115 V 202
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Urteilskopf
115 V 202
29. Urteil vom 28. Juni 1989 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen B. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Regeste
Art. 13 IVG, Art. 2 Abs. 3 GgV und Ziff. 445 GgV-Anhang. Voraussetzungen, unter denen die Invalidenversicherung das Cochlea-Implantat, eine elektronische Hörhilfe, als medizinische Massnahme zur Behandlung einer angeborenen Taubheit zu übernehmen hat.
A.- Rita B. (geb. 1966) leidet an beidseitiger Taubheit bei Status nach rezidivierendem Hörsturz links seit 1981 sowie
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angeborener Surditas rechts. Am 16. November 1985 nahm Prof. A., Chefarzt der Hals-, Nasen- und Ohrenklinik am Kantonsspital L., eine Cochlea-Implant-Operation am linken Ohr vor, nachdem die Anpassung eines Hörgerätes keinen Erfolg gezeitigt hatte. (Zur Umschreibung des Cochlea-Implantats (CI) vgl. den Sachverhalt in BGE 115 V 191.) Dank dieser Rehabilitationsmethode war Rita B. nach kurzer Zeit in der Lage, Höreindrücke von Stimme und Sprache so zu verarbeiten, dass sie gewohnte Stimmen wieder verstehen, ohne Probleme Unterhaltungen führen und ihren Beruf als selbständige Damenschneiderin ausüben konnte.Am 25. September 1985 ersuchte Rita B. die Invalidenversicherung um Kostengutsprache für das CI. Gestützt auf eine Stellungnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) vom 27. November 1985 beschloss die Invalidenversicherungs-Kommission, das Gesuch abzuweisen; für das CI bestehe kein Anspruch auf medizinische Massnahmen, weil das Verfahren noch in der Entwicklungsphase stehe. Mit dieser Begründung lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Luzern das Leistungsbegehren am 15. Januar 1986 verfügungsweise ab.
B.- Rita B. führte Beschwerde mit dem Antrag, die Invalidenversicherung sei zur Übernahme der mit der Operation verbundenen Kosten zu verpflichten. Nachdem die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde geschlossen hatte, äusserte sich Prof. A. in einer Replik zu medizinischen Gesichtspunkten. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern holte zur Klärung medizinischer Fragen Auskünfte bei verschiedenen Chefärzten schweizerischer Universitätskliniken ein und ersuchte das BSV um eine Stellungnahme. Mit Entscheid vom 4. November 1987 hob es die angefochtene Kassenverfügung in Gutheissung der Beschwerde auf und verpflichtete die Invalidenversicherung, die CI-Operation zu übernehmen.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das BSV, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
Während Rita B. auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet die Ausgleichskasse auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. Im vorliegenden Fall ist streitig, ob die Invalidenversicherung für das CI aufzukommen hat. Dabei fällt eine Übernahme als
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Hilfsmittel nach Massgabe von Art. 21 IVG oder als medizinische Massnahme bei Geburtsgebrechen gemäss Art. 13 IVG in Betracht.
2. (Ausführungen darüber, dass das CI nicht unter den Begriff des Hilfsmittels nach Art. 21 IVG fällt; siehe BGE 115 V 193 Erw. 2.)
3. Nach Art. 13 IVG haben minderjährige Versicherte Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden; er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2).
Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen (Art. 1 Abs. 1 GgV). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang aufgeführt; das Eidgenössische Departement des Innern kann eindeutige Geburtsgebrechen, die nicht in der Liste im Anhang enthalten sind, als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG bezeichnen (Art. 1 Abs. 2 GgV). Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV).
4. a) Die 1966 geborene Beschwerdegegnerin leidet an angeborener Taubheit rechts, einem Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 445 GgV-Anhang, welche sich bei Status nach rezidivierendem Hörsturz links auf eine beidseitige Taubheit ausdehnte. Die Invalidenversicherung hat somit die von Prof. A. am 16. November 1985 vorgenommene CI-Operation samt Gerät zu übernehmen, sofern die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.
b) bis d) (Ausführungen darüber, dass es sich beim CI um eine nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigte Massnahme handelt; siehe BGE 115 V 195 Erw. 4b-d.)
e) Zu prüfen ist des weiteren, ob die Massnahme den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstrebt, wie dies nach Art. 2 Abs. 3 GgV verlangt wird.
aa) In tatbeständlicher Hinsicht steht fest, dass die Beschwerdegegnerin trotz angeborener Taubheit rechts eine normale Sprachentwicklung durchgemacht hat und die vollständige Ertaubung erst postlingual, im Alter von 19 Jahren, eingetreten ist.
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Medikamentöse Therapien und die Anpassung eines konventionellen Hörgerätes blieben ohne Erfolg. Die vom Mitarbeiterstab von Prof. A. vorgenommenen umfangreichen Abklärungen ergaben, dass die Versicherte sowohl in psychologischer Hinsicht wie auch bezüglich der Ergebnisse der Messungen der Nervenleitfähigkeit die Voraussetzungen für ein CI erfüllte. Die Resultate der Voruntersuchungen aufgrund subtiler Testmethoden liessen zudem mit grosser Wahrscheinlichkeit den Schluss zu, dass eine Versorgung des linken Ohres die Wiedergewinnung von Höreindrücken insbesondere in den Sprachbereichsfrequenzen vermitteln werde; Misserfolge liessen sich mit der gleichen Wahrscheinlichkeit ausschliessen.bb) (Ausführungen darüber, dass die geforderte Zweckmässigkeit der Versorgung mit einem CI im Rahmen von Art. 13 IVG gleich zu beurteilen ist wie bei Art. 12 IVG; vgl. BGE 115 V 191.)
cc) Art. 2 Abs. 3 GgV verlangt sodann, dass die medizinischen Massnahmen den therapeutischen Erfolg in einfacher Weise anstreben. Dieser Verhältnismässigkeitsgrundsatz beschlägt die Relation zwischen den Kosten der medizinischen Massnahme einerseits und dem mit der Eingliederungsmassnahme verfolgten Zweck anderseits (BGE 103 V 16 Erw. 1b, BGE 101 V 53 Erw. 3d mit Hinweisen; vgl. auch BGE 112 V 399 und BGE 99 V 35 Erw. 1). Eine betragsmässige Begrenzung der notwendigen Massnahmen käme mangels einer ausdrücklichen gegenteiligen Bestimmung bloss in Frage, wenn zwischen der Massnahme und dem Eingliederungszweck ein derart krasses Missverhältnis bestände, dass sich die Übernahme der Eingliederungsmassnahme schlechthin nicht verantworten liesse (in diesem Sinne BGE 107 V 87 Erw. 2 bezüglich des Anspruchs auf Vergütung der Transportkosten bei der Sonderschulung).
Zu beachten ist im Zusammenhang mit der Frage nach der Verhältnismässigkeit der Massnahme, dass die Geburtsgebrechen in der Invalidenversicherung eine Sonderstellung einnehmen. Denn minderjährige Versicherte können gemäss Art. 8 Abs. 2 IVG unabhängig von der Möglichkeit einer späteren Eingliederung in das Erwerbsleben die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen beanspruchen. Eingliederungszweck ist die Behebung oder Milderung der als Folge eines Geburtsgebrechens eingetretenen Beeinträchtigung.
Schliesslich hat der Versicherte nur Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen
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Vorkehren. Denn die Eingliederungsmassnahmen sind lediglich insoweit zu gewähren, als dies im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (BGE 112 V 399 mit Hinweisen; ZAK 1985 S. 172 Erw. 3a).
5. Die vorstehend aufgestellten Erfordernisse hinsichtlich Zweckmässigkeit und Einfachheit der medizinischen Vorkehr sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Nachdem herkömmliche Hörapparate nicht zum Ziel geführt, die Abklärungen die Eignung für die Versorgung mit einem CI ergeben hatten und medizinisch-prognostisch mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Erfolg zu erwarten war (BGE 98 V 34 Erw. 2), müssen die Notwendigkeit und Zweckmässigkeit der medizinischen Massnahme bejaht werden. Mit dem kantonalen Gericht darf auch angenommen werden, dass die an sich sehr hohen Kosten (rund 27'000 Franken für das Gerät, zuzüglich Operations- und Spitalaufenthalts- sowie Gebrauchstrainingskosten) in einem vernünftigen Verhältnis zum Eingliederungserfolg stehen. Mit dem CI ist der Beschwerdegegnerin nicht nur ein annähernd normaler und den vor der vollständigen Ertaubung bestandenen Verhältnissen fast gleichwertiger Sprachkontakt ermöglicht worden. Zusätzlich wurde sie in die Lage versetzt, eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit als selbständige Damenschneiderin aufzunehmen. Zwar ist im Rahmen von Art. 13 IVG nicht vorausgesetzt, dass die Massnahme die berufliche Eingliederung unmittelbar beeinflusst und die Erwerbsfähigkeit dauernd und erheblich verbessert. Indessen darf dieser Gesichtspunkt neben dem eigentlichen Eingliederungszweck, der in der Milderung der gesundheitlichen Beeinträchtigung besteht - bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Massnahme ebenfalls nicht völlig ausser acht bleiben, zumal der Invalidenversicherung durch die geglückte berufliche Eingliederung anderweitige Aufwendungen, z.B. für Massnahmen beruflicher Art, erspart bleiben. Unter diesen Umständen kann entgegen der Auffassung des BSV nicht gesagt werden, dass die Kosten für das CI in einem unverantwortbaren Verhältnis zum angestrebten (und auch erreichten) Eingliederungszweck stehen. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demzufolge unbegründet.
6. a) Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass das CI das Resultat einer biotechnischen Entwicklung darstellt, welche die kommunikativen Fähigkeiten eines postlingual Ertaubten hinsichtlich Sprachverständnis und Sprachverständlichkeit in bisher nicht gekanntem Ausmass zu verbessern vermag. Laut Ausführungen
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von Prof. P., Vorsteher der Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kantonsspital B. (Bericht über den 3. Internationalen Kongress der Schwerhörigen vom 3. bis 8. Juli 1988 in Montreux, S. 56), ist es unter der Voraussetzung, dass postoperativ ein intensives Hör- und Sprachtraining durchgeführt wird, möglich, dass der Gehörlose durch ein CI folgendes erreicht: Er kann Umgebungsgeräusche erkennen und voneinander unterscheiden; sein Sprachverständnis wird bei gleichzeitigem Lippenablesen ganz erheblich gebessert; auch ohne visuelle Hilfsmittel wird in vielen Fällen ein sozial ausreichendes, in manchen Fällen sogar vollständiges offenes Sprachverständnis wiedererlangt; der Patient erhält die Möglichkeit, seine eigene Sprache auditiv zu kontrollieren und dadurch die Verständlichkeit seiner Sprache zu verbessern und teilweise völlig zu normalisieren.Daraus sind bezüglich Übernahme des CI als medizinische Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung nach Art. 13 IVG folgende Schlüsse zu ziehen: Das CI ist als medizinische Massnahme zu qualifizieren, sofern die hinsichtlich Zweckmässigkeit genannten Voraussetzungen (Erw. 4e/bb hievor) erfüllt sind. Zu beachten ist dabei insbesondere, dass die Chancen der kommunikativen Rehabilitation, welche im Rahmen von Art. 13 IVG hinreichend ist, bei einem Versicherten, der an einer unmittelbar nach der Geburt aufgetretenen - prälingualen - Gehörlosigkeit leidet, nicht günstig sind. Bei angeborener Taubheit werden daher aufgrund der Testerfahrungen nur besonders ausgewählte Versicherte für ein CI in Frage kommen.
b) und c) (Vgl. BGE 115 V 201 Erw. 6b und c.)
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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