129 III 60
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Chapeau
129 III 60
10. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Y. (Nichtigkeitsbeschwerde)
5C.148/2002 vom 25. Oktober 2002
Regeste
Art. 137 et art. 172 ss CC ; mesures visant à organiser la vie séparée.
Avant que l'action en divorce soit pendante, le juge des mesures protectrices de l'union conjugale prend toutes les mesures pour l'organisation de la vie séparée; après, le juge du divorce est compétent pour le faire. Délimitation des compétences lorsque le procès en divorce est introduit pendant la procédure de mesures protectrices de l'union conjugale (consid. 1-4.2).
Die Parteien sind verheiratet und haben einen Sohn (Jahrgang 1996). Nach ihrer Trennung lebte das Kind abwechselnd bei seinem Vater und bei seiner Mutter, weil es nach dem Besuch beim einen Elternteil jeweilen nicht mehr zum anderen zurückgebracht wurde.
Im Oktober/November 2001 ersuchte die Ehefrau um Eheschutz mit dem Antrag, ihr das Getrenntleben zu bewilligen und dessen Folgen zu regeln. Mit dringlicher Anordnung vom 18. März 2002 stellte
BGE 129 III 60 S. 61
das Amtsgericht Luzern-Stadt den Sohn der Parteien unter die elterliche Obhut der Kindsmutter und regelte das Besuchsrecht des Kindsvaters. Mit Eingaben vom 21. März 2002 erhob der Ehemann beim Bezirksgericht March Klage auf Scheidung und stellte ein Gesuch um vorsorgliche Massnahmen während des Scheidungsverfahrens. Am 10. April 2002 erklärte das Amtsgericht Luzern-Stadt das Eheschutzverfahren zufolge Gegenstandslosigkeit für erledigt. Den Rekurs der Ehefrau hiess das Obergericht des Kantons Luzern gut und hob den Erledigungsentscheid auf. Auf das Begehren der Ehefrau, die dringliche Anordnung vom 18. März 2002 zu vollstrecken, trat das Obergericht nicht ein.Der Ehemann hat gegen den obergerichtlichen Rekursentscheid Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt, die das Bundesgericht abweist, soweit darauf eingetreten werden kann.
Aus den Erwägungen:
1. Den Nichtigkeitsgrund gemäss Art. 68 Abs. 1 lit. e OG erblickt der Beschwerdeführer darin, dass das Obergericht eine Zuständigkeit des Eheschutzgerichts Luzern-Stadt bejaht habe, obwohl und nachdem er beim Bezirksgericht March Scheidungsklage angehoben und gleichzeitig ein Gesuch um vorsorgliche Massnahmen während des Scheidungsverfahrens gestellt habe. Die Zuständigkeit, das Getrenntleben bis zum Urteil über die Scheidung und deren Folgen zu regeln, sei damit auf das Scheidungsgericht übergegangen; das Eheschutzgericht habe das noch vor ihm hängige Verfahren deshalb zu Recht als gegenstandslos abgeschrieben.
2. Sobald das gemeinsame Scheidungsbegehren oder die Klage eines Ehegatten auf Scheidung beim zuständigen Gericht (Art. 135 ZGB) rechtshängig gemacht worden ist (Art. 136 ZGB), können Eheschutzmassnahmen im Sinne von Art. 172 ff. ZGB für die Zeit nach Eintritt der Rechtshängigkeit nicht mehr getroffen, sondern nur noch vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 137 Abs. 2 ZGB angeordnet werden. Anordnungen, die das Eheschutzgericht vor Eintritt der Rechtshängigkeit der Scheidung getroffen hat, bleiben während des Scheidungsverfahrens in Kraft, solange sie nicht durch vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 137 Abs. 2 ZGB abgeändert werden. Diese beiden Grundsätze, die das Bundesgericht vor der ZGB-Revision von 1998/2000 aufgestellt hat (vgl. namentlich BGE 101 II 1), gelten auch unter Herrschaft des aktuellen Scheidungsrechts (Basler
BGE 129 III 60 S. 62
Kommentar, 2002: GLOOR, N. 4 zu Art. 137 ZGB, und SCHWANDER, N. 15 zu Art. 180 ZGB; SUTTER/FREIBURGHAUS, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, N. 12, und LEUENBERGER, in: Praxiskommentar Scheidungsrecht, Basel 2000, N. 8, je zu Art. 137 ZGB, je mit weiteren Nachweisen).
3. Nach der auf das bisherige Recht gestützten Praxis des Bundesgerichts wird ein Eheschutzverfahren durch Anhängigmachung des Scheidungsprozesses nicht einfach gegenstandslos. Das Eheschutzgericht bleibt zuständig für Massnahmen bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit der Scheidung, selbst wenn es darüber erst nach diesem Zeitpunkt entscheiden kann (BGE 101 II 1 S. 2 f.). Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten ist somit der Eintritt der Rechtshängigkeit der Scheidung massgebend: Für die Zeit davor trifft das Eheschutzgericht sämtliche Massnahmen zur Regelung des Getrenntlebens, für die Zeit danach ist hierfür das Scheidungsgericht zuständig. An dieser Zuständigkeitsabgrenzung hat nichts geändert, dass Art. 173 Abs. 3 ZGB sinngemäss auch auf vorsorgliche Massnahmen während des Scheidungsverfahrens für anwendbar erklärt worden ist, d.h. dass Geldleistungen nicht nur für die Zukunft, sondern auch für das Jahr vor Einreichen des Begehrens gefordert werden können; diese Rückwirkung ist nach der bisherigen Rechtsprechung nur innerhalb des Scheidungsverfahrens möglich und gestattet es dem Scheidungsgericht nicht, Anordnungen für den Zeitraum vor der Rechtshängigkeit der Scheidung zu treffen, für den das Eheschutzgericht zuständig ist (BGE 115 II 201 E. 4a S. 205; Urteil des Bundesgerichts 5P.177/1993 vom 20. August 1993, E. 3a). Diese Lösung bietet keine Probleme, wenn bei Eintritt der Rechtshängigkeit der Scheidung ein Eheschutzverfahren hängig ist. Sie kann sich aber als wenig prozessökonomisch erweisen, wenn für den Zeitraum vor der Rechtshängigkeit der Scheidung neben dem Massnahmenverfahren ein zusätzliches Eheschutzverfahren neu eröffnet werden muss (LÜCHINGER/GEISER, Basler Kommentar, 1996, N. 20 zu aArt. 145 ZGB). Nach der Zürcher Praxis ist deshalb das Scheidungsgericht zur Regelung des Unterhalts für die Zeit vor der Rechtshängigkeit der Scheidung befugt, sofern kein Eheschutzverfahren anhängig ist (SPÜHLER/FREI-MAURER, Berner Kommentar, Ergänzungsband, 1991, N. 32 zu aArt. 145 ZGB).
Es stellt sich die Frage, ob die bundesgerichtliche Rechtsprechung auch nach der ZGB-Revision von 1998/2000 beizubehalten ist. Mit der Marginalie "Vorsorgliche Massnahmen während des
BGE 129 III 60 S. 63
Scheidungsverfahrens" sieht Art. 137 Abs. 1 ZGB vor, dass jeder Ehegatte nach Eintritt der Rechtshängigkeit für die Dauer des Verfahrens den gemeinsamen Haushalt auflösen kann. Gemäss Abs. 2 derselben Bestimmung trifft das Gericht die nötigen Massnahmen (Satz 1), und zwar selbst dann, wenn die Ehe aufgelöst ist, das Verfahren über Scheidungsfolgen aber fortdauert (Satz 2); die Bestimmungen über die Massnahmen zum Schutz der ehelichen Gemeinschaft sind sinngemäss anwendbar (Satz 3), und Unterhaltsbeiträge können für die Zukunft und für das Jahr vor Einreichung des Begehrens gefordert werden (Satz 4). Dieser letzte Satz ist erst im Nationalrat ergänzt worden, ohne dass darüber eine Diskussion stattgefunden hätte (AB 1997 N 2726). Der Ständerat hat "dieser redaktionellen Verdeutlichung bzw. Ergänzung" zugestimmt nach der Erläuterung des Berichterstatters, der Verweis auf Eheschutzmassnahmen führe über die Anwendung von Art. 173 i.V.m. Art. 176 ZGB zum genau gleichen Resultat (AB 1998 S 327 f.). In Satz 4 von Art. 137 Abs. 2 ZGB wird daher grundsätzlich die Regelung des Eheschutzverfahrens übernommen, wie das zuvor bereits die Rechtsprechung getan hat. Eine gesetzgeberische Absicht, an der bisherigen Abgrenzung der Zuständigkeiten etwas zu ändern, ist aus den Materialien nicht ersichtlich (vgl. auch die Botschaft, BBl 1996 I 1, S. 135 ff. Ziff. 234.3 und 234.4).Gleichwohl hat neu das Gericht gestützt auf die ausdrückliche Vorschrift in Art. 137 Abs. 2 letzter Satz ZGB die Möglichkeit, Unterhaltsbeiträge für das Jahr vor Einreichung des Begehrens zuzusprechen. Diese einjährige Rückwirkung gilt grundsätzlich auch für die Zeit vor Rechtshängigkeit der Scheidung und bietet keine besonderen Schwierigkeiten, wenn davor weder ein Eheschutzverfahren betreffend Unterhaltsbeiträge durchgeführt worden ist noch ein solches hängig ist. Trifft aber das eine oder das andere zu, besteht ein positiver Kompetenzkonflikt zwischen dem Eheschutz- und dem Scheidungsgericht. Dieser Konflikt ist unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung und der Entstehungsgeschichte von Art. 137 Abs. 2 letzter Satz ZGB zu lösen. Das bedeutet, dass die Rückwirkung die Zeit vor Rechtshängigkeit der Scheidung nicht erfasst, wenn ein Eheschutzverfahren durchgeführt worden ist oder noch hängig ist. In diesem Fall sind vorsorgliche Massnahmen für die Zeit vor Rechtshängigkeit der Scheidung nicht nötig (Art. 137 Abs. 2 erster Satz ZGB), weil diese das Eheschutzgericht entweder bereits getroffen hat oder noch treffen wird (vgl. zur Diskussion dieser Frage: GLOOR, a.a.O., N. 10 Abs. 2, SUTTER/FREIBURGHAUS, a.a.O,
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N. 31, und LEUENBERGER, a.a.O., N. 10, je zu Art. 137 ZGB; HAUSHEER/REUSSER/GEISER, Berner Kommentar, 1999, N. 6 zu Art. 180 ZGB, auch in N. 14a zu Art. 176 ZGB; ZR 101/2002 S. 92).
4. Es ist unbestritten, dass die Scheidungsklage des Beschwerdeführers und das damit verbundene Massnahmenbegehren seit dem 21. März 2002 beim zuständigen Bezirksgericht March rechtshängig sind. Die gezeigten Grundsätze bedeuten im konkreten Fall, was folgt:
4.1 Während des Eheschutzverfahrens ist einzig eine dringliche Anordnung im Sinne von § 231 ZPO/LU ergangen. Das Amtsgericht hat am 18. März 2002 den Sohn der Parteien unter die elterliche Obhut der Beschwerdegegnerin gestellt, bei der er in jenem Zeitpunkt lebte, und das Besuchsrecht des Beschwerdeführers geregelt. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist das Eheschutzgericht für diese Anordnung zuständig gewesen, zumal die Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens erst am 21. März 2002 begründet worden ist und Bundesrecht vorsorglichen Massnahmen kantonalen Rechts im Rahmen des Eheschutzes nicht entgegensteht (HAUSHEER/REUSSER/GEISER, a.a.O., N. 21 zu Art. 180 ZGB, mit Nachweisen). Die dringliche Anordnung unterliegt kantonal keinem Rechtsmittel (§ 231 Abs. 2 ZPO/LU) und ist insoweit formell rechtskräftig (§ 112 ZPO/LU; vgl. STUDER/RÜEGG/EIHOLZER, Der Luzerner Zivilprozess, Kriens 1994, N. 4 zu § 231 und N. 1 zu § 238 ZPO/LU). Sie fällt mit der Rechtshängigkeit der Scheidung nicht einfach dahin, solange das Scheidungsgericht keine andere Regelung trifft (E. 2 hiervor). Ob die dringliche Anordnung vollstreckt werden kann oder soll, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und von den zuständigen Vollstreckungsbehörden zu entscheiden.
4.2 Wie das Obergericht zu Recht festgehalten hat, bleibt das Amtsgericht Luzern-Stadt zuständig für die Unterhaltsfrage und die Regelung weiterer finanzieller Belange, soweit es um die Zeit vor dem 21. März 2002 geht. Diesbezüglich muss das Eheschutzverfahren noch zu Ende geführt werden (E. 3 hiervor). Um diese Fragen beantworten zu können, muss das Amtsgericht auch über die strittige Obhutszuteilung und als Folge davon über die Besuchsrechtsregelung betreffend den Sohn der Parteien sowie die Benützung der ehelichen Wohnung und des Hausrats entscheiden. Das Eheschutzgericht ist dabei zwar nur für die Zeit bis zur Rechtshängigkeit der Scheidungsklage zuständig, doch wirkt sein Entscheid darüber hinaus, bis der Scheidungsrichter etwas anderes verfügt hat.