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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
8C_259/2019  
 
 
Urteil vom 14. Oktober 2019  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin, 
Gerichtsschreiberin Elmiger-Necipoglu. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Melanie Schneider-Koch, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 11. März 2019 (VBE.2017.685). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1964 geborene A.________ arbeitete zuletzt als Taxichauffeuse bei der B.________ AG. Am 29. August 2007 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Im Wesentlichen gestützt auf das psychiatrische Gutachten der Dr. med. C.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 29. Oktober 2009 wies die IV-Stelle des Kantons Aargau mit rechtskräftiger Verfügung vom 4. Februar 2010 das Leistungsbegehren mangels Invalidität ab.  
 
A.b. Auf eine am 30. Juli 2012 eingereichte Neuanmeldung trat die IV-Stelle nicht ein (Verfügungen vom 20. Dezember 2013). Auf ein Wiedererwägungsgesuch vom 4. Februar 2014 trat sie ebenfalls nicht ein (Mitteilung vom 10. Februar 2014).  
 
A.c. Mit Schreiben vom 24. Juni 2015 stellte A.________ erneut einen Antrag auf eine Invalidenrente. Daraufhin klärte die IV-Stelle den medizinischen Sachverhalt ab und veranlasste ein interdisziplinäres Gutachten der Academy of Swiss Insurance Medicine (nachfolgend: asim), das am 22. September 2016 erstattet wurde. Mit Verfügung vom 12. Juli 2017 sprach ihr die IV-Stelle, wie vorbeschieden, gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 64 % eine Dreiviertelsrente mit Wirkung ab 1. Dezember 2015 zu.  
 
B.   
Nachdem das kantonale Gericht ein interdisziplinäres ABI-Gutachten vom 6. November 2018 eingeholt und darauf gestützt A.________ eine reformatio in peius angedroht hatte, wies es ihre Beschwerde mit Entscheid vom 11. März 2019 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei ihr ab 28. Februar 2008 eine Invalidenrente von mindestens 75 % zuzusprechen. Eventualiter sei ein unabhängiges polydisziplinäres Obergutachten in Auftrag zu geben; subeventualiter sei das ABI-Gutachten der asim-Gutachterstelle zur Stellungnahme zuzustellen; subsubeventualiter sei die Sache an die Vorinstanz oder an die IV-Stelle zur Vervollständigung des Sachverhalts und zur neuen Entscheidung zurückzuweisen. Ferner ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
Die IV-Stelle beantragt Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen lässt sich nicht vernehmen. 
 
D.   
Am 2. Mai 2019 machte das Bundesgericht auf einen Fehler im Dispositiv (trotz Androhung keine reformatio in peius angeordnet) aufmerksam, wozu die Vorinstanz am 13. Mai 2019 Stellung nahm. Die Parteien verzichteten auf Ausführungen dazu. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist (Art. 97 Abs. 1 BGG) oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht. 
 
2.  
 
2.1. Mit Beschluss vom 29. Januar 2019 stellte die Vorinstanz der Beschwerdeführerin in Aussicht, die zugesprochene Dreiviertelsrente aufzuheben und räumte ihr praxisgemäss Gelegenheit zur Stellungnahme ein. Sie machte sie ferner darauf aufmerksam, dass sie die reformatio in peius mittels Rückzug ihrer Beschwerde abwenden könne. Mit Eingabe vom 28. Februar 2019 hielt die Versicherte an der Beschwerde fest und änderte das Rechtsbegehren dahingehend, dass namentlich weitere Abklärungen zu tätigen seien. Mit Entscheid vom 11. März 2019 wies schliesslich das Versicherungsgericht die Beschwerde, die auf eine ganze statt auf eine Dreiviertelsrente abzielte, lediglich ab, ohne die Rente aufzuheben.  
 
2.2. Aus der vorinstanzlichen Vernehmlassung sowie den Erwägungen des angefochtenen Entscheids ergibt sich jedoch klar, dass das kantonale Gericht beabsichtigte, die rentenzusprechende Verfügung vom 12. Juli 2017 aufzuheben. Somit ist streitig und zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die Dreiviertelsrente per 1. Dezember 2015 aufhob.  
 
3.  
 
3.1. In materiellrechtlicher Hinsicht mass die Vorinstanz dem ABI-Gerichtsgutachten vom 6. November 2018 volle Beweiskraft zu. Ferner erwog sie, die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit der Beschwerdeführerin sei zwar im massgeblichen Zeitraum von Dezember 2015 bis Juli 2017 wegen des Medikamenten- und Benzodiazepinkonsums sowie einer "gewissen" depressiven Problematik in einem nicht sicher bestimmbaren Ausmass eingeschränkt gewesen. Nach der Rechtsprechung würden aber Suchterkrankungen (Drogensucht, Alkoholismus und Medikamentenmissbrauch) als solche nicht zu einer Invalidität im Sinne des Gesetzes führen. Mit Hinweis auf die Rechtsprechung für Suchterkrankungen (BGE 124 V 265 E. 3c S. 268), kam sie allerdings zum Schluss, die Voraussetzungen für die Annahme einer invalidisierenden Suchterkrankung seien nicht erfüllt. Sie befand weiter, der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin habe sich durch den stattgefundenen Entzug verbessert. Da die Suchtproblematik bei der Beurteilung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit auszuklammern sei und das depressive Geschehen retrospektiv sich nicht auf die Arbeits-und Erwerbsfähigkeit auswirke, sei von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als Taxifahrerin oder einer anderen leidensangepassten Tätigkeit zwischen Dezember 2015 und Juli 2017 auszugehen. In revisionsrechtlicher Hinsicht hielt sie im Übrigen fest, es bestehe keine wesentliche Veränderung des Gesundheitszustands, so dass das Rentenbegehren abzuweisen und die am 12. Juli 2017 verfügte Rentenzusprache aufzuheben sei.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz hauptsächlich eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 61 lit. c ATSG) vor. Sie macht geltend, mit dem asim-Gutachten und dem ABI-Gutachten würden zwei gleichwertige polydisziplinäre Gutachten vorliegen, die einander massiv widersprächen. Die Vorinstanz hätte es pflichtwidrig unterlassen, weitere notwendige medizinische Abklärungen vorzunehmen.  
 
4.   
Mit dem jüngst ergangenen, zur Publikation in der amtlichen Sammlung bestimmten Urteil 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 hat das Bundesgericht vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zur Ausdehnung des strukturierten Beweisverfahrens gemäss BGE 141 V 281 auf sämtliche psychischen Störungen (BGE 143 V 409 und 418) und nach vertiefter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Medizin die bisherige Rechtsprechung, wonach primäre Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen zum Vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen können und ihre funktionellen Auswirkungen deshalb keiner näheren Abklärung bedürfen, fallen gelassen (E. 5.3.3). Es hat entschieden, dass fortan - gleich wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln sei, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirke. Dabei kann und muss im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten Einzelfall Rechnung getragen werden (E. 6.3). Diesem komme nicht zuletzt deshalb Bedeutung zu, weil bei Abhängigkeitserkrankungen - wie auch bei anderen psychischen Störungen - oft eine Gemengelage aus krankheitswertiger Störung sowie psychosozialen und soziokulturellen Faktoren vorliege. Letztere seien auch bei Abhängigkeitserkrankungen auszuklammern, wenn sie direkt negative funktionelle Folgen zeitigen würden. Weiter wird im Urteil festgehalten, dass auch bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms die Schadenminderungspflicht (Art. 7 IVG) zur Anwendung komme, so dass von der versicherten Person etwa die aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden könne (Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG). Komme sie den ihr auferlegten Schadenminderungspflichten nicht nach, sondern erhalte willentlich den krankhaften Zustand aufrecht, sei nach Art. 7b Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 21 Abs. 4 ATSG eine Verweigerung oder Kürzung der Leistungen möglich (E. 5.3.1). 
 
5.  
 
5.1. Diese neue Rechtsprechung ist auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht erledigten Fälle anzuwenden (vgl. Urteil 8C_756/2017 vom 7. März 2018 E. 4 mit weiterem Hinweis) und somit auch im vorliegenden Fall massgebend.  
 
5.2. Die Vorinstanz hat in ihrem Entscheid, der vor dem massgeblichen Urteil vom 11. Juli 2019 erging, entsprechend der bisherigen Rechtsprechung nicht überprüft, ob das ABI-Gutachten den normativen Vorgaben von BGE 141 V 281 auch hinsichtlich des Suchtgeschehens genügte. Die Angelegenheit ist demzufolge an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie dies nachholt und darauf gestützt neu entscheide.  
 
6.   
Die Rückweisung der Sache gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt und ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 141 V 281 E. 11.1 S. 312; 137 V 210 E. 7.1 S. 271 je mit Hinweisen). Mithin hat die unterliegende IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten, womit sich das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos erweist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 11. März 2019 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Sammelstiftung BVG der Allianz Suisse Lebensversicherungs-Gesellschaft, Zürich, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 14. Oktober 2019 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Elmiger-Necipoglu