145 V 215
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Chapeau
145 V 215
21. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_724/2018 vom 11. Juli 2019
Regeste
Art. 4 al. 1 LAI en corrélation avec les art. 6-8 LPGA ; art. 28 al. 1 LAI; pertinence du point de vue du droit de l'assurance-invalidité des syndromes de dépendance (troubles mentaux liés à l'utilisation de substances psychoactives).
Les syndromes de dépendance primaire doivent en principe faire l'objet - comme toutes les autres maladies psychiques - d'une procédure probatoire structurée au sens de l'arrêt ATF 141 V 281 (consid. 5 et 6.2; changement de jurisprudence).
A. Der 1975 geborene, angelernte Fahrzeugschlosser A. meldete sich am 4. September 2012 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich (fortan: IV-Stelle) traf erwerbliche und medizinische Abklärungen. Am 16. Juli 2015 verneinte sie einen Leistungsanspruch. Die von A. hiergegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 26. Februar 2016 teilweise gut. Es hob die Verfügung vom 16. Juli 2015 auf und wies die Sache zu weiterer Abklärung und neuer Verfügung an die IV-Stelle zurück. Diese veranlasste eine bidisziplinäre Begutachtung durch das Swiss Medical Assessment- and Business-Center (SMAB AG, Bern) in den Fachbereichen Psychiatrie sowie Orthopädie/Traumatologie. Am 22. November 2017 teilte sie dem Versicherten mit, zur Wahrung allfälliger zukünftiger Leistungsansprüche habe er aufgrund seiner Mitwirkungspflicht die therapeutische Begleitung weiterzuführen sowie die Benzodiazepine abzudosieren. Am 22. Februar 2018 verneinte die IV-Stelle abermals ihre Leistungspflicht, da ein primäres Suchtgeschehen vorliege.
B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die hiergegen erhobene Beschwerde des Versicherten - worin dieser die Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente ab September 2013 verlangte - mit Entscheid vom 18. September 2018 ab.
C. A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 18. September 2018 sei aufzuheben, und es seien ihm die gesetzlichen Leistungen der Invalidenversicherung, insbesondere eine Rente spätestens ab Februar 2013, zuzusprechen. Eventuell sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen mit dem Auftrag, den Sachverhalt beweisfertig festzustellen und die geschuldete Rente gemäss IVG zuzusprechen. Der Versicherte beantragt ausserdem die unentgeltliche Prozessführung sowie die Einsetzung von Rechtsanwalt B. als Rechtsvertreter.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde; das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
BGE 145 V 215 S. 217
D. Die I. und die II. sozialrechtliche Abteilung haben zu folgender Rechtsfrage ein Verfahren nach Art. 23 Abs. 1 BGG durchgeführt: Sind die primären Abhängigkeitssyndrome - wie sämtliche psychischen Erkrankungen - grundsätzlich einem strukturierten Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 zu unterziehen?
Die beiden sozialrechtlichen Abteilungen haben diese Rechtsfrage mehrheitlich bejaht.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
1.1 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), ohne Bindung an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente oder die Erwägungen der Vorinstanz. Es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ) prüft das Bundesgericht indes grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern eine Rechtsverletzung nicht geradezu offensichtlich ist (BGE 143 V 19 E. 2.3 S. 23 f. mit Hinweisen).
1.2 Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.1 Das kantonale Gericht stellte fest, gemäss Begutachtung der SMAB vom Frühjahr 2017 lägen aus psychiatrischer Sicht mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit eine Störung durch Sedative oder Hypnotika (Benzodiazepine), aktuell unter ärztlicher Kontrolle (ICD-10:
BGE 145 V 215 S. 218
F13.22) sowie eine Störung durch Opioide, Abhängigkeitssyndrom, gegenwärtig Teilnahme an einem ärztlich überwachten Ersatzdrogenprogramm (kontrollierte Abhängigkeit, ICD-10: F11.22) vor. Keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit hätten laut Gutachten eine Persönlichkeitsakzentuierung mit abhängigen, narzisstischen und dissozialen Anteilen (ICD-10: Z73.1) sowie persistierende Schmerzen des rechten oberen und unteren Sprunggelenks. Funktionell einschränkend seien u.a. Störungen bei der Verarbeitung kognitiver und emotionaler Stimuli sowie die Reduktion von Konzentrations-, Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Reaktionsvermögen. Eine niedrige emotionale Belastbarkeit und Ausdauer bei mangelnder kognitiver Flexibilität und schneller Überforderung würden die Leistungsfähigkeit ebenfalls einschränken. Die Einschränkungen seien mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den noch bestehenden, ärztlich kontrollierten Konsum von Benzodiazepinen zurückzuführen. Aus psychiatrischer Sicht bestehe eine volle Arbeitsunfähigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt; in der aktuellen geschützten Arbeitsstelle sei von einer Arbeitsfähigkeit von ungefähr 50 % auszugehen. Unter längerfristiger therapeutischer Begleitung und verbesserter sozialer Adaptation könne dem Beschwerdeführer nach dem gelungenen Entzug von Benzodiazepinen ab einem nicht näher bestimmten Zeitraum eine sukzessive Steigerung der Leistungsfähigkeit zugemutet werden. Das Suchtleiden sei primärer Natur; eine psychische Gesundheitsstörung mit gravierendem Krankheitswert sei weder der Suchterkrankung vorangegangen, noch könne eine solche im Begutachtungszeitpunkt irreversibel festgehalten werden. Aus orthopädischer Sicht seien - nach einem Unfall im Jahr 2004 und mit Ausnahme einer postoperativen Rekonvaleszenzzeit vom 13. Juni bis spätestens Ende November 2016 nach einer Versteifungsoperation - körperlich leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten, die überwiegend im Sitzen verrichtet werden könnten, vollschichtig zumutbar.
2.2 Das Sozialversicherungsgericht erwog, die gutachterliche Schlussfolgerung, wonach die Leistungsminderung mit grosser Wahrscheinlichkeit auf den noch bestehenden Konsum von Benzodiazepinen zurückzuführen sei, überzeuge. Rechtsprechungsgemäss liege kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden vor, wo die erhobenen Befunde in der Drogensucht (bzw.: Medikamentenabhängigkeit) ihre hinreichende Erklärung fänden. In casu sei im Falle einer Abdosierung der Benzodiazepine eine schrittweise Leistungssteigerung gemäss Einschätzung der Expertin möglich. Eine
BGE 145 V 215 S. 219
Persönlichkeitsstörung habe die psychiatrische Gutachterin nachvollziehbar nicht zu diagnostizieren vermocht. Für die Leistungsberechtigung nicht entscheidend sei die schwierige psychosoziale Situation, in der sich der Versicherte bei Beginn des Heroinkonsums befunden habe. Es fehle mithin an einem eigenständigen psychischen Gesundheitsschaden. Vielmehr lägen reine - nicht leistungsbegründende - Suchtfolgen vor. Da eine invalidisierende Wirkung von Suchterkrankungen nicht unter Zuhilfenahme der Standardindikatoren (gemäss BGE 143 V 409, BGE 143 V 418; vgl. auch BGE 141 V 281) zu prüfen sei, komme dem sozialen Kontext und den Ressourcen keine grosse Relevanz zu; entsprechend habe von der in diesem Zusammenhang beantragten Zeugeneinvernahme abgesehen werden können.
3.1 Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, es liege kein primäres, sondern ein sekundäres Suchtgeschehen vor, das invalidenversicherungsrechtlich beachtlich sei. Das Gutachten der SMAB lasse die "Erfahrungstatsache der regelhaften Komorbidität von Sucht und anderen psychischen Störungen ausser Acht", weshalb ihm die Vorinstanz zu Unrecht Beweiswert zuerkannt habe.
3.2 Der in casu umstrittenen primären oder sekundären Natur des Suchtgeschehens - d.h. der Frage, ob ein körperlicher oder psychischer Gesundheitsschaden Auslöser oder Folge der Sucht ist - kommt nur Bedeutung zu, soweit dem Suchtgeschehen an sich zum vornherein die invalidenversicherungsrechtliche Relevanz abgesprochen wird. Insbesondere in Anbetracht der mit BGE 143 V 409 bzw. BGE 143 V 418 geänderten Rechtsprechung und angesichts medizinischer Erkenntnisse drängt sich die Prüfung auf, ob an der dahingehenden bisherigen Rechtsprechung (vgl. zuletzt etwa Urteile 8C_608/2018 vom 11. Februar 2019 E. 3.2.1; 9C_620/2017 vom 10. April 2018 E. 2.2) festzuhalten ist. Sie drängt sich nicht zuletzt auch mit Blick auf die notorisch problematische diagnostische Abgrenzung der primären von den sekundären Suchterkrankungen auf (vgl. Urteile 9C_618/2014 vom 9. Januar 2015 E. 5.3; 9C_395/2007 vom 15. April 2008 E. 2.3; THONNEY/GAMMETER, Alcool: problèmes psychiatriques courants. "La boîte à outils du practicien", Revue médicale de la Suisse romande 2004 S. 415 ff., S. 417 f.; EUPHROSYNE GOUZOULIS-MAYFRANK, Komorbidität von Sucht und anderen psychischen Störungen - Grundlagen und evidenzbasierte Therapie, Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 2008 Nr. 76, www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/s-2008-1038169 [zuletzt besucht am 27. Juni
BGE 145 V 215 S. 220
2019]; KHAZAAL/ZULLINO, Dépendances aux substances et comorbidités psychiatriques: Tendances actuelles, Medinfo 2009/2 S. 50 ff., S. 52 ff.).
4.1 Nach bisheriger und langjähriger höchstrichterlicher Rechtsprechung führen Suchterkrankungen als solche nicht zu einer Invalidität im Sinne des Gesetzes. Sie werden im Rahmen der Invalidenversicherung erst relevant, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall bewirkt haben, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger, die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender, Gesundheitsschaden eingetreten ist, oder wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens sind, dem Krankheitswert zukommt. Ein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden fehlt demgegenüber, wo in der Begutachtung im Wesentlichen nur Befunde erhoben werden, welche in der Sucht ihre hinreichende Erklärung finden (vgl. etwa BGE 124 V 265 E. 3c S. 268; BGE 99 V 28 E. 2 S. 28 f.; zuletzt zit. Urteile 8C_608/2018 E. 3.2.1; 9C_620/2017 E. 2.2; vgl. ausserdem grundlegend EVGE 1968 276 E. 3a S. 278 bezüglich der "Trunksucht", mit Verweis auf EVGE 1964 153 E. 3 S. 157 zur "Rentenneurose"; sowie ZAK 1964 S. 122 zum Medikamentenmissbrauch).
4.2 Diese Rechtsprechung geht letztlich - nicht anders als die frühere Rechtsprechung zur Rentenkürzung bei durch Alkoholmissbrauch grobfahrlässig verursachten (selbständigen) Gesundheitsschäden (vgl. grundlegend EVGE 1962 101 E. 3 S. 105; ausführlich BGE 111 V 186 E. 2 S. 187 ff.) - davon aus, die süchtige versicherte Person habe ihren Zustand selbst verschuldet. Bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte sie die schädlichen Auswirkungen des Substanzkonsums - wenngleich möglicherweise nicht von Anfang an, so doch jedenfalls früh und klar genug - erkennen können, und sie abwenden bzw. der Heilung zuführen müssen (EVGE 1962 101 E. 3 S. 105). Damit übereinstimmend findet sich auch in der neueren Rechtsprechung die Auffassung, eine allfällige Abhängigkeit sei einem Entzug ohne Weiteres zugänglich (vgl. so explizit Urteil 9C_158/2010 vom 29. Juni 2010 E. 5.2). Rechtlich kommt darin eine eigentliche Fiktion der willentlichen Vermeid- bzw. Überwindbarkeit der Sucht an sich, und folglich auch der Überwindbarkeit der dadurch verursachten Erwerbsunfähigkeit, zum Ausdruck. Ist der versicherten Person die Verwertung ihrer Restarbeitsfähigkeit sozial-praktisch zumutbar, kann sie also - objektiv betrachtet, bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende Leistungsfähigkeit zu verwerten - allfällige
BGE 145 V 215 S. 221
Einschränkungen ihrer Erwerbsfähigkeit ohne Weiteres abwenden, sind diese zum vornherein invalidenversicherungsrechtlich irrelevant (BGE 143 V 409 E. 4.2.1 S. 413; BGE 139 V 547 E. 5.1 S. 555; BGE 135 V 201 E. 7.1.1 S. 211 f.; BGE 127 V 294 E. 4c S. 298; BGE 102 V 165 S. 166 f.). Die Auswirkungen der Suchterkrankung gelten rechtsprechungsgemäss ungeachtet der Schwere der konkreten Erkrankung, und selbst dann als invalidenversicherungsrechtlich irrelevant, wenn diese etwa als "Symptom der psychopathischen Anlage" (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 213/63 vom 27. November 1963 E. 3, in: ZAK 1964 S. 121), als Folge akzentuierter Persönlichkeitszüge (vgl. etwa Urteil 9C_620/2017 vom 10. April 2018 E. 4.1) oder aufgrund sonstiger Vulnerabilitätsfaktoren auftritt, die aber selber nicht die Schwere eigenständiger psychischer Störungen erreichen.
4.3 Hiergegen wird von medizinischer Seite vorgebracht, ein Suchtmittelentzug sei nach medizinischem Kenntnisstand keineswegs in jedem Fall als zumutbar oder ergebnisorientiert als beste Lösung im Sinne der Schadenminderung anzusehen, und etwaige Funktionseinbussen, Therapiemöglichkeiten und -ergebnisse seien individuell in hohem Masse unterschiedlich (LIEBRENZ UND ANDERE, Das Suchtleiden bzw. die Abhängigkeitserkrankungen - Möglichkeiten der Begutachtung nach BGE 141 V 281 [= 9C_492/2014], SZS 2016 S. 12 ff., S. 22, 30 ff.). Juristisch wird daraus mit Blick auf die Abklärungspflicht von Verwaltung und Versicherungsgericht (Untersuchungsgrundsatz, Art. 43 bzw. Art. 61 lit. c ATSG) die Forderung abgeleitet, es sei bei Suchterkrankungen - gleich wie nach neuerer Rechtsprechung bei allen anderen psychischen Störungen (BGE 143 V 418 E. 7 S. 427 ff.) - grundsätzlich eine indikatorengestützte Abklärung im Einzelfall durchzuführen (LIEBRENZ UND ANDERE, a.a.O., S. 28 f.). Diese solle anstelle der bisherigen Abklärung der primären oder sekundären Natur der Sucht treten, die sich medizinisch-psychiatrisch nicht begründen lasse (LIEBRENZ UND ANDERE, a.a.O., S. 32; LIEBRENZ/UTTINGER/EBNER, Sind Abhängigkeitserkrankungen aus höchstrichterlicher Sicht [weiterhin] nicht mit anderen psychischen Störungen [z.B. somatoformen Störungen] vergleichbar? - Eine Urteilsbesprechung von BGE 8C_582/2015 im Lichte der theoretischen Anwendbarkeit des ergebnisoffenen, strukturierten Beweisverfahrens, SZS 2016 S. 96 ff., S. 99 f.).
5.1 Ausgangspunkt der Anspruchsprüfung nach Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 6 ff. und insbesondere Art. 7 Abs. 2 ATSG ist die
BGE 145 V 215 S. 222
medizinische Befundlage. Eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit kann immer nur dann - potenziell - anspruchserheblich sein, wenn sie Folge einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist, die fachärztlich einwandfrei diagnostiziert worden ist (BGE 141 V 281 E. 2.1 S. 285; BGE 130 V 396 E. 5.3.2 S. 398 f.). Dass es sich bei Suchterkrankungen grundsätzlich um krankheitswertige Geschehen handelt, entsprach bereits in den 1960er Jahren der (krankenversicherungsrechtlichen) Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (vgl. bezüglich der "Trunksucht" EVGE 1969 11 E. 1b S. 12; zum Alkoholismus später BGE 101 V 79 E. 1a S. 79; zur Drogensucht BGE 118 V 107 E. 1b S. 109). Wie soeben dargelegt (oben E. 4.1), sind diese Gesundheitsschäden indes nach bisheriger Rechtsprechung invalidenversicherungsrechtlich nicht relevant, wenn sie primärer Natur sind.
5.2.1 Die Medizin ordnet die Suchterkrankungen im ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision) in Kapitel V ("Psychische und Verhaltensstörungen") ein, wo sie unter dem Titel "Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen" zusammengefasst werden (ICD-10 F10 bis und mit F19). Dabei wird mit der dritten Stelle der Codierung die verursachende Substanz kodiert; mit der vierten Stelle das klinische Erscheinungsbild (.0: akute Intoxikation; .1: schädlicher Gebrauch; .2: Abhängigkeitssyndrom; .3: Entzugssyndrom; .4: Entzugssyndrom mit Delir; .5: Psychotische Störung; .6: Amnestisches Syndrom; .7: Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung; .8: sonstige psychische und Verhaltensstörungen; .9: nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörung). Mit der fünften und sechsten Stelle können die klinischen Zustandsbilder näher bezeichnet werden (etwa: Hinweis auf gegenwärtige Abstinenz oder Teilnahme an einem Ersatzdrogenprogramm; vgl. zum Ganzen DILLING/FREYBERGER, Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, 8. Aufl. 2016, S. 61 ff.). ICD F13.22 codiert beispielsweise eine psychische oder Verhaltensstörung (F1x.xx) durch Sedativa oder Hypnotica (F13.xx), Abhängigkeitssyndrom (F13.2x), bei gegenwärtiger Teilnahme an einem ärztlich überwachten Ersatzdrogenprogramm (F13.22).
Das - vorliegend interessierende (E. 2.1 hiervor) - Abhängigkeitssyndrom definiert die Medizin als eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Gebrauch von psychotropen Substanzen entwickeln
BGE 145 V 215 S. 223
(nachfolgend auch kurz: Abhängigkeitssyndrom). Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, eine verminderte Kontrolle über ihren Konsum und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom (DILLING/FREYBERGER, a.a.O., S. 76 ff.; vgl. ausserdem MONIKA JOHANN-RIDINGER, Neurowissenschaftliche Basis der Sucht, Therapeutische Umschau 2014 S. 579 ff.; JEAN-BERNARD DAEPPEN, Die therapeutische Begleitung von Suchtpatienten, Swiss Medical Forum 2016 S. 423 ff., S. 424). Aus medizinischer Sicht handelt es sich mithin klar um ein krankheitswertiges Geschehen, dessen funktionelle Auswirkungen sich mit einem hypothetischen Substanzentzug nicht ohne Weiteres zurückbilden. Im Übrigen werden auch die Zumutbarkeit und Sinnhaftigkeit eines solchen Entzugs gerade bei langjährigen Verläufen nicht in jedem Fall bejaht (LIEBRENZ UND ANDERE, a.a.O., S. 30 ff.).Die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms bedingt nach ICD-10 konkret das Bestehen von drei oder mehr der folgenden Kriterien während mindestens einem Monat oder wiederholt innerhalb von zwölf Monaten (nach DILLING/FREYBERGER, a.a.O., S. 77 f.):
"1. Ein starkes Verlangen (Craving) oder eine Art Zwang, die Substanz zu konsumieren.
2. Verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch, d.h. über Beginn, Beendigung oder die Menge des Konsums, deutlich daran, dass oft mehr von der Substanz oder über einen längeren Zeitraum konsumiert wird als geplant, oder an dem anhaltenden Wunsch oder an erfolglosen Versuchen, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren.
3. Ein körperliches Entzugssyndrom (siehe F1x.3 und F1x.4), wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird, mit den für die Substanz typischen Entzugssymptomen oder auch nachweisbar durch den Gebrauch derselben oder einer sehr ähnlichen Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.
4. Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen der Substanz. Für eine Intoxikation oder um den gewünschten Effekt zu erreichen, müssen grössere Mengen der Substanz konsumiert werden, oder es treten bei fortgesetztem Konsum derselben Menge deutlich geringere Effekte auf.
BGE 145 V 215 S. 224
5. Einengung auf den Substanzgebrauch, deutlich an der Aufgabe oder Vernachlässigung anderer wichtiger Vergnügen oder Interessensbereiche wegen des Substanzgebrauchs; oder es wird viel Zeit darauf verwandt, die Substanz zu bekommen, zu konsumieren oder sich davon zu erholen.6. Anhaltender Substanzgebrauch trotz eindeutig schädlicher Folgen (siehe F1x.1), deutlich an dem fortgesetzten Gebrauch, obwohl der Betreffende sich über die Art und das Ausmass des Schadens bewusst ist oder bewusst sein könnte."
5.2.2 Im Wesentlichen deckungsgleich definiert der DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, fünfte Auflage) die "Substanzkonsumstörungen", wobei innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten wenigstens zwei der folgenden elf Diagnosekriterien vorliegen müssen (PETER FALKAI UND ANDERE, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, Deutsche Ausgabe, 2015, S. 661 ff., insbesondere S. 663 f.):
1. Konsum häufig in grösseren Mengen oder über einen längeren Zeitraum als beabsichtigt.
2. Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu beenden oder zu kontrollieren.
3. Hoher Zeitaufwand um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.
4. Intensives Verlangen oder Drang nach der Substanz (Craving).
5. Wiederholter Substanzkonsum führt zu wiederholtem Versagen bei der Erfüllung von Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder im Haushalt.
6. Fortgesetzter Substanzkonsum trotz andauernder oder wiederkehrender sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Wirkungen der Substanz verursacht oder verschärft werden.
7. Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzkonsums aufgegeben oder eingeschränkt.
8. Wiederholter Konsum in Situationen, in denen eine körperliche Gefährdung besteht.
9. Fortgesetzter Konsum trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, das wahrscheinlich durch die Substanz verursacht wurde oder verstärkt wird.
BGE 145 V 215 S. 225
10. Toleranzentwicklung, definiert durch eines der folgenden Kriterien: Verlangen nach ausgeprägter Dosissteigerung, um einen Intoxikationszustand oder einen erwünschten Effekt herbeizuführen; oder deutlich verminderte Wirkung bei fortgesetztem Konsum derselben Menge der Substanz.
11. Bei Zurückgehen der Blut- oder Gewebekonzentration treten Entzugssymptome auf.
Im Unterschied zum ICD-10 operiert der DSM-5 bei den Suchterkrankungen mit Schweregraden. Dabei liegt eine leichtgradige Substanzkonsumstörung vor, wenn zwei oder drei der obigen Kriterien erfüllt sind; eine mittelgradige bei vier oder fünf erfüllten Kriterien und eine schwergradige bei Erfüllung von sechs oder mehr Kriterien (FALKAI UND ANDERE, a.a.O., S. 667).
5.3.1 Rechtlich gilt zunächst festzuhalten, dass in der final konzipierten Invalidenversicherung (vgl. etwa BGE 120 V 95 E. 4c S. 103) keine Grundlage dafür besteht, das Herbeiführen einer Suchterkrankung durch den willentlichen Konsum von Suchtmitteln zum Anlass zu nehmen, einen versicherten Gesundheitsschaden zum vornherein zu verneinen und mit der Begründung eines Selbstverschuldens der versicherten Person auf jegliche weitere Prüfung der funktionellen Einschränkungen zu verzichten (E. 4.2 hiervor). Im Gegensatz zu aArt. 7 Abs. 1 IVG, der auch die grobe Fahrlässigkeit sanktionierte (Version in Kraft bis zum 31. Dezember 2002; vgl. etwa EVGE 1962 101 E. 3 S. 105), fällt nach Art. 21 Abs. 1 ATSG die Verweigerung oder Kürzung von Leistungen nurmehr in Betracht, wenn der Versicherungsfall durch die versicherte Person vorsätzlich oder bei vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert wird (beim Konsum illegaler Drogen handelt es sich nach Art. 19a des Bundesgesetzes vom 3. Oktober 1951 über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe [BetmG; SR 812.121] i.V.m. Art. 103 StGB um eine Übertretung). Zur Anwendung im sozialversicherungsrechtlichen Kontext kommt aber selbstredend auch bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms die Schadenminderungspflicht (Art. 7 IVG), so dass von der versicherten Person etwa die aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden kann (Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG). Kommt sie den ihr auferlegten Schadenminderungspflichten nicht nach, sondern erhält willentlich den krankhaften Zustand aufrecht, ist nach Art. 7b Abs. 1 IVG
BGE 145 V 215 S. 226
i.V.m. Art. 21 Abs. 4 ATSG eine Verweigerung oder Kürzung der Leistungen möglich.
5.3.2 Die willentliche Natur des fortgesetzten Substanzkonsums kann indes bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms gerade nicht in jedem Fall vorbehaltlos bejaht werden, wie sowohl aus den Diagnosekriterien des ICD-10 als auch aus denjenigen des DSM-5 erhellt (oben E. 5.2). Diagnosekriterium ist nämlich bei beiden insbesondere der anhaltende Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu beenden, zu verringern oder zu kontrollieren. Auf die medizinische Kontroverse, inwieweit Sucht als Hirnkrankheit ("brain disease") zu bezeichnen ist, ist nicht weiter einzugehen (vgl. z.B. JOHANN-RIDINGER, a.a.O., S. 579 ff.; ALAN I. LESHNER, Addiction Is a Brain Disease, and It Matters, Science Nr. 278 vom 3. Oktober 1997 S. 45 ff., science.sciencemag.org/content/278/5335/ 45.long; NEIL LEVY, Addiction is not a brain disease [and it matters], frontiers in psychiatry Nr. 4 Artikel 24 vom 11. April 2013 S. 1 ff., www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2013.00024/full; SATEL/LILIENFELD, Addiction and the brain-disease fallacy, frontiers in psychiatry Nr. 4 Artikel 141 vom 3. März 2014 S. 3, www.frontiersin.org/ articles/10.3389/fpsyt.2013.00141/full; JOHN DAVIES, Addiction is not a brain disease, Addiction Research & Theory Vol. 26 Nr. 1 vom 27. April 2017 S. 1 f., doi.org/10.1080/16066359.2017.1321741; VOLKOW/KOOB, Brain Disease Model of Addiction: why is it so controversial?, The Lancet Psychiatry 2015 Vol. 2 Nr. 8 S. 677 ff., doi.org/10.1016/S2215-0366(15)00236-9 [alle zuletzt besucht am 27. Juni 2019]). So oder anders ist die abhängige Person ihrer Erkrankung jedenfalls nicht willenlos ausgeliefert; sie muss aber beträchtliche Ressourcen mobilisieren, um ihrem Verlangen, die Substanz immer wieder zu konsumieren, widerstehen zu können. Es drängt sich hier keine andere Sichtweise auf als bei anderen psychischen Störungen, wo die Arbeits- resp. Erwerbsunfähigkeit in allen Fällen das Resultat der - einem objektiven Massstabe folgenden - Beurteilung ist, ob die versicherte Person trotz des ärztlich diagnostizierten Leidens einer angepassten Arbeit zumutbarerweise ganz oder teilweise nachgehen kann (BGE 141 V 281 E. 3.7.3 S. 296).
5.3.3 Die Rechtsprechung ist folglich dahingehend zu ändern, dass - fachärztlich einwandfrei diagnostizierten (oben E. 5.1) - Abhängigkeitssyndromen bzw. Substanzkonsumstörungen nicht zum vornherein jede invalidenversicherungsrechtliche Relevanz abgesprochen werden kann. Dies steht im Einklang mit dem Ansatz der 5. IV-Revision,
BGE 145 V 215 S. 227
den Invaliditätsbegriff nicht über eine Verschärfung des medizinischen Elements (Ausschluss bestimmter Diagnosen mittels Positiv- oder Negativ-Liste), sondern mittels Verschärfung des kausalen Elements und des Zumutbarkeitsbegriffs (entsprechend der Rechtsprechung) einzuschränken (Botschaft vom 22. Juni 2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. IV-Revision], BBl 2005 4528 ff. Ziff. 1.6.1.5.3 lit. a).
6. Nach dem Gesagten fallen - nachvollziehbar diagnostizierte (oben E. 5.1) - Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen grundsätzlich als invalidenversicherungsrechtlich beachtliche (psychische) Gesundheitsschäden in Betracht.
6.1 Zu beachten ist, dass auch bei Abhängigkeitssyndromen - nicht anders als bei den meisten Erkrankungen (BGE 140 V 193 E. 3.1 S. 195) - kein direkter Zusammenhang besteht zwischen Diagnose und Arbeits(un)fähigkeit bzw. Invalidität. Vielmehr sind die Auswirkungen des bestehenden Gesundheitsschadens auf die funktionelle Leistungsfähigkeit im Einzelfall für die Rechtsanwendenden nachvollziehbar ärztlich festzustellen (Art. 7 Abs. 2 ATSG; BGE 143 V 409 E. 4.2.1 S. 412 f. mit Hinweisen; vgl. ausserdem die in E. 4.2 hiervor zitierte Rechtsprechung).
6.2 Gemäss BGE 143 V 418 E. 6 f. S. 426 ff. ist die Frage nach den Auswirkungen sämtlicher psychischer Erkrankungen auf das funktionelle Leistungsvermögen grundsätzlich unter Anwendung des strukturierten Beweisverfahrens nach BGE 141 V 281 zu beantworten. Hierzu gehören nach dem oben Ausgeführten auch Abhängigkeitssyndrome. Weshalb das strukturierte Beweisverfahren bei diesen Erkrankungen zur Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit nicht geeignet oder entbehrlich sein sollte, ist nicht ersichtlich. Die von der Vorinstanz diesbezüglich angeführten Urteile 8C_582/2015 vom 8. Oktober 2015 (E. 4) und 8C_6/2016 vom 3. Februar 2016 (E. 4.2.3) ergingen noch vor BGE 143 V 418 und begründen die Nichtanwendbarkeit des strukturierten Beweisverfahrens entsprechend mit der unterschiedlichen Natur von Suchterkrankungen und "psychosomatischen Leiden" (zur in den ICD-10 Diagnoseleitlinien zwischenzeitlich nicht mehr verwendeten Begrifflichkeit "psychosomatisch" vgl. BGE 143 V 418 E. 4.1.2 S. 422 f.). Diese Argumentation wurde durch die neuere Rechtsprechung (BGE 143 V 418 E. 6 f. S. 426 ff.) überholt. Die Urteile 8C_663/2017 vom 12. Dezember 2017 E. 3.3 sowie 9C_620/2017 vom 10. April 2018 E. 2.2.1 beschränken sich
BGE 145 V 215 S. 228
sodann auf die Fortschreibung der bisherigen Rechtsprechung, wonach Alkoholismus, Medikamentenmissbrauch und Drogensucht zum vornherein keine Invalidität begründen (E. 4.1 hiervor). An dieser kann nicht festgehalten werden (E. 5 hiervor).
6.3 Im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens kann und muss insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten Einzelfall Rechnung getragen werden. Diesem kommt nicht zuletzt deshalb Bedeutung zu, weil bei Abhängigkeitserkrankungen - wie auch bei anderen psychischen Störungen - oft eine Gemengelage aus krankheitswertiger Störung sowie psychosozialen und soziokulturellen Faktoren vorliegt. Letztere sind selbstverständlich auch bei Abhängigkeitserkrankungen auszuklammern, wenn sie direkt negative funktionelle Folgen zeitigen (vgl. bezüglich der Depressionen BGE 143 V 409 E. 4.5.2 S. 416). Eine krankheitswertige Störung muss umso ausgeprägter vorhanden sein, je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren das Beschwerdebild mitprägen (BGE 127 V 294 E. 5a S. 229).
7. Zusammengefasst bestehen angesichts der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung und nach vertiefter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Medizin hinreichend gewichtige Gründe, die bisherige Rechtsprechung, wonach primäre Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen zum vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen können, und ihre funktionellen Auswirkungen deshalb keiner näheren Abklärung bedürfen, fallen zu lassen. Fortan ist - gleich wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirkt.
Aus Gründen der Verhältnismässigkeit kann immerhin dort von einem strukturierten Beweisverfahren abgesehen werden, wo es nicht nötig oder geeignet ist. Es bleibt daher etwa dann entbehrlich, wenn für eine - länger dauernde (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) - Arbeitsunfähigkeit nach bestehender Aktenlage keine Hinweise bestehen oder eine solche im Rahmen beweiswertiger fachärztlicher Berichte in nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen kein Beweiswert beigemessen werden kann (BGE 143 V 409 E. 4.5.3 S. 417).
8.1 Fallspezifisch schliesst nach dem Gesagten die - vom Beschwerdeführer im Übrigen bestrittene (oben E. 3.1) - Begründung der gutachterlich attestierten Arbeitsunfähigkeit rein in einem primären Suchtgeschehen das Vorliegen einer invalidenversicherungsrechtlich relevanten psychischen Gesundheitsschädigung mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit nicht zum vornherein aus. Entsprechend erübrigen sich Weiterungen sowohl zur primären oder sekundären Natur des Abhängigkeitssyndroms im konkreten Fall als auch zur vom Beschwerdeführer behaupteten Erfahrungstatsache der regelhaften Komorbidität von Sucht und anderen psychischen Störungen (E. 3.1 hiervor).
8.2 Die Vorinstanz hat - entsprechend der bisherigen Rechtsprechung - nicht überprüft, ob das psychiatrische Gutachten der SMAB den normativen Vorgaben von BGE 141 V 281 genügte. Dies ist indes zu bejahen: Zwar fehlt eine Berücksichtigung der erhobenen akzentuierten Persönlichkeitszüge unter dem Titel der Komorbiditäten (vgl. BGE 143 V 418 E. 8.1 S. 429 f.; Urteil 9C_676/2017 vom 17. September 2018 E. 4.2.1.3). Nach Ansicht des Beschwerdeführers berücksichtigt die gutachterliche Einschätzung zudem soziale Ressourcen, die in Wahrheit nicht (mehr) vorhanden sind. Wie es sich damit verhält, kann indes offenbleiben. Die psychiatrische Gutachterin gelangte bereits ungeachtet dieser Elemente - deren Berücksichtigung jedenfalls nicht zu einer höheren als der attestierten Arbeitsfähigkeit zu führen vermöchte - nachvollziehbar zur Auffassung, eine Arbeitsfähigkeit bestehe wohl seit 2012 in geschütztem Rahmen (Beschäftigungsprogramm der HEKS [Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz] in einem Tierheim) im Umfang von ca. 50 %; auf dem ersten Arbeitsmarkt sei die Arbeitsfähigkeit aufgehoben. Dabei hat sie ihre Arbeitsfähigkeitsschätzung - abgesehen von den genannten Punkten, die vorliegend offensichtlich nicht ins Gewicht fallen - an den normativen Vorgaben ausgerichtet. Davon abzuweichen, besteht kein Anlass. Mithin ist - bei Anmeldung zum Leistungsbezug im September 2012 (Eingang bei der IV-Stelle) und vor Vorinstanz beantragtem Rentenbeginn per 1. September 2013 - ab dem 1. September 2013 eine ganze Invalidenrente zu gewähren (Art. 28 Abs. 2 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 IVG). Soweit der Beschwerdeführer letztinstanzlich beantragt, es sei ihm bereits ab Februar 2013 eine Rente zuzusprechen, verlangt er unzulässigerweise mehr als noch vor Vorinstanz, worauf nicht einzutreten ist (Art. 99 Abs. 2 BGG).
BGE 145 V 215 S. 230
Die durch die psychiatrische Gutachterin als erforderlich betrachtete "allmähliche schrittweise Abdosierung von Benzodiazepinen" zur Verhinderung weiterer Verschlechterung der kognitiven Funktionen und der Stimmungslage sowie zur Ermöglichung einer schrittweisen Leistungssteigerung ändert daran nichts. Im Verfügungszeitpunkt lag jedenfalls eine voraussichtlich längere Zeit dauernde Arbeitsunfähigkeit vor; eine ausgewiesene Therapieresistenz ist in der Invalidenversicherung nicht zwingende Anspruchsvoraussetzung (BGE 143 V 409 E. 4.4 S. 414 f. sowie grundlegend BGE 127 V 294 E. 4 S. 294 ff.). Da gemäss - nicht offensichtlich unrichtiger, und für das Bundesgericht deshalb verbindlicher (E. 1.2 hiervor) - Feststellung der Vorinstanz die schrittweise Steigerung der Leistungsfähigkeit nach Benzodiazepinentzug medizinisch bloss möglich und zumutbar, nicht jedoch innert einer bestimmten Frist als überwiegend wahrscheinlich erscheint (oben E. 2.1), ist der Rentenanspruch nicht zum vornherein zu befristen. Die Existenz möglicher und zumutbarer Therapieoptionen ist jedoch mit Blick auf die Schadenminderungspflicht ( Art. 7 und 7b Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 21 Abs. 4 ATSG) von Bedeutung. Die Verwaltung hat denn auch den Versicherten mit Schreiben vom 22. November 2017 dazu angehalten, die therapeutische Begleitung weiterzuführen und die Benzodiazepine abzudosieren (Sachverhalt lit. A hiervor). Ob ein Behandlungserfolg eintritt, kann indes im Einzelfall erst nach Abschluss der entsprechenden Behandlung beurteilt werden (vgl. Urteil 8C_663/2017 vom 12. Dezember 2017 E. 5.1). Folglich wird der Leistungsanspruch durch die IV-Stelle zu gegebener Zeit revisionsweise zu überprüfen sein (Art. 57 Abs. 1 lit. c IVG i.V.m. Art. 17 Abs. 1 und Art. 43 Abs. 1 ATSG ).