121 V 258
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Urteilskopf
121 V 258
41. Auszug aus dem Urteil vom 21. Dezember 1995 i.S. H. gegen Ausgleichskasse des Kantons Aargau und Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Regeste
Zu den Voraussetzungen, unter denen die IV die Kosten für invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen zu erstatten hat.
Beurteilung der Verwaltungspraxis.
A.- Die 1987 geborene H. ist seit Geburt körperlich und geistig schwerstbehindert und bezieht deswegen von der Invalidenversicherung die verschiedensten Leistungen, unter anderem Sonderschulbeiträge, Pflegebeiträge wegen schwerer Hilflosigkeit, einen Treppenfahrstuhl mit Sitzschale sowie einen Rollstuhl ohne motorischen Antrieb ("Rehabuggy").
Wegen Schwierigkeiten bei Einlad und Transport des ungefähr 22 kg schweren und auch zusammengeklappt noch grossen Kinderwagens tauschten die Eltern der Versicherten ihr Fahrzeug gegen einen "Renault Espace" ein. Um H., welche ziemlich schwer ist und den Kopf nicht selber halten kann, im Kinderwagen mit dem Auto transportieren zu können, liessen ihre Eltern den Renault Espace mit einer Teleskop-Rampe und einer Rollstuhlbefestigung mit Spindel ausstatten. Ein entsprechendes Gesuch um Übernahme der Kosten für diesen Motorfahrzeugumbau (Fr. 1'200.-) lehnte die Invalidenversicherung nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 24. Juni 1993 ab. Die Verwaltung verneinte insbesondere einen Anspruch auf Übernahme dieser Ausstattung unter dem Titel invaliditätsbedingte Abänderungen eines Motorfahrzeuges, da H. nicht Halterin des Fahrzeuges sei.
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 29. März 1994 ab.
C.- Der Vater von H. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es seien seiner Tochter die Kosten für die Motorfahrzeugabänderung zuzusprechen; zudem sei eine angemessene Parteientschädigung auszurichten.
Während die Ausgleichskasse eine auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde lautende Vernehmlassung der Invalidenversicherungs-Kommission einreicht, enthält sich das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) einer Stellungnahme.
Aus den Erwägungen:
1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin zu Lasten der Invalidenversicherung Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Ausstattung
BGE 121 V 258 S. 260
des Renault Espace ihrer Eltern mit einer Teleskop-Rampe und einer Rollstuhlbefestigung mit Spindel hat. Diese Frage beurteilt sich intertemporal nach den bei Verwirklichung des anspruchserheblichen Sachverhaltes gültigen Rechtsnormen (BGE 118 V 110 Erw. 3 mit Hinweis).
2. a) Gemäss Art. 21 IVG hat der Versicherte im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit in seinem Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf (Abs. 1). Der Versicherte, der infolge seiner Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf, hat ebenfalls im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit Anspruch auf solche Hilfsmittel (Abs. 2).
b) Laut Art. 2 der Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI), erlassen durch das Eidg. Departement des Innern (EDI) gestützt auf Art. 21 Abs. 4 IVG und Art. 14 IVV, besteht im Rahmen der im Anhang aufgeführten Liste Anspruch auf Hilfsmittel, soweit diese für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sind (Abs. 1); Anspruch auf die in dieser Liste mit * bezeichneten Hilfsmittel besteht, soweit diese für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit im Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung, die funktionelle Angewöhnung oder für die bei einzelnen Hilfsmitteln ausdrücklich genannte Tätigkeit notwendig sind (Abs. 2).
Die im HVI Anhang enthaltene Liste ist insofern abschliessend, als sie die in Frage kommenden Hilfsmittelkategorien aufzählt. Dagegen ist bei jeder Hilfsmittelkategorie zu prüfen, ob die Aufzählung der einzelnen Hilfsmittel (innerhalb der Kategorie) ebenfalls abschliessend oder bloss exemplifikatorisch ist (BGE 117 V 181 Erw. 3b mit Hinweis, BGE 115 V 193 Erw. 2b mit Hinweisen).
c) Der Versicherte hat in der Regel nur Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren (BGE 110 V 102 Erw. 2). Denn das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist; ferner muss der voraussichtliche Erfolg einer Eingliederungsmassnahme in einem vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten stehen (BGE 115 V 198 Erw. 4e/cc, 206 oben; ZAK 1992 S. 210 Erw. 3a).
3. a) Ziff. 10 HVI Anhang regelt die Abgabe von Motorfahrzeugen und Invalidenfahrzeugen und lautet in der vorliegend anwendbaren, seit 1. Januar 1993 gültigen Fassung wie folgt:
10 Motorfahrzeuge und Invalidenfahrzeuge für Versicherte, die voraussichtlich dauernd eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit ausüben und zur Überwindung des Arbeitsweges auf ein persönliches Motorfahrzeug angewiesen sind.
10.01* Motorfahrräder, zwei- bis vierrädrig
10.02* Kleinmotorräder und Motorräder
10.03* ...
10.04* Automobile
10.05 Invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen
Im Unterschied zu der bis 31. Dezember 1992 gültig gewesenen Regelung verzichtet Ziff. 10 Ingress HVI Anhang auf das Erfordernis, dass der Versicherte das Motorfahrzeug selbständig gefahrlos bedienen kann, und es fehlt bei Ziff. 10.05 HVI Anhang das *, wodurch die gesetzliche Zielrichtung dieser Hilfsmittelkategorie auf die Fortbewegung, die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt und die Selbstsorge gemäss Art. 21 Abs. 2 IVG und Art. 2 Abs. 1 HVI (Erw. 2a, b hievor) erweitert wird.
b) aa) Nach Auffassung des kantonalen Gerichts ist das Erfordernis der selbständigen gefahrlosen Bedienung des Motorfahrzeuges im Zuge der Verordnungsänderung vom 9. Oktober 1992 lediglich für jene Fälle preisgegeben worden, da das Automobil, dessen invaliditätsbedingte Abänderung verlangt werde, zur Erzielung eines existenzsichernden Erwerbseinkommens notwendig sei. Zur Begründung verweist die Vorinstanz auf das in ZAK 1988 S. 180 veröffentlichte Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts, woraus hervorgehe, dass die Hilfsmittelabgabe im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 IVG die selbständige Fortbewegung des Versicherten anstrebe und ermöglichen solle. Dementsprechend setze gemäss Rz. 10.05.1 der Wegleitung des BSV über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (WHMI) der Anspruch auf Vergütung der Kosten invaliditätsbedingter Abänderungen von Motorfahrzeugen alternativ voraus, dass die Versicherten das Fahrzeug selber lenken können oder Anspruch auf Leistungen gemäss Ziff. 10.01*-10.04* HVI Anhang haben.
bb) Der Auslegung von Ziff. 10.05 HVI Anhang durch das kantonale Gericht kann im Hinblick auf Wortlaut und Systematik des Anhangs zur HVI nicht beigepflichtet werden. Fehl geht zunächst die Berufung der Vorinstanz auf
BGE 121 V 258 S. 262
ZAK 1988 S. 180 (und den in diesem Zusammenhang ebenfalls zitierten ZAK 1983 S. 447). Denn in jenem Entscheid ging es um die - vom Eidg. Versicherungsgericht in der Folge bejahte - Frage, ob die Regelung der Abgabe von Elektrofahrstühlen gemäss Ziff. 9.02 HVI Anhang (in der bis 31. Dezember 1992 gültig gewesenen Fassung), soweit sie lediglich Versicherte für anspruchsberechtigt erklärte, welche dieses Hilfsmittel bedienen und sich damit selbst fortbewegen könnten, gesetzmässig war (ZAK 1988 S. 181 Erw. 2a). Diese Verordnungsbestimmung stipulierte somit selber das Erfordernis der selbständigen Fortbewegung durch einen Fahrstuhl mit elektromotorischem Antrieb. Genau diese Voraussetzung hat das zuständige Departement im Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz (Art. 21 Abs. 4 IVG) delegierten Kompetenzen in Ziff. 10 Ingress HVI Anhang und damit gesetzessystematisch für sämtliche Hilfsmittel nach Ziff. 10.01*-10.05 HVI Anhang gestrichen, indem es das Erfordernis der selbständigen gefahrlosen Bedienung fallengelassen hat. Hätte der Verordnungsgeber, wie die Vorinstanz annimmt, Ziffer 10.05 davon ausnehmen wollen, hätte er eine entsprechende abweichende Anordnung getroffen, und zwar um so mehr als die gleichzeitige Erweiterung der gesetzlichen Zielrichtung dieses Hilfsmittels (Erw. 3a) ganz auf der Linie der mit den Verordnungsänderungen vom 9. Oktober 1992 angestrebten Verbesserung der sozialen Integration behinderter Menschen liegt (vgl. Soziale Sicherheit 2/1993 S. 23). Ziff. 10.05 HVI Anhang kommt somit im Rahmen der auf den 1. Januar 1993 in Kraft getretenen Änderungen des Hilfsmittelrechts in zweifacher Hinsicht ein neuer Rechtssinn zu: Der Anspruch auf invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen kann weder mit dem Hinweis verneint werden, der Versicherte sei nicht imstande, selber das Motorfahrzeug zu führen, noch mit dem Einwand, er verwende das Auto nicht zur Ausübung einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit (oder zu einem der andern erwerblich orientierten Eingliederungsziele nach Art. 21 Abs. 1 IVG), dies unter dem Vorbehalt, dass im einen oder anderen Bereich ein erheblicher Eingliederungserfolg in einfacher und zweckmässiger Weise angestrebt wird (Erw. 4 hienach). Das kantonale Gericht hat daher den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Übernahme der Kosten der invaliditätsbedingten Abänderung des Fahrzeuges ihrer Eltern zu Unrecht mit der Begründung verneint, sie könne das abgeänderte Fahrzeug nicht selber lenken. Die sonst im Hilfsmittelrecht regelmässig beachtliche Funktion, die Autonomie des Versicherten zu erhöhen BGE 121 V 258 S. 263
(vgl. etwa ZAK 1988 S. 180), kommt im vorliegenden Regelungszusammenhang nicht zum Zuge.c) Der streitige Hilfsmittelanspruch scheitert sodann auch nicht daran, dass die Versicherte nicht Halterin des Fahrzeuges ist, an dem die invaliditätsbedingten Abänderungen vorgenommen worden sind.
Die gegenteilige, der angefochtenen Verfügung zugrunde liegende Auffassung stimmt zwar mit Rz. 10.05.1 WHMI (gemäss Nachtrag vom 1. August 1993) überein, wonach ein Anspruch gestützt auf Ziff. 10.05 HVI Anhang die Haltereigenschaft voraussetzt. Dies ist jedoch im Rahmen der Kompetenz des Sozialversicherungsrichters zur Überprüfung von Verwaltungsweisungen (vgl. dazu BGE 119 V 259 Erw. 3a mit Hinweisen) insofern ohne Belang, als die französische und italienische Version von Rz. 10.05.1 WHMI im Unterschied zum deutschen Text nicht verlangen, dass der Versicherte Halter des abzuändernden oder bereits abgeänderten Motorfahrzeuges ist (vgl. BGE 121 V 24 Erw. 4b mit Hinweisen). Zudem ist eine Anknüpfung an den Eigentumsverhältnissen dem Hilfsmittelrecht fremd. Dies ergibt sich allgemein daraus, dass (kostspielige) Hilfsmittel in der Regel leihweise abgegeben werden (vgl. Art. 21 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 3 HVI). Mit Bezug auf invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen (Ziff. 10.05 HVI Anhang) im besonderen sodann zeigt ein Blick in die Liste, dass die Invalidenversicherung viele Hilfsmittel abgibt (oder Amortisationsleistungen daran zuspricht), die in nicht dem Versicherten zu Eigentum gehörenden Mobilien oder Immobilien installiert werden (vgl. Ziff. 13.01* HVI Anhang [Invaliditätsbedingte Zusatzgeräte und Anpassungen für die Bedienung von Apparaten und Maschinen] oder Ziff. 14.04 HVI Anhang [Invaliditätsbedingte bauliche Änderungen in der Wohnung]).
d) Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Übernahme der Kosten für invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen nach Ziff. 10.05 HVI Anhang (gültig ab 1. Januar 1993) durch die Invalidenversicherung nicht voraussetzt, dass der Versicherte das Fahrzeug selber lenken kann. Dabei ist unerheblich, ob ein Anspruch auf Motorisierung nach Ziff. 10.01*-10.04* HVI Anhang besteht oder nicht. Insoweit Rz. 10.05.1 WHMI die Abgabe dieses Hilfsmittels an die Haltereigenschaft knüpft und alternativ verlangt, dass der Versicherte das Fahrzeug selber lenken kann oder Anspruch auf Leistungen gemäss Ziff. 10.01*-10.04* HVI hat, ist die Weisung verordnungswidrig.
4. Die Ausstattung des den Eltern der Beschwerdeführerin gehörenden Renault Espace mit einer Teleskop-Rampe und einer Rollstuhlbefestigung mit Spindel kann noch als invaliditätsbedingte Abänderung von Motorfahrzeugen im Sinne von Ziff. 10.05 HVI Anhang und der Hilfsmittelbegriff somit als erfüllt betrachtet werden (vgl. BGE 115 V 194 Erw. 2c, BGE 101 V 269 Erw. 1b), weil nicht der Mehrkomfort gegenüber dem seriellen Ausrüstungsstand in Frage steht, sondern die behinderungsbedingt erforderliche Anpassung. Die dabei angefallenen Kosten gehen somit zu Lasten der Invalidenversicherung, wenn und soweit diese Vorkehr zur Erreichung eines der in Art. 21 Abs. 1 und 2 IVG umschriebenen Zwecke während längerer Zeit notwendig ist und die Erfordernisse der Einfachheit und Zweckmässigkeit des Hilfsmittels gegeben sind (vgl. Art. 8 Abs. 1 IVG und Art. 21 Abs. 3 IVG). Dies ist zu bejahen.
Die streitige Abänderung ist für die soziale Integration der schwer und mehrfach behinderten Beschwerdeführerin notwendig, weil eine Fortbewegung, sei es zur Aufsuchung der Eingliederungsstätte, sei es im privaten Bereich, praktisch nur möglich ist, wenn sie im Reha-Kinderwagen mit dem Auto transportiert wird. Mit der Teleskop-Rampe und der Befestigungsvorrichtung kann das Eingliederungsziel der Fortbewegung auf einfache und zweckmässige Weise erreicht werden. Es handelt sich dabei um behindertengerechte Vorkehren, welche sich in solchen Verhältnissen bewährt haben. Schliesslich ist auch das für eine nichterwerbliche Hilfsmittelabgabe spezifische Kriterium der Kostspieligkeit erfüllt, belaufen sich doch die Abänderungskosten auf Fr. 1'200.-.