Urteilskopf
150 IV 239
20. Auszug aus dem Urteil der II. strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen A. (Beschwerde in Strafsachen)
7B_172/2022 vom 21. März 2024
Regeste
Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO, Art. 221 Abs. 1 Ingress StPO; Anforderungen an den hinreichenden Tatverdacht bei der Anordnung von Zwangsmassnahmen; Abgrenzung zum dringenden Tatverdacht als Haftvoraussetzung.
Unterschiedliche Anforderungen an die Intensität des Verdachts bei der Anordnung von Zwangsmassnahmen und bei der Anordnung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft (E. 3.2-3.4).
Aus den Erwägungen:
3.1 Nach
Art. 246 StPO dürfen Schriftstücke, Ton-, Bild- und andere Aufzeichnungen, Datenträger sowie Anlagen zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass sich darin Informationen befinden, die der Beschlagnahme unterliegen. Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angabe der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, sind zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet
BGE 150 IV 239 S. 240
werden (aArt. 248 Abs. 1 StPO). Stellt die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren ein Entsiegelungsgesuch, hat das Zwangsmassnahmengericht im Entsiegelungsverfahren zu prüfen, ob von den Betroffenen angerufene schutzwürdige Geheiminteressen oder andere gesetzliche Entsiegelungshindernisse einer Durchsuchung entgegenstehen (aArt. 248 Abs. 2-4 StPO;
BGE 144 IV 74 E. 2.2;
BGE 141 IV 77 E. 4.1 mit Hinweisen).
3.2 Zwangsmassnahmen können nur ergriffen werden, wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt (
Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO). Im Gegensatz zum erkennenden Sachrichter hat das für die Beurteilung von Zwangsmassnahmen im Vorverfahren zuständige Gericht bei der Überprüfung des hinreichenden Tatverdachts keine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen. Bestreitet eine betroffene Person den Tatverdacht, ist vielmehr zu prüfen, ob aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat und eine Beteiligung der beschuldigten Person an dieser Tat vorliegen. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können (
BGE 141 IV 87 E. 1.3.1; Urteile 7B_128/2023 vom 14. Dezember 2023 E. 2.1; 7B_184/2022 vom 30. November 2023 E. 2.1.1; je mit weiteren Hinweisen). Zur Frage des Tatverdachts bzw. zur Schuldfrage hat das Bundesgericht weder ein eigentliches Beweisverfahren durchzuführen noch dem erkennenden Sachgericht vorzugreifen (Urteile 7B_161/2022 vom 5. Oktober 2023 E. 2.2; 1B_ 208/2022 vom 14. April 2023 E. 3.1; vgl.
BGE 143 IV 330 E. 2.1 betreffend den dringenden Tatverdacht im Haftverfahren).
3.3 Die Anordnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft setzt das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts voraus (Art. 221 Abs. 1 Ingress StPO). Erforderlich sind konkrete Verdachtsmomente, wonach das untersuchte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte (
BGE 143 IV 330 E. 2.1,
BGE 143 IV 316 E. 3.1;
BGE 137 IV 122 E. 3.2; Urteile 7B_53/2024 vom 7. Februar 2024 E. 6.1; 7B_1028/2023 vom 12. Januar 2024 E. 7.1; je mit Hinweisen). In einzelnen nicht amtlich publizierten Urteilen hat das Bundesgericht dieselbe Formulierung auch bei der Überprüfung des hinreichenden Tatverdachts (im Sinne von
Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO) im Entsiegelungsverfahren verwendet (vgl. z.B. Urteile 1B_273/2022 vom 22. November 2022 E. 6.1; 1B_656/2021 vom
BGE 150 IV 239 S. 241
4. August 2022 E. 9.2; 1B_427/2021 vom 21. Januar 2022 E. 4.2; 1B_435/2021 vom 8. Dezember 2021 E. 2.1), was in der Lehre teils auf Kritik gestossen ist. Konkret wurde dagegen eingewendet, dass das Erfordernis von "konkreten Verdachtsmomenten, wonach das inkriminierte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte", ein zu hoher Standard sei. Da die Entsiegelung deutlich weniger eingriffsintensiv sei als die Untersuchungshaft, seien hier an den Tatverdacht weniger hohe Anforderungen zu stellen. Es sei daher sachgerechter, darauf abzustellen, dass aufgrund einer vorläufigen Einschätzung von einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Strafhandlungen ausgegangen werden könne (DAMIAN K. GRAF, Praxishandbuch zur Siegelung, 2022, Rz. 473 mit Verweis auf die Urteile 1B_322/2021 vom 22. Dezember 2021 E. 2.2 und 1B_439/2020 vom 21. Januar 2021 E. 7.1).
3.4 In der Tat setzen nichtfreiheitsentziehende strafprozessuale Zwangsmassnahmen nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht die gleich hohe Intensität eines Tatverdachts voraus wie Untersuchungs- und Sicherheitshaft (so etwa ausdrücklich Urteile 1B_ 691/2021 vom 21. Juli 2022 E. 2.2; 1B_193/2017 vom 24. August 2017 E. 3.3; 1B_516/2011 vom 17. November 2011 E. 2.1; 1B_212/ 2010 vom 22. September 2010 E. 3.1; 1B_120/2008 vom 24. Oktober 2008 E. 4). Vor diesem Hintergrund ist es ungenau, bei der Überprüfung des hinreichenden Tatverdachts im Sinne von
Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO auf das Kriterium abzustellen, das in der publizierten Rechtsprechung des Bundesgerichts im Zusammenhang mit der Überprüfung des dringenden Tatverdachts im Haftverfahren entwickelt worden ist. Richtigerweise ist für die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts im Entsiegelungsverfahren nur, aber immerhin das Vorliegen erheblicher und konkreter Hinweise auf eine strafbare Handlung verlangt.