (Erlass eines neuen Strafbefehls oder Anklageerhebung beim erstinstanzlichen Gericht) vor, wenn sich ihr für die vom angefochtenen Strafbefehl erfassten Delikte aufgrund einer geänderten Sach- und/oder Rechtslage ein anderes Strafmass oder andere Sanktionen aufdrängen; wenn sie die vom angefochtenen Strafbefehl erfassten Sachverhalte nachträglich rechtlich anders qualifiziert oder wenn neue Straftaten bekannt werden. In all diesen Fällen ist die Staatsanwaltschaft nicht an ihren ursprünglichen Strafbefehl gebunden und gilt das Verbot der reformatio in peius nicht (
BGE 145 IV 438 E. 1.3.2; Urteil 6B_703/2021 vom 22. Juni 2022 E. 4.3.2). Die Staatsanwaltschaft hat je nachdem, ob die neuen Gegebenheiten noch strafbefehlstauglich sind oder nicht, einen neuen Strafbefehl zu erlassen oder sonst nach
Art. 324 ff. StPO eine selbständige Anklage beim erstinstanzlichen Gericht zu erheben. Für neue Delikte ist eine Untersuchung im Sinne von
Art. 309 StPO zu eröffnen. In Bezug auf diese neuen Delikte können danach verschiedene Besonderheiten von
Art. 355 Abs. 2 und Art. 356 StPO nicht mehr zur Anwendung gelangen. Namentlich wird der Strafbefehl für die neuen Delikte nicht zur Anklageschrift und die Verfahren bleiben von einem Rückzug der Einsprache nicht berührt (FRANZ RIKLIN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 4 f. zu Art. 355 und N. 4 zu
Art. 356 StPO).
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1.1.3 Der Grundsatz "ne bis in idem" ist in
Art. 11 Abs. 1 StPO geregelt. Er ist auch in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK (SR 0.101.07) sowie in
Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II (SR 0.103.2) verankert und lässt sich nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung direkt aus der Bundesverfassung ableiten (
BGE 137 I 363 E. 2.1 mit Hinweisen). Demnach darf, wer in der Schweiz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, wegen der gleichen Straftat nicht erneut verfolgt werden. Tatidentität liegt vor, wenn dem ersten und dem zweiten Strafverfahren identische oder im Wesentlichen gleiche Tatsachen zugrunde liegen. Auf die rechtliche Qualifikation dieser Tatsachen kommt es nicht an (vgl.
BGE 137 I 363 E. 2.2; Urteile 6B_1053/2017 / 6B_1096/2017 vom 17. Mai 2018 E. 4; 6B_453/2017 vom 16. März 2018 E. 1.2, nicht publ. in:
BGE 144 IV 172; 6B_503/2015 vom 24. Mai 2016 E. 1.1, nicht publ. in:
BGE 142 IV 276; je mit Hinweisen; zur Auslegung des Begriffs "
derselben Tat" durch den EuGH und den EGMR: Urteil 6B_482/2017 vom 17. Mai 2017 E. 4.2 mit Hinweisen). Das Verbot der doppelten Strafverfolgung stellt ein Verfahrenshindernis dar, das in jedem Verfahrensstadium von Amtes wegen zu berücksichtigen ist (
BGE 143 IV 104 E. 4.2; ausführlich zum Grundsatz "ne bis in idem": Urteil 6B_1053/2017 / 6B_1096/2017 vom 17. Mai 2018 E. 4; zum Ganzen:
BGE 144 IV 362 E. 1.3.2).
1.2 Die Rüge des Beschwerdeführers ist unbegründet.
Wie sich aus dem in der vorstehenden Erwägung 1.1.2 Gesagten ergibt, bewirkt die Einsprache, dass das Verfahren in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft zurückfällt und dass diese nach Abnahme der Beweise im Sinne von Art. 355 Abs. 3 lit. a-d vorzugehen hat. Die Möglichkeit der beschuldigten Person, die Einsprache zurückzuziehen, besteht nach herrschender Lehre indessen nur dann, wenn die Staatsanwaltschaft nach Abnahme der Beweise am ursprünglichen Strafbefehl festhält (Art. 355 Abs. 3 lit. a i.V.m.
Art. 356 Abs. 1 und 3 StPO), nicht hingegen wenn sie einen neuen Strafbefehl erlässt oder Anklage beim zuständigen Gericht erhebt (
Art. 355 Abs. 3 lit. c und d StPO; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/Hansjakob/ Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 5 ff., insb. N. 6a zu
Art. 355 StPO; GILLIÉRON/KILLIAS, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 11 zu
Art. 356 StPO; JO PITTELOUD, Code de procédure pénale suisse [CPP], 2012, N. 993 zu
Art. 352 ff. StPO; a.M. RIKLIN, a.a.O., N. 5 zu
Art. 355 StPO). In diesen Fällen ist die
BGE 149 IV 50 S. 54
Staatsanwaltschaft nicht an ihren ursprünglichen Strafbefehl gebunden und das Verbot der reformatio in peius gilt nicht (Urteil 6B_703/ 2021 vom 22. Juni 2021 E. 4.3.3). Die Vorinstanz weist zudem zutreffend darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft in ihrem Vorgehen nicht frei ist. Namentlich ist sie verpflichtet, Anklage zu erheben, wenn sie aufgrund der abgenommenen Beweise zum Schluss gelangt, dass die Angelegenheit nicht mehr im Strafbefehlsverfahren erledigt werden kann. Dies ist hier der Fall, da die Staatsanwaltschaft eine Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens 50 km/h als erwiesen erachtete und das Verfahren daher wegen vorsätzlicher besonders krasser Missachtung der signalisierten Höchstgeschwindigkeit im Sinne von
Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG weiterführte resp. am 9. Juli 2020 entsprechend zur Anklage brachte. Dem Beschwerdeführer kann auch nicht gefolgt werden, wenn er geltend macht, die Möglichkeit, die Einsprache zurückzuziehen, entfalle erst dann, wenn die Staatsanwaltschaft tatsächlich Anklage erhoben habe. Vielmehr ist, wenn Einsprache erhoben wurde, die Verfügungsmacht der beschuldigten Person bis zum Entscheid der Staatsanwaltschaft über den neuen Verfahrensausgang nach
Art. 355 Abs. 3 lit. a-d StPO entzogen. Insofern ist darauf hinzuweisen, dass die Einsprache kein formelles Rechtsmittel, sondern lediglich einen Rechtsbehelf darstellt.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist auch der Grundsatz "ne bis in idem" nicht berührt und steht einer neuerlichen Beurteilung der strittigen Vorwürfe nicht entgegen. Es liegt vielmehr, wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, eine andere Sach- und Rechtslage vor als sie dem ursprünglichen Strafbefehl zugrunde lag. Zum einen beträgt die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung nicht mehr 49 km/h, sondern mindestens 50 km/h. Zum anderen richtet sich die Strafbarkeit nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nunmehr nach Abs. 3 und 4 von Art. 90 SVG anstatt nach Abs. 2 der vorgenannten Bestimmung. Daran ändert nichts, dass es um denselben Lebenssachverhalt geht und keine neue Messung erfolgte.
Nach dem Gesagten ist die Vorinstanz unbesehen des Rückzugs der Einsprache durch den Beschwerdeführer zu Recht auf die Anklage eingetreten.