Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 502/04
Urteil vom 16. März 2005
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Grunder
Parteien
K.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann, Hauptstrasse 36,
4702 Oensingen,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
(Entscheid vom 29. Juni 2004)
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 25. März 2002 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau dem 1944 geborenen K.________ auf Grund eines Invaliditätsgrades von 59 % eine halbe Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Januar 2002 zu. Im Rahmen einer von Amtes wegen durchgeführten Revision holte sie einen Bericht des Dr. med. W.________, Arzt für allgemeine Medizin FMH, vom 20. Januar 2003 ein und hob die Rente auf Ende April 2003 auf (Verfügung vom 4. März 2003). Hiegegen reichte der Versicherte unter Auflage einer Stellungnahme des Dr. med. B.________, praktischer Arzt, vom 21. April 2003 Einsprache ein. Die IV-Stelle veranlasste eine rheumatologische (Expertise des Spitals X.________, Rheumaklinik und Institut für physikalische Medizin und Rehabilitation, vom 12. November 2003) sowie eine psychiatrische Exploration (Gutachten des Dr. med. G.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 15. Januar 2004) und lehnte die Einsprache mit Entscheid vom 26. Februar 2004 ab.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 29. Juni 2004).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K.________ beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids seien ihm "die gesetzlichen Leistungen nach Massgabe eines Invaliditätsgrades von mindestens 50 %", zuzüglich "Verzugszins von 5 %" auszurichten; eventualiter sei die Sache zu neuer Beurteilung und Verfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen; die "Beschwerdegegner seien solidarisch zu verpflichten, die Honorarkosten" des letztinstanzlich eingereichten Gutachtens des Dr. med. R.________, Facharzt FMH für Rheumatologie und Rehabiliation, vom 2. August 2004 zu bezahlen. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Ändert sich der Invaliditätsgrad eines Rentenbezügers erheblich, so wird gemäss Art. 17 ATSG die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Abs. 1). Die Frage der wesentlichen Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen beurteilt sich durch Vergleich des Sachverhalts, wie er im Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenverfügung bestanden hat, mit demjenigen zur Zeit der Neubeurteilung (BGE 130 V 351 Erw. 3.5.2, 125 V 369 Erw. 2 mit Hinweis; siehe auch BGE 112 V 372 Erw. 2b und 390 Erw. 1b), d.h. des Einspracheentscheids betreffend die Rentenrevision (in diesem Sinne - im Rahmen der erstmaligen Invaliditätsbemessung - Urteil M. vom 3. Januar 2005, I 172/04). Eine bloss unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts stellt praxisgemäss keine revisionsbegründende Änderung dar (BGE 112 V 372 unten mit Hinweisen; SVR 2004 IV Nr. 5 S. 13).
1.2 Der Revisionsordnung nach Art. 17 ATSG geht der Grundsatz vor, dass die Verwaltung befugt ist, jederzeit von Amtes wegen auf eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hatte, zurückzukommen, wenn sich diese als zweifellos unrichtig erweist und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG). Unter diesen Voraussetzungen kann die Verwaltung eine Rentenverfügung auch dann abändern, wenn die Revisionsvoraussetzungen des Art. 17 ATSG nicht erfüllt sind. Wird die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung erst vom Gericht festgestellt, so kann es die auf Art. 17 ATSG gestützte Revisionsverfügung der Verwaltung mit dieser substituierten Begründung schützen (BGE 125 V 369 Erw. 2 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 112 V 373 Erw. 2c und 390 Erw. 1b).
1.3 Nach Art. 82 Abs. 1 erster Satz ATSG sind materielle Bestimmungen dieses Gesetzes u.a. auf die bei seinem Inkrafttreten laufenden Leistungen nicht anwendbar. Da der Beschwerdeführer die halbe Invalidenrente gemäss Verfügung vom 25. März 2002 am 1. Januar 2003 (Inkrafttreten des ATSG) bezog, ist an sich Art. 41 IVG (aufgehoben zum 31. Dezember 2002) der Beurteilung zu Grunde zu legen. Doch zeitigt diese übergangsrechtliche Lage keinerlei materiellrechtliche Folgen, da alt Art. 41 IVG und Art. 17 ATSG miteinander übereinstimmen (BGE 130 V 349).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob sich die für den Invaliditätsgrad massgeblichen Verhältnisse seit Zusprechung der halben Rente (Verfügung vom 25. März 2002) bis zum angefochtenen Einspracheentscheid vom 26. Februar 2004 in revisionserheblicher Weise geändert haben. Aus den Akten geht hervor und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer seit Ende Januar 2001 keinem Erwerb mehr nachgegangen ist, weshalb eine Revision zufolge wesentlicher Änderung der erwerblichen Verhältnisse ausser Betracht fällt. Zu prüfen ist daher, ob sich im massgeblichen Zeitraum der Gesundheitszustand entscheidend geändert hat.
3.
3.1 Die ursprüngliche Verfügung vom 25. März 2002 beruhte in medizinischer Hinsicht im Wesentlichen auf dem Bericht des Dr. med. W.________ vom 26. Februar 2001. Danach war dem Beschwerdeführer die zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit als Magaziner wegen der belastungsabhängigen, chronischen lumbalen Rückenschmerzen nicht mehr zumutbar; hingegen bestand in einer leichteren, wechselbelastenden Arbeit eine Leistungsfähigkeit im zeitlichen Rahmen von vier Stunden täglich.
3.2 In der Stellungnahme vom 20. Januar 2003 hält Dr. med. W.________ fest, der Versicherte habe seit Rentenzusprechung keine ärztliche Behandlung in Anspruch genommen. Sein Gesundheitszustand habe sich gebessert und er sei für leichte wechselbelastende Tätigkeiten vollständig arbeitsfähig.
3.3 Gemäss Gutachten des Spitals X.________ vom 12. November 2003 ist der Verlauf des chronischen Lumbovertebralsyndroms mit mehr-etagigen Osteochondrosen/Spondylosen der LWS (Lendenwirbelsäule) mit Ankylosierung der entsprechenden Lenden- oder Sakralwirbelkörper (LWK5/SWK1), fortgeschrittenen Spondylarthrosen (LWK4/5, LWK5/SWK1) und minimaler, stabiler Retrolisthesis (LWK4 gegenüber LWK5), radiologisch feststellbar progredient. Nachdem die Rückenbeschwerden primär von der Belastung der degenerativ veränderten Wirbelsäule abhingen, der Patient seit längerer Zeit nicht mehr arbeitstätig gewesen sei und auch keinen Arzt aufgesucht habe, sei die von Dr. med. W.________ (Bericht vom 20. Januar 2003) angegebene Verbesserung der Symptomatik durchaus nachvollziehbar. Unverändert seien rückenbelastende Tätigkeiten nicht mehr zumutbar. Hingegen vermöge der Explorand (ohne rückenbelastende Tragarbeiten von über 15 kg, ohne Dauerposition im Sitzen oder Stehen von mehr als 1 ½ bis 2 Stunden, ohne repetitive Zwangsposition und Überkopfarbeiten und ohne Kälte- und Feuchtigkeitsexposition) dem Leiden adaptierte Beschäftigungen ohne Einschränkung auszuüben.
3.4 Im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den Angaben des Dr. med. B.________ (Bericht vom 21. August 2003) legt Dr. med. R.________ im letztinstanzlich eingereichten Bericht vom 2. August 2004 auf Grund einer klinischen und radiologischen Untersuchung dar, es bestünden chronische lumbospondylogene Schmerzen bei erheblichen degenerativen Veränderungen der ganzen LWS sowie typische Befunde für eine hyperostotische Spondylosis deformans im Bereich der mittleren BWS, die sekundär zu einer ungünstigen statischen Situation führten. Da der Patient nur kurze Zeit sitzen (¼ Stunde) und an Ort stehen (20 Minuten) könne, sei die Arbeitsfähigkeit auch für angepasste Tätigkeiten deutlich (um 50 %) reduziert.
4.
4.1 Wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zutreffend geltend gemacht wird, ist die Schlussfolgerung im Gutachten des Spitals X.________, wonach sich bei radiologisch nachgewiesener Progredienz der Gesundheitszustand im Vergleichszeitraum erheblich verbessert habe und dem Beschwerdeführer nunmehr medizinisch eine vollständige Arbeitsleistung zumutbar sei, nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen. Die von den Experten gestützt auf den Bericht des Dr. med. W.________ vom 20. Januar 2003 gelieferte Erklärung hält einer näheren Prüfung jedenfalls nicht stand. Dieser Arzt behandelte den Beschwerdeführer seit längerer Zeit nicht mehr und überprüfte seine Stellungnahme zum Gesundheitszustand und zur Einschätzung der Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit weder klinisch noch anamnestisch. Die Gutachter beurteilten den gesundheitlichen Zustand in einem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer schon seit Jahren keiner Arbeit mehr nachgegangen war. In Anbetracht dieses Umstands erscheint die festgestellte Verbesserung der belastungsabhängigen Beschwerdesymptomatik zwar plausibel. Hingegen ist der Expertise keineswegs zu entnehmen, weshalb die - verschlimmerten - degenerativen Veränderungen an der gesamten Wirbelsäule unter den Bedingungen und Einwirkungen einer Arbeitstätigkeit keine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit mehr verursachen sollten, wie dies früher unstreitig der Fall war. Dr. med. R.________ weist ausdrücklich auf die ungünstige statische Haltung hin. Schliesslich werden im Gutachten des Spitals X.________ vom 12. November 2003 mit Ausnahme der um einen Viertel eingeschränkten Lateralflexion im Bereich der LWS keine weiteren Bewegungseinschränkungen erwähnt. Demgegenüber haben Dr. med. med. B.________ (Bericht vom 21. April 2003) und Dr. med. R.________ (Gutachten vom 2. August 2004) in der klinischen Untersuchung erhebliche Beweglichkeitsdefizite aller Wirbelsäulenabschnitte, hinsichtlich der LWS in allen Richtungen, festgestellt. Insgesamt gehen aus der Expertise nicht genügend Anhaltspunkte hervor, die auf eine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes gegenüber dem Zeitpunkt der Rentenzusprechung schliessen lassen. Vielmehr ist insbesondere angesichts der radiologisch nachgewiesenen progredienten Veränderungen an der Wirbelsäule sowie der klinischen Befunde der Dres. med. B.________ und R.________ unter dem Blickwinkel von Art. 17 ATSG anzunehmen, dass die von den Ärzten des Spitals X.________ eingeschätzte Arbeitsfähigkeit von 100 % im Vergleich mit den anderen medizinischen Einschätzungen letztlich bloss eine abweichende Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts darstellt. Die Voraussetzungen für eine revisionsweise Aufhebung der halben Invalidenrente sind daher nicht gegeben (Erw. 1.1 in fine).
4.2 Zu prüfen bleibt, ob der die ursprüngliche Rentenverfügung vom 25. März 2002 revidierende Einspracheentscheid vom 26. Februar 2004 mit der substituierten Begründung der zweifellosen Unrichtigkeit zu schützen ist. Der Beschwerdeführer war nach über sechs Jahre dauernder Arbeitslosigkeit vom 1. Februar bis 30. Juni 2000 und ab 1. Dezember 2000 als Kontrolleur bei der Firma Y.________ angestellt gewesen, einem Arbeitsplatz, welcher gemäss Bericht des Arbeitsmediziners Dr. med. I.________ vom 8. Mai 2000 ergonomisch angepasst war (in stehender und sitzender Haltung zu verrichtende Laborarbeiten ohne Heben von grösseren Gewichten). Nach Angaben des Dr. med. W.________ (Bericht vom 26. Februar 2001) entwickelten sich Rückenschmerzen, die zum Verlust dieser Anstellung führten, weshalb dieser Arzt ab 17. Januar 2001 eine vollständige und in einer den gesundheitlichen Leiden angepassten leichten Erwerbstätigkeit eine Arbeitsunfähigkeit von ungefähr 50 % attestierte. Angesichts dieser Aktenlage war die Beweiswürdigung der IV-Stelle, die dem Versicherten mit Verfügung vom 25. März 2002 eine halbe Invalidenrente zusprach, nicht zweifellos unrichtig, wie es Art. 53 Abs. 2 ATSG verlangt (Urteile B. vom 23. Februar 2005, I 632/04, und B. vom 19. Dezember 2002, I 222/02; vgl. RKUV 1998 Nr. K 990 S. 251; ARV 1982 Nr. 11 S. 74 f. Erw. 2c; ZAK 1980 S. 496, 1965 S. 60).
4.3 Fehlt es somit an den Voraussetzungen von Revision und Wiedererwägung, hat der Beschwerdeführer ab 1. Mai 2003 weiterhin Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Ob für die ab 1. Mai 2003 nachzuzahlenden Invalidenrenten Verzugszinsen zu entrichten sind, wird die IV-Stelle gestützt auf Art. 26 Abs. 2 in fine ATSG zu bestimmen haben, ist hingegen nicht in diesem Verfahren zu beurteilen.
5.
5.1 Es geht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend ist dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich der unentgeltlichen Verbeiständung, ist damit gegenstandslos.
5.2 Gemäss Art. 159 Abs. 2 OG wird die unterliegende Partei in der Regel verpflichtet, der obsiegenden alle durch den Rechtsstreit verursachten notwendigen Kosten zu ersetzen. Darunter fallen u.a. auch die Honorare von privat beauftragten medizinischen Sachverständigen (BGE 115 V 62). Die Vorinstanz hat wie schon die IV-Stelle zur Beurteilung der Frage, ob sich der Gesundheitszustand im Vergleichszeitraum erheblich verändert hat, massgeblich auf die Expertise des Spitals X.________ vom 12. November 2003 abgestellt, die nach dem Gesagten die Frage nicht erschöpfend erörterte. Unter diesen Umständen handelt es sich bei der vom Rechtsvertreter des Beschwerdeführers veranlassten Begutachtung (Expertise des Dr. med. R.________ vom 2. August 2004) um ein notwendiges Beweismittel im Sinne von Art. 159 Abs. 2 OG, wobei in masslicher Hinsicht das in Rechnung gestellte Honorar von Fr. 950.- nicht zu beanstanden ist.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 29. Juni 2004 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 26. Februar 2004 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die IV-Stelle hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 3450.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 16. März 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: