Urteilskopf
116 Ia 73
12. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar 1990 i.S. W. gegen Wirtschaftsstrafgericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste
Art. 86 Abs. 2 OG; letztinstanzlicher kantonaler Entscheid.
Zu den Prozessrechtsverletzungen, die gemäss Art. 328 StrV/BE mit kantonaler Nichtigkeitsklage gerügt werden können, gehört auch eine Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör sowie des sich daraus ergebenden Rechts auf Begründung des Entscheides. Wurde dieses Rechtsmittel nicht ergriffen, kann auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden.
Aus den Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer erblickt unter anderem eine Verletzung von
Art. 4 BV darin, dass der angefochtene Entscheid einer genügenden Begründung ermangle; zudem sei er in mehreren für die Frage des Eintritts der Verjährung wesentlichen Punkten nicht zu ihm zur Last gelegten Akten und Tatsachen befragt worden, worin zugleich eine Verletzung von
Art. 6 EMRK liege.
a) Wegen Verletzung von
Art. 4 BV und der EMRK - bei letzterer die Rügen, wenn ihnen selbständige Bedeutung zukommt, ausgenommen, die materiell identisch sind mit einer aufgrund einer Bestimmung der Bundesverfassung erhobenen Rüge, für die die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht erforderlich ist - ist die staatsrechtliche Beschwerde erst zulässig, nachdem der Beschwerdeführer von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch gemacht hat, mit denen die in der Beschwerde vorgebrachten Rügen ebenfalls erhoben werden können (
Art. 86 Abs. 2 OG;
BGE 114 Ia 201 E. 1,
BGE 113 Ia 229 E. bb,
BGE 112 Ia 86).
b) Die Rügen der mangelnden Begründung und der ungenügenden Befragung zu einzelnen Punkten bedürfen demnach, soweit sie sich auf
Art. 4 BV stützen, der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges. Auch soweit
Art. 6 EMRK, dessen Ziff. 3 hier in Betracht fällt, angerufen wird, ist dies der Fall.
Art. 6 Ziff. 3 EMRK geht in seiner Tragweite nicht über
Art. 4 BV hinaus (
BGE 114 Ia 179 mit Hinweisen) und betrifft daher auch nicht eine Rüge, für die die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht erforderlich wäre.
c) Gegen Urteile des Wirtschaftsstrafgerichts des Kantons Bern kann beim kantonalen Kassationshof Nichtigkeitsklage geführt werden (Art. 328 i.V.m. 330 Ziff. 2 StrV/BE; obwohl in Art. 328 neben dem Geschworenengericht und der Kriminalkammer das, wie sich aus Art. 208a und 208b ergibt, der letzteren gleichgestellte Wirtschaftsstrafgericht nicht ausdrücklich aufgeführt ist, ist dies nicht zweifelhaft: vgl. Urteil des Kassationshofes des Kantons Bern vom 5.6.1989 i.S. H.). Die Nichtigkeitsklage ist nach Art. 328 Ziff. 2 StrV unter anderem zulässig, "wenn in anderer Weise im Hauptverfahren ein Prozessrechtssatz verletzt wurde, sofern angenommen werden kann, dass dies für das Urteil von Bedeutung war". Zu den Prozessrechtsverletzungen, die gerügt werden können, zählen der Anspruch auf rechtliches Gehör und das sich daraus ergebende Recht auf Begründung des Entscheides (vgl.
BGE 116 Ia 73 S. 75
JÜRG AESCHLIMANN, Das bernische Strafverfahren, 3 - Besonderer Teil II, S. 87 § 248 und S. 105 sowie die dort zitierten Gerichtsentscheide; unveröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 30.9.1988 i.S. S. E. 1a). Vom in der erwähnten Gesetzesbestimmung genannten Erfordernis der Kausalität sind die sich aus
Art. 4 BV und
Art. 6 EMRK ergebenden, den Parteien rein formal zustehenden Ansprüche, wie insbesondere jener auf rechtliches Gehör, ausgenommen; in solchen Fällen ist der Kassationsgrund ein absoluter, zwingender (AESCHLIMANN, a.a.O., S. 86 unten).
Das Urteil des Wirtschaftsstrafgerichts hätte daher, was die geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs mangels genügender Begründung und mangels Anhörung zu wesentlichen Punkten betrifft, beim Kassationshof des Kantons Bern aus den gleichen Gründen angefochten werden können, wie dies mit der vorliegenden Beschwerde geschieht, auf die daher insoweit nicht einzutreten ist (unveröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 30.9.1988 i.S. S. E. 1; ebenso
BGE 101 Ia 89 für die analoge Rechtslage bei staatsrechtlichen Beschwerden gegen Urteile des bernischen Handelsgerichts, gegen die eine kantonalrechtliche Nichtigkeitsklage ebenfalls zur Verfügung steht). Der Beschränkung, nach welcher mit der kantonalen Nichtigkeitsklage allein eine Prozessrechtsverletzung "im Hauptverfahren" gerügt werden kann, kommt dabei keine Bedeutung zu, stellt doch die Fällung eines Urteils trotz Verweigerung des rechtlichen Gehörs im Untersuchungsverfahren - wenn diese nicht ohnehin geheilt wurde - gleichzeitig auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Hauptverfahren dar (so auch JACKOWSKY, Die Nichtigkeitsklage im bernischen Strafprozessrecht, Bern 1965, S. 41; unveröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 30.9.1988 i.S. S. E. 1b und c). Es ändert sich auch nichts dadurch, dass vor dem Kassationshof Bern die Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung nicht vorgebracht werden konnte (AESCHLIMANN, a.a.O., S. 105 Abs. 2 a.E. mit Hinweisen); die zulässigen Beschwerdegründe hätten gleichwohl mit der Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden müssen, wobei in der staatsrechtlichen Beschwerde gegen den Kassationsentscheid innert der gleichen Frist auch das Urteil des Wirtschaftsstrafgerichts hätte mit der Willkürrüge mitangefochten werden können (
BGE 114 Ia 311 E. 3a,
BGE 111 Ia 353 und
BGE 94 I 462 E. bb; zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des Bundesgerichts vom 22.12.1989 i.S. H.).