Urteilskopf
147 III 301
30. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_800/2019 vom 9. Februar 2021
Regeste a
Art. 58 Abs. 1, Art. 271 lit. a, Art. 277 Abs. 1 und
Art. 296 Abs. 1 und 3 ZPO; Auswirkung der Prozessmaximen für den Kindesunterhalt auf den (nach-)ehelichen Unterhalt.
Die kraft der uneingeschränkten Untersuchungsmaxime für den Kindesunterhalt gewonnenen Erkennnisse können für den im gleichen Entscheid zu beurteilenden (nach-)ehelichen Unterhalt nicht einfach ausgeblendet werden (E. 2).
Regeste b
Art. 163 ZGB; Berechnung des ehelichen Unterhaltes; Verbindlichkeit der zweistufigen Methode mit Überschussverteilung.
Die zweistufig-konkrete Methode ist in Abkehr vom Methodenpluralismus auch im Bereich des ehelichen Unterhaltes zu beachten (E. 4).
Regeste c
Art. 163 und 176 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB; Zumutbarkeit der (Wieder-)Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bei Trennung.
Kann mit der Wiederaufnahme des gemeinsamen Haushaltes nicht mehr ernsthaft gerechnet werden, ist die Arbeitskapazität, welche infolge der Befreiung von Naturalleistungen an die Gemeinschaft frei geworden ist, grundsätzlich auszuschöpfen und eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, soweit dies tatsächlich möglich ist (E. 6).
A.
A. (geb. 1974) und B. (geb. 1949) heirateten am 8. März 2002. Sie haben den Sohn C. (geb. 2005). Seit Dezember 2015 leben sie getrennt.
B.
Mit Eheschutzentscheid des Kreisgerichts Rheintal vom 15. August 2016 wurde der Ehemann zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von Fr. 1'800.- für den Sohn und von Fr. 10'000.- für die Ehefrau verpflichtet.
Am 29. Januar 2018 reichte der Ehemann beim Kreisgericht Rorschach die Scheidungsklage ein. Das gleichentags eingereichte Begehren um Herabsetzung der im Eheschutzverfahren festgesetzten Unterhaltsbeiträge wies das Kreisgericht mit Massnahmeentscheid vom 17. Oktober 2018 ab.
In teilweiser Gutheissung der Berufung des Ehemannes setzte das Kantonsgericht mit Entscheid vom 30. August 2019 folgende Unterhaltsbeiträge fest: für den Sohn C. Fr. 1'900.- Barunterhalt und Fr. 1'875.- Betreuungsunterhalt von Februar bis August 2018, Fr. 1'900.- Barunterhalt und Fr. 750.- Betreuungsunterhalt von September 2018 bis August 2019, Fr. 2'150.- Barunterhalt und Fr. 750.- Betreuungsunterhalt von September 2019 bis November 2021 und Fr. 2'200.- Barunterhalt ab Dezember 2021; für die Ehefrau Fr. 4'600.- von Februar bis August 2018, Fr. 5'750.- von September 2018 bis August 2019, Fr. 4'050.- von September 2019 bis November 2021 und Fr. 4'400.- ab Dezember 2021.
BGE 147 III 301 S. 303
C.
Dagegen hat die Ehefrau am 8. Oktober 2019 beim Bundesgericht eine Beschwerde eingereicht; sie verlangt höhere Unterhaltsbeiträge bzw. die Abweisung der Abänderungsbegehren.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)
Aus den Erwägungen:
2.
Die Beschwerdeführerin rügt vorab eine willkürliche Verletzung der Eventualmaxime.
2.1
Sie macht geltend, die Offizial- und Untersuchungsmaxime komme nur für den Kindesunterhalt zum Tragen, während für den ehelichen Unterhalt
Art. 317 ZPO ohne Einschränkung zur Anwendung gelange. Das Kantonsgericht hätte deshalb die vom Beschwerdegegner erst im Berufungsverfahren eingereichten Unterlagen nicht berücksichtigen dürfen.
2.2
Für den im Rahmen des Scheidungsverfahrens festzusetzenden
nachehelichen Unterhalt
gilt grundsätzlich die Dispositions- und Verhandlungsmaxime (
Art. 58 Abs. 1 und Art. 277 Abs. 1 ZPO). Der
eheliche Unterhalt
wird im Rahmen eines Eheschutzverfahrens oder vorsorglicher Massnahmen geltend gemacht; damit unterliegt er zwar ebenfalls der Dispositionsmaxime (
Art. 58 Abs. 1 ZPO); für die Sachverhaltsfeststellung gilt aber die Untersuchungsmaxime (Art. 271 lit. a i.V.m.
Art. 272 sowie Art. 276 Abs. 1 ZPO), freilich im Sinn der beschränkten bzw. sozialen Untersuchungsmaxime (Urteil 5A_857/2016 vom 8. November 2017 E. 4.3.3, nicht publ. in:
BGE 143 III 617). In Bezug auf den
Kindesunterhalt
kommt unabhängig von der Art des Verfahrens stets die Offizialmaxime und die uneingeschränkte Untersuchungsmaxime im Sinn der Erforschungspflicht zur Anwendung (
Art. 296 Abs. 1 und 3 ZPO). Die strenge Untersuchungsmaxime in Kinderbelangen durchbricht das Novenregime von
Art. 317 Abs. 1 ZPO mit der Folge, dass neue Tatsachen und Beweismittel im Berufungsverfahren selbst dann vorgebracht werden können, wenn die Voraussetzungen von
Art. 317 Abs. 1 ZPO nicht erfüllt sind (
BGE 144 III 349
E. 4.2.1 S. 352).
Das Kantonsgericht hat zutreffend auf die Interdependenz von Kinder- und Ehegattenunterhalt hingewiesen (
BGE 132 III 593
E. 3.2 S. 594;
BGE 128 III 411
E. 3.2.1 S. 415). Diese besteht insbesondere bei der zweistufigen Methode, wie sie vorliegend zur Anwendung
BGE 147 III 301 S. 304
gelangt (dazu E. 4.3), weil hier das Gesamteinkommen der Ehegatten bzw. Eltern zu ermitteln und dem jeweiligen Bedarf aller Familienmitglieder gegenüberzustellen ist, welcher nach einem bestimmten Schlüssel aus der Verteilung der vorhandenen Mittel gedeckt wird (dazu im Einzelnen
BGE 147 III 265
E. 7 S. 279). Die kraft der uneingeschränkten Untersuchungsmaxime für den Kindesunterhalt gewonnenen Erkenntnisse sind mithin auch für den im gleichen Entscheid beurteilten ehelichen oder nachehelichen Unterhalt relevant und lassen sich im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtrechnung nicht gewissermassen für diesen ausblenden (vgl.
BGE 128 III 411
E. 3.2.2 S. 414 f.; Urteile 5A_361/2011 vom 7. Dezember 2011 E. 5.3.2, in: FamPra.ch 2012 S. 447; 5A_164/2019 vom 20. Mai 2020 E. 5.2.4, nicht publ. in:
BGE 146 III 203
; 5A_67/2020 vom 10. August 2020 E. 3.3.2). Genau dies strebt die Beschwerdeführerin aber explizit an, indem sie für den Kindes- und den ehelichen Unterhalt zwei streng getrennte Betrachtungsweisen zur Anwendung bringen möchte. Indes ist dem Kantonsgericht nach dem Gesagten keine Willkür vorzuwerfen, wenn es die im Zusammenhang mit dem Kindesunterhalt aufgrund von Noven gewonnenen Erkenntnisse auch für den ehelichen Unterhalt fruchtbar gemacht hat.
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Beschwerdeführerin entgegen ihren soeben erörterten Vorbringen, das Kantonsgericht hätte die vom Beschwerdegegner neu eingereichten Unterlagen nicht berücksichtigen dürfen, an anderen Stellen ihrer Beschwerde dem Kantonsgericht vorwirft, trotz der anwendbaren Untersuchungsmaxime nicht von sich aus Erhebungen gemacht zu haben (vgl. nicht publ. E. 5.1 und 5.2).
(...)
4.
Als weitere Grundsatzfrage wird sodann geltend gemacht, dass die Anwendung der sog. zweistufig-konkreten Methode bzw. zweistufigen Methode mit Überschussverteilung willkürlich sei.
4.1
Das Kantonsgericht hat erwogen, angesichts des auf Fr. 210'000.- gesunkenen Einkommens (zu dessen Bestimmung siehe nicht publ. E. 5) sei davon auszugehen, dass keine Sparquote mehr verbleibe. Vor diesem Hintergrund sei es gerechtfertigt, die Unterhaltsbeiträge nicht mehr nach der konkreten, sondern nach der abstrakten Methode zu berechnen und dabei den sogenannten Halbteilungsgrundsatz anzuwenden. Mithin sei das Gesamteinkommen dem
BGE 147 III 301 S. 305
beidseitigen Grundbedarf gegenüberzustellen und ein allfälliger Überschuss aufzuteilen, wobei auch das Kind daran zu beteiligen sei.
4.2
Die Beschwerdeführerin hält dies für unzulässig. Sie macht geltend, im ersten Eheschutzverfahren seien die Gerichte durchwegs von der einstufig-konkreten Methode ausgegangen und das Kantonsgericht habe dies damals mit dem "Nettoeinkommen im sechsstelligen Bereich" und mit dem "Vermögen in Millionenhöhe" begründet. Daran habe sich nichts geändert, was im angefochtenen Entscheid in willkürlicher Weise verkannt werde; ein Methodenwechsel im Rahmen des Abänderungsverfahrens komme nicht in Frage.
4.3
In langjähriger Rechtsprechung hat das Bundesgericht im gesamten Unterhaltsbereich einen Methodenpluralismus zugelassen und einzig bei Vermischung verschiedener Methoden korrigierend eingegriffen (vgl.
BGE 140 III 337
E. 4.2.2 S. 339,
BGE 140 III 485 E. 3.3 S. 488;
BGE 128 III 411
E. 3.2.2 S. 414 f.). Mit dem in E. 2.2 bereits erwähnten Grundsatzurteil
BGE 147 III 265
E. 6.6 S. 278 und E. 7 S. 279 hat es jedoch die Unterhaltsmethodik dahingehend vereinheitlicht, dass im Bereich des Kindesunterhalts (Bar- und Betreuungsunterhalt) die zweistufige Methode anzuwenden ist. Sodann hat es in
BGE 147 III 293
E. 4.5 S. 299 festgehalten, dass diese Methode in Zukunft auch im Bereich des nachehelichen Unterhaltes zur Anwendung gelangen soll. Beide Urteile zielen auf eine Umsetzung der in
BGE 144 III 481
E. 4.1 S. 485 im Zusammenhang mit dem Betreuungsunterhalt angekündigten schweizweit verbindlichen Vereinheitlichung der Methodik zur Bestimmung des familienrechtlichen Unterhaltes. Das Gesagte schliesst nicht aus, dass in besonderen Situationen, namentlich bei aussergewöhnlich günstigen finanziellen Verhältnissen, anders vorgegangen oder auch ganz von einer konkreten Rechnung abgesehen wird, wobei im Unterhaltsentscheid stets zu begründen ist, aus welchen Gründen gegebenenfalls von der Regel abgewichen wird (vgl.
BGE 147 III 265
E. 6.6 S. 278,
BGE 147 III 293
E. 4.5 S. 299).
Vor diesem Hintergrund ist es nicht willkürlich, wenn das Kantonsgericht der zweistufigen Methode gefolgt ist. Vielmehr wird diese in Zukunft grundsätzlich von allen schweizerischen Gerichten auch im Bereich des ehelichen Unterhaltes anzuwenden sein. Daran ändert jedenfalls unter Willkürgesichtspunkten nichts, dass es vorliegend um die Modifikation eines früheren Entscheides zufolge veränderter Verhältnisse geht und diesem Ausgangsentscheid eine andere Methodik zugrunde lag, zumal keine einschlägige Rüge erhoben wird (
Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. sodann nicht publ. E. 1).
BGE 147 III 301 S. 306
(...)
6.
Umstritten ist schliesslich, ob der Beschwerdeführerin die Aufnahme einer Erwerbsarbeit zumutbar ist.
6.1
Während das Kantonsgericht im seinerzeitigen Eheschutzentscheid vom 20. April 2017 angesichts der konkreten Verhältnisse noch von einer Unzumutbarkeit ausgegangen war, kam es im angefochtenen Entscheid zum umgekehrten Schluss mit der Begründung, dass die Parteien nunmehr seit vier Jahren getrennt leben würden. Es erachtete den beruflichen Einstieg der Beschwerdeführerin in tatsächlicher Hinsicht auch als möglich und ausgehend vom Schulstufenmodell gemäss
BGE 144 III 481
sowie vom Umstand, dass sie sich seit der Trennung am 1. Dezember 2015 für eine Erwerbstätigkeit hätte vorbereiten müssen, ab sofort (d.h. ab September 2019) ein Nettoeinkommen von Fr. 3'000.- auf der Basis von 80 % und ab Dezember 2021 ein solches von Fr. 3'750.- bei einem Vollzeiterwerb im Bereich der Hilfspflege als realistisch.
6.2
In Bezug auf diese Erwägungen erfolgen keine eigentlichen Willkürrügen, sondern pauschale Aussagen (vgl. dazu bereits nicht publ. E. 5.4), wonach sich der Beschwerdegegner eine glamouröse Vorzeigefrau geschaffen und seine Familie zum Luxus erzogen habe und wonach er Eigentümer einer Hochseeyacht, diverser Fahrzeuge (namentlich von Bentleys, welche nur fiktiv seinen Gesellschaften gehörten), eines grossen Hauses sowie verschiedener Firmen und Renditeliegenschaften sei, so dass für sie als Ehefrau ein sozialer Abstieg ins Arbeitsleben nicht hinzunehmen sei; im ersten Eheschutzentscheid sei die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit denn auch nie thematisiert worden.
Soweit nicht ohnehin das Güterrecht mit der Unterhaltsfrage vermischt wird, indem vom Vermögen des anderen Ehegatten direkt auf die Unzumutbarkeit eigener Erwerbstätigkeit geschlossen wird, müsste sich die Beschwerdeführerin, damit eine substanziierte Willkürrüge überhaupt in Betracht gezogen werden könnte, konkret mit den Erwägungen des Kantonsgerichtes auseinandersetzen und aufzeigen, inwiefern sie vorher unter dem Titel des Familienunterhaltes in einer Situation gelebt hat, die einen Wechsel des Lebensstils und insbesondere die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit schlicht als unzumutbar erscheinen lassen. Dahingehende Vorbringen erfolgen nicht und im Übrigen hält die Beschwerdeführerin selbst fest, dass der Sohn C. eine private Tagesschule besucht. Insofern ist sie während
BGE 147 III 301 S. 307
des Tages nicht nur von sämtlichen Erziehungsaufgaben, sondern nach der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes auch von den häuslichen Pflichten zugunsten der Gemeinschaft vollständig entlastet.
Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, ihr dürfe angesichts der ehelichen Verhältnisse kein sozialer Abstieg zugemutet werden, bleibt wie gesagt appellatorisch. Ohnehin liesse sich in diesem Zusammenhang keine Willkür dartun: Im Rahmen der Scheidung gilt der Vorrang der Eigenversorgung, wonach jeder Ehegatte vorab selbst für seinen Unterhalt aufzukommen hat - wobei die Tatsache allein, dass ein Ehegatte während der Ehe nicht erwerbstätig war, ihn nicht von dieser Obliegenheit entbindet (Urteil 5A_243/2007 vom 28. Januar 2008 E. 9) - und nur subsidiär, wo dies nicht oder nicht umfassend möglich und zumutbar ist, den anderen Ehegatten bei gegebener Leistungsfähigkeit eine zeitlich begrenzte Unterhaltspflicht aufgrund nachehelicher Solidarität trifft (
Art. 125 Abs. 1 ZGB;
BGE 141 III 465
E. 3.1 S. 468 f.;
BGE 134 III 145
E. 4 S. 146 f.). Ist in tatsächlicher Hinsicht erstellt, dass mit einer Wiederaufnahme des gemeinsamen Haushaltes nicht mehr ernsthaft gerechnet werden kann, hat das Eheschutzgericht im Rahmen von
Art. 163 ZGB die für den nachehelichen Unterhalt geltenden Kriterien von
Art. 125 ZGB miteinzubeziehen und aufgrund der neuen Lebensverhältnisse zu prüfen, ob und in welchem Umfang vom Ehegatten, der bisher den gemeinsamen Haushalt geführt hat, davon aber nach dessen Aufhebung entlastet ist, erwartet werden kann, dass er seine Arbeitskraft anderweitig einsetze und eine Erwerbstätigkeit aufnehme oder ausdehne (vgl.
BGE 138 III 97
E. 2.2 S. 99;
BGE 137 III 385
E. 3.1 S. 386 f.;
BGE 130 III 537
E. 3.2 S. 541 f.). Dass eine vorhandene Arbeitskapazität auszuschöpfen ist, entspricht denn auch einem allgemeinen Grundsatz im Unterhaltsrecht (vgl.
BGE 143 III 233
E. 3.2 S. 235;
BGE 137 III 118
E. 2.3 S. 121;
BGE 128 III 4
E. 4a S. 5).
Vor diesem Hintergrund ist keine Willkür auszumachen, wenn das Kantonsgericht nach vier Jahren seit der Trennung (stillschweigend) davon ausgegangen ist, dass mit einer Wiederaufnahme des gemeinsamen Haushaltes nicht mehr ernsthaft gerechnet werden könne und der Beschwerdeführerin die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit angesichts des fortgeschrittenen Alters des Kindes und dessen ganztägiger schulischen Betreuung zumutbar sei.