Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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8C_391/2017
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Urteil vom 6. Oktober 2017
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiberin Polla.
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Uri, Dätwylerstrasse 11, 6460 Altdorf UR,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________, handelnd durch seine Eltern, und diese vertreten durch Rechtsanwalt Zacharias Ziegler,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Hilfsmittel),
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 21. April 2017 (OG V 17 3).
Sachverhalt:
A.
Der 2006 geborene A.________ leidet an einer ametropen Amblyopie sowie an einer hohen Hyperopie beidseits, wofür die Invalidenversicherung in Anerkennung eines Geburtsgebrechens medizinische Massnahmen, namentlich in Form einer Brille, gewährt (Verfügung vom 21. Mai 2010). Am 12. Dezember 2016 verneinte die IV-Stelle Uri verfügungsweise einen Anspruch auf Kostenübernahme für Kontaktlinsen, die zusätzlich zur Brille beantragt wurden.
B.
Das Obergericht des Kantons Uri hiess die dagegen eingereichte Beschwerde gut und stellte fest, dass A.________ Anspruch auf einen Kostenbeitrag an die Kontaktlinsen - maximal in Höhe der Kosten für eine Brille - habe (Entscheid vom 21. April 2017).
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids. Eventualiter sei ihr die Sache zur weiteren Abklärung zurückzuweisen.
A.________ lässt Abweisung der Beschwerde beantragen, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art. 95 lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.
2.1. Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen (Art. 1 Abs. 1 GgV). Sie sind in der Liste im Anhang zur Verordnung aufgeführt. Das Eidgenössische Departement des Innern kann eindeutige Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG bezeichnen (Art. 1 Abs. 2 GgV). Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV).
2.2. Gemäss Art. 21 Abs. 1 Satz 1 IVG hat die versicherte Person im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren sie für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit im Aufgabenbereich, zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit, für die Schulung, die Aus- und Weiterbildung oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf. Abs. 2 der Bestimmung sieht vor, dass die versicherte Person, die infolge Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf, im Rahmen der vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit Anspruch auf solche Hilfsmittel hat. Der Bundesrat hat in Art. 14 IVV dem Departement des Innern den Auftrag übertragen, die Liste der in Art. 21 IVG vorgesehenen Hilfsmittel zu erstellen. Nach Art. 2 der entsprechenden Verordnung vom 29. November 1976 über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI) besteht im Rahmen der im Anhang aufgeführten Liste Anspruch auf Hilfsmittel, soweit diese für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontakts mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sind (Abs. 1). Der Anspruch erstreckt sich auch auf das invaliditätsbedingt notwendige Zubehör und die invaliditätsbedingten Anpassungen (Abs. 3). Laut Art. 2 Abs. 2 HVI besteht Anspruch auf die im Anhang mit (*) bezeichneten aufgelisteten Hilfsmittel nur, soweit diese für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit im Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung, die funktionelle Angewöhnung oder für die in der zutreffenden Ziffer des Anhangs ausdrücklich genannte Tätigkeit notwendig sind (vgl. auch Rz. 1018 des Kreisschreibens des BSV über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung [KHMI], gültig ab 1. Januar 2013, in der hier massgeblichen Fassung "Stand 1. Januar 2016").
3.
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht in bundesrechtswidriger Weise den Anspruch auf die (teilweise) Kostenübernahme von Kontaktlinsen zusätzlich zu den Brillenkosten bejahte.
4.
4.1. Die Vorinstanz erwog, es liege mit der festgestellten Sehschwäche unstrittig ein Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG) nach Ziff. 425 GgV-Anhang vor, weshalb die Invalidenversicherung die Kosten einer Brille als Behandlungsgerät übernehme. Nach Rz. 425.4 des Kreisschreibens des BSV über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME) könnten Kontaktlinsen als Behandlungsgerät nur abgegeben werden, wenn eine Anisometropie von mindestens 4 Dioptrien vorliege oder mit Kontaktlinsen eine um mindestens zwei Zehntel bessere Sehschärfe erzielt werde als mit Brillengläsern. Die Parteien seien sich darüber einig, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Zu bejahen sei aber der Anspruch auf eine Reservebrille als Hilfsmittel nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 IVG. Gemäss der Verwaltungsweisung Rz. 2071 KHMI seien Brillen und Kontaktlinsen zwar grundsätzlich nur in einem Exemplar (keine Reservebrille) abzugeben. Hingegen könnten Brillen bzw. Kontaktlinsen Versicherten, die ohne Brille weitgehend hilflos seien, in doppelter Ausführung abgegeben werden. Dies sei z.B. bei Vorliegen eines unkorrigierten Visus von beidseits weniger als 0,2 oder bei Kataraktoperationen ohne Linsenimplantation der Fall. Bei einem korrigierten Visus von 0,2 beidseits im Jahr 2010 sei die Voraussetzung eines unkorrigierten Visus von beidseits weniger als 0,2 vorliegend gegeben. Es bestehe ein substitutionsfähiger aktueller Leistungsanspruch. Das Motiv zur Anschaffung von Kontaktlinsen sei schützenswert. Da die Kontaktlinsen die Funktion der Brille übernehmen würden, stehe ihm in Austauschbefugnis zu einer zweiten Brille die Kostenübernahme in der Höhe einer Brille zu.
4.2. Die IV-Stelle wendet dagegen ein, die Vorinstanz verkenne, dass es sich bei der Brille des Versicherten um ein Behandlungsgerät handle und nicht um ein Hilfsmittel. Es verletze Bundesrecht, wenn sie gestützt auf die Bestimmungen der HVI und des KHMI einen Anspruch auf zwei Exemplare herleite. Zudem sei nicht aktenkundig, wie viel der unkorrigierte Visus aktuell betrage. Es sei willkürlich, anzunehmen, dieser liege beidseits - wie im Jahre 2010 - immer noch unter 0,2. Vielmehr sei eine Verbesserung desselben zu erwarten, da die Abgabe von Brillen bei Refraktionsanomalien (Geburtsgebrechen Ziff. 425) gerade eine Verbesserung des Visus bezweckten. Sofern das Bundesgericht einen Anspruch auf doppelte Abgabe eines Behandlungsgeräts bejahe, sei die unkorrigierte Sehschärfe abzuklären.
5.
5.1. Es steht fest, dass die Brille des Versicherten als medizinisches Behandlungsgerät als notwendiger Bestandteil einer medizinischen Massnahme nach Art. 13 IVG gewährt wurde, da er an einem Geburtsgebrechen nach Ziff. 425 im Anhang zur GgV leidet. Gemäss Art. 1 Abs. 2 HVI gelten die Art. 3-9 sinngemäss für die Abgabe von Behandlungsgeräten, die einen notwendigen Bestandteil einer medizinischen Eingliederungsmassnahme im Sinne der Art. 12 und 13 IVG bilden und die nicht in der im Anhang enthaltenen Liste aufgeführt sind. Damit finden die Bestimmungen über die Abgabe von Hilfsmitteln jedenfalls sinngemäss bei Behandlungsgeräten Anwendung, wobei Brillen und Kontaktlinsen im Anhang sogar erwähnt sind (Ziff. 7.01* f. HVI-Anhang). Dies entspricht auch dem Wortlaut von Rz. 1217 KSME (in der hier in zeitlicher Hinsicht anwendbaren, seit 1. Juli 2016 gültigen Fassung). Eine zweite Brille kann demnach, auch wenn sie ein Behandlungsgerät darstellt, unter der für die Verwaltung verbindlichen Voraussetzung abgegeben werden, dass ein unkorrigierter Visus von beidseits weniger als 0,2 besteht (Rz. 2071 KHMI).
5.2. Mit der Vorinstanz liegt ferner, sofern die Bedingungen für die Abgabe einer zweiten Brille erfüllt sind, im Rahmen der aus dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz (vgl. Art. 8 Abs. 1 IVG) fliessenden Austauschbefugnis ein substitutionsfähiger aktueller gesetzlicher Leistungsanspruch vor (Urteil 8C_81/2010 vom 7. Juli 2010 E. 6.1, nicht publ. in BGE 136 V 209, aber in: SVR 2011 IV Nr. 21 S. 56; BGE 131 V 107 E. 3.2.1 S. 111 f. mit Hinweisen, 167 E. 5.1 S. 173 mit Hinweis; SVR 2010 IV Nr. 10 S. 31, 9C_13/2009 E. 7.1 mit Hinweisen; vgl. auch: BGE 133 V 218 E. 4.3 S. 220).
5.3. Die Beschwerdeführerin rügt jedoch zu Recht, ein im Verfügungszeitpunkt aktueller Wert des unkorrigierten Visus liege nicht bei den Akten; es sei zu erwarten, dass sich der Visus dank der Brille in den letzten sieben Jahren verbessert habe. Das kantonale Gericht stellte gestützt auf eine bei Erlass der Verfügung im Dezember 2016 rund sechseinhalb Jahre zurück liegende Angabe des Dr. med. B.________, Facharzt für Ophthalmologie, Leitender Arzt, Augenklinik C.________, vom 20. Mai 2010, über einen korrigierten Visus von 0,2 ab, um einen unkorrigierten unveränderten Visus beidseits von unter 0,2 im massgebenden Zeitpunkt für plausibel zu halten. Dies verletzt den Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG) und das bundesrechtlich vorgegebene Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. BGE 135 V 39 E. 6.1 S. 45). Die Sache ist daher zur Abklärung des unkorrigierten Visus beider Augen im Sinne von Rz. 2071 KHMI mit anschliessender neuer Verfügung, wie von der IV-Stelle eventualiter beantragt, an diese zurückzuweisen.
5.4. Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung oder an die Vorinstanz zu erneuter Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 Satz 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG , unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235; u.a. Urteil 8C_279/2015 vom 27. August 2015 E. 4.1 mit Hinweisen). Demgemäss sind die Prozesskosten dem Beschwerdegegner zu überbinden, dem keine Parteientschädigung zusteht. Der Beschwerdeführerin wird sodann kein Parteikostenersatz zugesprochen, weil sie als eine mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Organisation in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegt (Art. 68 Abs. 3 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 21. April 2017 wird aufgehoben. Die Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch des Beschwerdegegners neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 6. Oktober 2017
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Maillard
Die Gerichtsschreiberin: Polla