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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_536/2022  
 
 
Urteil vom 25. August 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis, Zentrales Amt, Postfach, 1950 Sitten 2, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Fabian Williner, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Strafzumessung; Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO), Einholen von Berichten und Auskünften (Art. 195 StPO), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts des Kantons Wallis, I. Strafrechtliche Abteilung, vom 4. März 2022 (P1 21 16). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit zweitinstanzlichem Urteil vom 4. März 2022 stellte das Kantonsgericht Wallis das Strafverfahren gegen A.________ wegen mehrfacher einfachen Körperverletzung ein (Dispositiv-Ziffer 1) und sprach ihn frei von den Vorwürfen des Fahrens ohne Berechtigung, der versuchten Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit und der mehrfachen Vergewaltigung (Dispositiv-Ziffer 2). Hingegen verurteilte es ihn wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, Fahrens in fahrunfähigem Zustand, grober Verletzung der Verkehrsregeln, mehrfacher Schändung und sexueller Nötigung (Dispositiv-Ziffer 3). Es verhängte eine bedingte Freiheitsstrafe von 24 Monaten, eine bedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu Fr. 140.-- und eine Busse von Fr. 4'200.--. Die Probezeit legte es auf 3 Jahre fest (Dispositiv-Ziffer 4). Zudem sprach es der Privatklägerin eine Genugtuung von Fr. 8'000.-- und Schadenersatz von Fr. 383.15 nebst Zins zu (Dispositiv-Ziffer 5). 
 
B.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, Dispositiv-Ziffer 4 des kantonsgerichtlichen Urteils sei aufzuheben. A.________ sei zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 30 Monaten und einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu Fr. 140.-- zu verurteilen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen. 
Das Kantonsgericht verweist auf die Erwägungen im angefochtenen Urteil und verzichtet auf Anträge. 
A.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerdeführerin reicht dem Bundesgericht diverse Beilagen ein. Dabei übersieht sie, dass echte Noven vor Bundesgericht unzulässig sind (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 1.2; 140 V 543 E. 3.2.2.2; 133 IV 342 E. 2.1 f.; je mit Hinweisen). 
Das angefochtene Urteil erging am 4. März 2022. Unbeachtlich sind daher die Medienmitteilung vom 16. März 2022, der Online-Beitrag vom 16. März 2022, der Zeitungsbericht vom 17. März 2022, das Schreiben der Staatsanwältin vom 20. April 2022 und das Schreiben des Oberstaatsanwalts vom 21. April 2022. 
 
2.  
Die Vorinstanz erwägt bei der Strafzumessung, dass der Beschwerdegegner seit Oktober 2017 nicht mehr delinquiert habe. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen diese Feststellung und macht geltend, in Wahrheit habe sich der Beschwerdegegner am 21. Juli 2021 der einfachen Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung zum Nachteil seiner damaligen Freundin schuldig gemacht. 
 
2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann vor Bundesgericht nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig bzw. willkürlich ist und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt vor, wenn die vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist, das heisst, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1 mit Hinweisen). Willkürlich ist auch eine Beweiswürdigung, welche mit den Akten in klarem Widerspruch steht oder einseitig einzelne Beweise berücksichtigt (BGE 118 Ia 28 E. 1b; Urteile 6B_257/2020, 6B_298/2020 vom 24. Juni 2021 E. 4.2.4; 6B_17/2016 vom 18. Juli 2017 E. 1.3.2; 6B_676/2016 vom 16. Februar 2017 E. 1.3; 6B_288/2015 vom 12. Oktober 2015 E. 1.2; je mit Hinweisen). Die Willkürrüge muss in der Beschwerde explizit vorgebracht und substanziiert begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG). Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1 mit Hinweisen).  
 
2.2. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 StPO, Art. 195 Abs. 2 StPO, sowie Art. 84 Abs. 3 und 4 StPO. Sie macht der Vorinstanz zum Vorwurf, dass sie keinen aktuellen Strafregisterauszug eingeholt und deshalb den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt habe.  
 
2.3.  
 
2.3.1. Die Strafbehörden klären von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (Art. 6 Abs. 1 StPO). Zur Abklärung der persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person holen Staatsanwaltschaft und Gerichte Auskünfte über Vorstrafen und den Leumund sowie weitere sachdienliche Berichte von Amtsstellen und Privaten ein (Art. 195 Abs. 2 StPO).  
Art. 195 Abs. 2 StPO steht in Zusammenhang mit Art. 161 StPO, wonach die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person grundsätzlich nur dann über ihre persönlichen Verhältnisse befragt, wenn mit einer Anklage oder einem Strafbefehl zu rechnen ist. Dieser Bestimmung liegt der Gedanke zu Grunde, dass Fragen über die persönlichen Verhältnisse die Privatsphäre der beschuldigten Person berühren. Solange noch offen ist, ob die Untersuchung in eine Anklage oder einen Strafbefehl münden wird, soll die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person grundsätzlich nicht über die persönlichen Verhältnisse einvernehmen (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts [Botschaft StPO], BBl 2006 1195 Ziff. 2.4.2). Diesen Überlegungen ist auch bei der Anwendung von Art. 195 Abs. 2 StPO Rechnung zu tragen (MARTIN BÜRGISSER, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 7 zu Art. 195 StPO). Dies bedeutet umgekehrt, dass das Berufungsgericht einen aktuellen Strafregisterauszug einzuholen hat, wenn die beschuldigte Person sanktioniert wird. 
 
2.3.2. In das Strafregister-Informationssystem VOSTRA werden Personen eingetragen, gegen die in der Schweiz ein Strafverfahren wegen Verbrechen oder Vergehen nach Bundesrecht hängig ist. Angegeben werden die Personalien der beschuldigten Person, das Datum der Eröffnung des Strafverfahrens, die zuständige Verfahrensleitung und die der beschuldigten Person vorgeworfenen Straftaten (Art. 366 Abs. 4 StGB sowie Art. 7 lit. a der Verordnung über das Strafregister vom 29. September 2006 [VOSTRA-Verordnung]; SR 331). Bei hängigen Strafverfahren sind die Daten innert zwei Wochen seit Eröffnung des Strafverfahrens beziehungsweise seit Eintritt der Änderung in das Strafregister-Informationssystem einzutragen (Art. 11 Abs. 3 VOSTRA-Verordnung).  
Die Strafjustizbehörden dürfen durch ein Abrufverfahren Einsicht in die Personendaten über Urteile nehmen (Art. 367 Abs. 2 lit. a i.V.m. Abs. 1 lit. b StGB). Unter den Begriff der Strafjustizbehörden fallen auch die Strafgerichte (ARNOLD/GRUBER, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 4. Aufl. 2019, N. 21 zu Art. 367 StGB). 
 
2.3.3. Das Gericht zieht sich nach dem Abschluss der Parteiverhandlungen zur geheimen Urteilsberatung zurück (Art. 348 Abs. 1 StPO). Ist der Fall noch nicht spruchreif, so entscheidet das Gericht, die Beweise zu ergänzen und die Parteiverhandlungen wieder aufzunehmen (Art. 349 StPO).  
Das Gericht eröffnet sein Urteil nach den Bestimmungen von Art. 84 StPO (Art. 351 Abs. 3 StPO). Kann das Gericht das Urteil nicht sofort fällen, so holt es dies so bald als möglich nach und eröffnet das Urteil in einer neu angesetzten Hauptverhandlung. Verzichten die Parteien in diesem Fall auf eine öffentliche Urteilsverkündung, so stellt ihnen das Gericht das Dispositiv sofort nach der Urteilsfällung zu (Art. 84 Abs. 3 StPO). Muss das Gericht das Urteil begründen, so stellt es innert 60 Tagen, ausnahmsweise 90 Tagen, der beschuldigten Person und der Staatsanwaltschaft das vollständige begründete Urteil zu (Art. 84 Abs. 4 StPO; vgl. auch SARARARD ARQUINT, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 6 ff. zu Art. 84 StPO). 
Erkennt das Gericht erst anlässlich der Urteilsberatung, dass der Fall noch nicht spruchreif ist, hat es Beweisergänzungen zu beschliessen. Nach Massgabe der eidgenössischen Strafprozessordnung hat das Gericht die Beweisergänzungen zwingend selbst durchzuführen, sodass eine diesbezügliche Delegation an die Staatsanwaltschaft ausser Betracht fällt (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, Rz. 1339; HEIMGARTNER/NIGGLI, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 1 und 5 zu Art. 349 StPO). 
 
2.4. Die Rüge der Beschwerdeführerin ist begründet.  
 
2.4.1. Am 8. März 2021 und am 10. März 2021 erklärte zuerst die Staatsanwaltschaft und dann die Privatklägerin Berufung. Der Beschwerdegegner beantragte am 30. März 2021 Nichteintreten und erhob Anschlussberufung. Am 15. Juni 2021 holte die Vorinstanz einen Strafregisterauszug ein und lud die Parteien zur Berufungsverhandlung vom 6. Oktober 2021 vor.  
Wenige Tage vor der Berufungsverhandlung traf am 29. September 2021 bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis, Amt der Region Oberwallis, ein neuer Verzeigungsbericht gegen den Beschwerdegegner ein. Es ging um Tätlichkeiten, Nötigung und Freiheitsberaubung. Der entsprechende Strafregistereintrag erfolgte am 5. Oktober 2021, also einen Tag vor der Berufungsverhandlung. 
Mit Strafbefehl vom 6. November 2021 verurteilte die Staatsanwaltschaft den Beschwerdegegner wegen einfacher Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung. Diese Straftaten hatte der Beschwerdegegner am 21. Juli 2021 zum Nachteil seiner damaligen Freundin begangen. Der Strafbefehl blieb unangefochten und wuchs am 22. November 2021 in Rechtskraft. Erst am 4. März 2022 erging das Urteil der Vorinstanz. 
 
2.4.2. Die Vorinstanz trägt in ihrer Vernehmlassung vor, sie habe keine Kenntnis oder Mitteilung erhalten, dass bei der Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren hängig und mit Strafbefehl abgeschlossen worden sei. Damit weist sie auf den entscheidenden Punkt hin. Denn sie hätte vor dem Erlass des angefochtenen Urteils einen aktuellen Strafregisterauszug über den Beschwerdegegner einholen müssen. Auf diese Weise hätte sie erkannt, dass seit dem 29. September 2021 ein weiteres Strafverfahren gegen ihn hängig war. Nachdem am 6. November 2021 der Strafbefehl ergangen war, hätte die Vorinstanz erkennen können, dass der Beschwerdegegner verurteilt worden war, weil er am 21. Juli 2021 eine einfache Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung zum Nachteil seiner damaligen Freundin begangen hatte. Nach dem 22. November 2021 wäre für die Vorinstanz ersichtlich gewesen, dass der Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen war.  
Bei der Strafzumessung mass die Vorinstanz dem Umstand Bedeutung zu, dass der Beschwerdegegner angeblich seit Oktober 2017 nicht mehr delinquiert habe. Diese Feststellung hätte sie nicht gestützt auf einen Strafregisterauszug treffen dürfen, der zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung vom 6. Oktober 2021 über drei Monate und im für den Entscheid wesentlichen Zeitpunkt des angefochtenen Urteils vom 4. März 2022 über acht Monate alt war. Vielmehr war sie gestützt auf Art. 195 Abs. 2 StPO dazu verpflichtet, zur Abklärung der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdegegners einen aktuellen Strafregisterauszug einzuholen. Dies, zumal für die Vorinstanz von Gewicht war, dass der Beschwerdegegner angeblich seit Oktober 2017 deliktfrei war. Unter diesen Umständen hätte sie erkennen müssen, dass die Beweise gemäss Art. 349 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO um einen aktuellen Strafregisterauszug zu ergänzen sind. Dies gilt umso mehr, als seit der Berufungsverhandlung einige Zeit verstrichen war und die Vorinstanz die Ordnungsvorschrift von Art. 84 Abs. 4 StPO nicht einhielt. Denn das vollständige begründete Urteil liess länger als 90 Tage auf sich warten. 
 
2.4.3. Nach dem Gesagten verletzte die Vorinstanz Art. 195 Abs. 2 StPO, indem sie es versäumte, einen aktuellen Strafregisterauszug über den Beschwerdegegner einzuholen. Dadurch stellte sie die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdegegners offensichtlich unrichtig fest, indem sie annahm, er habe seit Oktober 2017 nicht mehr delinquiert. Die Behebung dieses Mangels kann für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein. Denn bei korrekter Feststellung der persönlichen Verhältnisse ist ein anderes Ergebnis der Strafzumessung wahrscheinlich. Dies gilt namentlich für den Strafaufschub.  
 
3.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Gerichtskosten sind dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht geschuldet (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Kantonsgerichts Wallis vom 4. März 2022 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurückgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht des Kantons Wallis, I. Strafrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 25. August 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt