Chapeau
149 IV 259
25. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
6B_1433/2022 vom 17. April 2023
Regeste
Art. 398 ss CPP; lieu de séjour inconnu de la personne prévenue en procédure d'appel.
La personne prévenue ne peut exiger que la procédure d'appel se déroule et, dans le même temps, refuser de coopérer en demeurant inatteignable, même par sa défense. Admission d'une renonciation par actes concluants à être jugé par la juridiction d'appel. Violation du principe de la bonne foi (consid. 2).
Faits à partir de page 259
A. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte A. am 25. November 2021 wegen mehrfacher Drohung, Nötigung und mehrfachen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen. Es erklärte die Freiheitsstrafe von 90 Tagen, welche die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich am 22. August 2020 bedingt ausgesprochen hatte, für vollziehbar und auferlegte ihm unter Einbezug dieser Freiheitsstrafe eine unbedingte Gesamtstrafe von 11 Monaten sowie eine Busse von Fr. 500.-. Von einer ambulanten Behandlung sah es ab. Es verbot ihm während eines Jahres seit Rechtskraft des Urteils, mit der Privatklägerin
BGE 149 IV 259 S. 260
Kontakt aufzunehmen und sprach ihr eine Genugtuung von Fr. 1'000.- nebst Zins zu. Ihr Schadenersatzbegehren verwies es auf den Zivilweg.
B. Am 6. Dezember 2021 liess A. bei der I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich fristgerecht Berufung gegen das bezirksgerichtliche Urteil anmelden. Am 12. April 2022 liess er innert Frist die Berufungserklärung erstatten.
Die III. Strafkammer des Obergerichts sistierte am 20. April 2022 das Beschwerdeverfahren betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung bis zum Entscheid der I. Strafkammer des Obergerichts über die Eintretensfrage.
Mit Verfügung vom 16. Mai 2022 ging die Berufungserklärung an die Staatsanwaltschaft und die Privatklägerin. Zugleich wurde diesen Frist angesetzt, um zu erklären, ob Anschlussberufung erhoben wird, oder um ein Nichteintreten auf die Berufung zu beantragen. Am 25. Mai 2022 verzichtete die Staatsanwaltschaft auf Anschlussberufung und beantragte die Bestätigung des bezirksgerichtlichen Urteils. Die Privatklägerin liess sich nicht vernehmen.
Am 10. Oktober 2022 wurde zur Berufungsverhandlung auf den 28. November 2022 vorgeladen.
Mit Beschluss der III. Strafkammer des Obergerichts vom 10. Oktober 2022 wurde die Sistierung des Beschwerdeverfahrens betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung aufgehoben und die Beschwerde der I. Strafkammer des Obergerichts zur weiteren Behandlung überwiesen.
Mit Eingabe vom 25. Oktober 2022 ersuchte der Verteidiger von A. um Ladungsabnahme für die Verhandlung vom 28. November 2022 und beantragte eine erstmalige Sistierung des Berufungsverfahrens bis 30. Juni 2023. Zugleich ersuchte der Verteidiger um Fristansetzung, um dem Gericht innert 5 Arbeitstagen Mitteilung zu machen, sobald er von A. eine Rückmeldung über die Fortsetzung des Berufungsverfahrens oder einen Rückzug der Berufung erhalten habe. Schliesslich beantragte der Verteidiger die Rücküberweisung des Beschwerdeverfahrens betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung an die III. Strafkammer des Obergerichts.
Mit Beschluss vom 27. Oktober 2022 schrieb die I. Strafkammer des Obergerichts das Berufungsverfahren als durch Rückzug der Berufung erledigt ab und stellte fest, dass das Urteil des Bezirksgerichts
BGE 149 IV 259 S. 261
mit Ausnahme von Dispositiv-Ziffer 11 rechtskräftig ist. Die Beschwerde des Verteidigers gegen Dispositiv-Ziffer 11 wies sie zur weiteren Behandlung an die III. Strafkammer des Obergerichts zurück.
C. Der Verteidiger von A. nahm den Beschluss vom 27. Oktober 2022 am 31. Oktober 2022 entgegen.
Am 7. November 2022 ersuchte er um Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens. Er machte zusammengefasst geltend, A. fehle es entgegen den Ausführungen im Beschluss vom 27. Oktober 2022 nicht an Interesse am Berufungsverfahren. Der Beschluss vom 27. Oktober 2022 habe lediglich deklaratorischen Charakter, weshalb das Berufungsverfahren wieder aufzunehmen sei.
Die I. Strafkammer des Obergerichts hielt mit Beschluss vom 8. November 2022 fest, eine Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens nach Ergehen eines verfahrenserledigenden Endentscheids sei im Gesetz nicht vorgesehen. Vielmehr sei in einem solchen Fall ein ordentliches Rechtsmittel zu ergreifen. Entsprechend wies sie das Gesuch um Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens ab.
D. A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen zusammengefasst, die I. Strafkammer des Obergerichts sei infolge Rechtsverweigerung anzuweisen, unverzüglich einen rechtsmittelfähigen Entscheid zu erlassen.
Eventualiter sei der obergerichtliche Beschluss vom 8. November 2022 aufzuheben. Subeventualiter sei der obergerichtliche Beschluss vom 27. Oktober 2022 teilweise aufzuheben. In beiden Fällen sei festzustellen, dass die Berufung nicht zurückgezogen wurde und dass das Urteil des Bezirksgerichts nicht rechtskräftig ist. Die I. Strafkammer des Obergerichts sei anzuweisen, das Berufungsverfahren wieder aufzunehmen. Subsubeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen.
A. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung.
Aus den Erwägungen:
2. Der Verteidiger rügt, neben
Art. 386 Abs. 2 StPO seien die Rechtsweggarantie und der Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt.
2.1 Nach
Art. 32 Abs. 3 BV hat jede strafrechtlich verurteilte Person das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Ein analoger Anspruch ergibt sich auch aus dem Völkerrecht
BGE 149 IV 259 S. 262
(Art. 2 Ziff. 1 des Protokolls Nr. 7 vom 22. November 1984 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [SR 0.101.07];
Art. 14 Abs. 5 UNO-Pakt II [SR 0.103.2]). Jede beschuldigte Person muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen (
Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV). Insbesondere besteht gestützt auf
Art. 32 Abs. 2 BV ein Anspruch der beschuldigten Person, dass ihre Verteidigung an der Haupt- bzw. Berufungsverhandlung teilnehmen kann (
BGE 148 IV 362 E. 1.10.2;
BGE 133 I 12 E. 5 mit zahlreichen Hinweisen).
Wer berechtigt ist, ein Rechtsmittel zu ergreifen, kann nach Eröffnung des anfechtbaren Entscheids durch schriftliche oder mündliche Erklärung gegenüber der entscheidenden Behörde auf die Ausübung dieses Rechts verzichten (Art. 386 Abs. 1 StPO). Wer ein Rechtsmittel ergriffen hat, kann dieses gemäss Art. 386 Abs. 2 StPO bei mündlichen Verfahren bis zum Abschluss der Parteiverhandlungen zurückziehen (lit. a) und bei schriftlichen Verfahren bis zum Abschluss des Schriftenwechsels und allfälliger Beweis- oder Aktenergänzungen (lit. b). Verzicht und Rückzug sind endgültig, es sei denn, die Partei sei durch Täuschung, eine Straftat oder eine unrichtige behördliche Auskunft zu ihrer Erklärung veranlasst worden (Art. 386 Abs. 3 StPO).
2.2 In der Berufungserklärung vom 12. April 2022 führte der Verteidiger aus, der Beschwerdeführer sei seit der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 25. November 2021 nicht mehr erreichbar. Der Verteidiger habe keine aktuelle Adresse und der Beschwerdeführer sei unter der von ihm angegebenen Telefonnummer und E-Mail-Adresse nicht erreichbar. Im Anschluss an die Eröffnung des erstinstanzlichen Urteils habe ihn der Beschwerdeführer gebeten, Berufung zu erheben. Der Verteidiger habe den Beschwerdeführer in der Zwischenzeit nicht mehr kontaktieren können. Er habe vom Beschwerdeführer weder eine Bestätigung noch einen Verzicht oder eine Einschränkung der Berufung erhalten. Daher sehe er sich veranlasst, Berufung zu erklären. Die vollumfängliche Anfechtung erfolge mit dem Hinweis, dass die Berufung allenfalls später zurückgezogen oder beschränkt werde. Er habe mit dem Beschwerdeführer weder das erstinstanzliche Urteil noch die Berufungserklärung besprechen können.
In seiner Eingabe vom 25. Oktober 2022 erklärte der Verteidiger, er könne den Beschwerdeführer weiterhin nicht erreichen, dies trotz intensiver Bemühungen selbst über das kosovarische Konsulat. Für die Vorbereitung und Durchführung des Berufungsverfahrens sei er auf
BGE 149 IV 259 S. 263
Instruktionen des Beschwerdeführers angewiesen. Zugleich verbiete es seine anwaltliche Sorgfaltspflicht, die Berufung ohne Rücksprache mit dem Beschwerdeführer zurückzuziehen.
2.3 Die Vorinstanz stellt fest, der Beschwerdeführer habe sich am erstinstanzlichen Verfahren beteiligt und an der Hauptverhandlung vom 25. November 2021 persönlich teilgenommen. Das erstinstanzliche Urteil sei ihm mündlich eröffnet worden, worauf er durch seinen Verteidiger habe Berufung anmelden lassen. Seither sei sein Aufenthaltsort unbekannt und er sei nicht mehr erreichbar.
Für die Vorinstanz ist nachvollziehbar, dass der Verteidiger sich aus anwaltlicher Sorgfalt auf den Standpunkt stellt, er könne die Berufung des Beschwerdeführers ohne entsprechende Instruktion nicht zurückziehen.
Sodann würdigt die Vorinstanz das Verhalten des Beschwerdeführers. Dieser sei seit bald einem Jahr selbst für seinen Verteidiger nicht mehr erreichbar. Sein Verhalten sei widersprüchlich und verstosse gegen Treu und Glauben. Ihn treffe eine Mitwirkungspflicht. Er könne nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens verlangen und sich gleichzeitig jeder Mitwirkung entziehen, indem er sogar für seinen Verteidiger unerreichbar sei. Ein solches Verhalten verdiene keinen Rechtsschutz. Es gehe auch nicht an, dass das Berufungsverfahren auf unbestimmte Zeit pendent gehalten werde. Vielmehr sei bei der vorliegenden Konstellation von einer konkludenten Rückzugserklärung des Beschwerdeführers auszugehen.
Schliesslich hält die Vorinstanz fest, das Beschwerdeverfahren betreffend Entschädigung der amtlichen Verteidigung werde zur Behandlung an die III. Strafkammer des Obergerichts zurückverwiesen, nachdem das Berufungsverfahren abgeschrieben worden sei.
2.4 Die vorinstanzlichen Erwägungen sind nicht zu beanstanden.
2.4.1 Unlängst befasste sich das Bundesgericht mit einer ähnlichen Konstellation. Dort war der Aufenthalt der beschuldigten Person unbekannt, weshalb eine Vorladung zur Berufungsverhandlung unmöglich war. Das Bundesgericht erwog, dass die Rückzugsfiktion nach
Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO greift, wenn die berufungsführende Person persönlich zur Berufungsverhandlung zu erscheinen hat und die Bekanntgabe ihres Aufenthaltsorts verweigert, sodass ihr die Vorladung nicht zugestellt werden kann (
BGE 148 IV 362 E. 1).
Im vorliegenden Fall wandte die Vorinstanz nicht die Rückzugsfiktion gemäss
Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO an. Doch lassen sich die
BGE 149 IV 259 S. 264
Überlegungen aus
BGE 148 IV 362 auf den vorliegenden Fall übertragen. Dort hatte die Verteidigung immerhin eine E-Mail-Adresse des Beschwerdeführers (
BGE 148 IV 362 E. 1.4.2). Hier ist der Beschwerdeführer nicht einmal für seinen Verteidiger erreichbar. Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, ist sein Verhalten widersprüchlich und verstösst gegen Treu und Glauben. Er kann nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens verlangen und gleichzeitig die Mitwirkung daran verweigern (vgl.
BGE 148 IV 362 E. 1), indem er sogar für seinen Verteidiger unerreichbar bleibt. Ein solches Verhalten verdient keinen Rechtsschutz.
2.4.2 Das Berufungsverfahren unterscheidet sich wesentlich vom erstinstanzlichen Verfahren, das vornehmlich auf ein materielles Urteil ausgerichtet ist. Dagegen unterliegt das Rechtsmittelverfahren weitgehend der Disposition der Parteien (vgl.
BGE 148 IV 362 E. 1.1). Es reicht nicht aus, wenn die beschuldigte Person der Verteidigung nach Kenntnis des erstinstanzlichen Urteils mitteilt, dass sie damit nicht einverstanden ist. Vielmehr muss der Wille, dass eine Überprüfung durch das Berufungsgericht erfolgt, während des Rechtsmittelverfahrens fortlaufend gegeben sein (vgl.
BGE 148 IV 362 E. 1.9.2). Die Vorinstanz stellt willkürfrei fest, dass ein solcher Wille beim Beschwerdeführer fehlt.
2.4.3 Die Vorinstanz verletzt auch nicht den Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren. Namentlich hindert die EMRK eine beschuldigte Person nicht daran, aus freien Stücken auf ein kontradiktorisches Verfahren zu verzichten; dies kann ausdrücklich oder stillschweigend geschehen. Verlangt wird nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass der Verzicht unzweideutig zum Ausdruck kommt und von einem Mindestmass an Garantien, die seiner Bedeutung gerecht werden, begleitet wird. Dies setzt voraus, dass die beschuldigte Person von der gegen sie erhobenen Anklage und vom Verhandlungstermin wusste und die Folgen eines Verzichts vorhersehen konnte. Dem Verzicht dürfen ferner keine wesentlichen Allgemeininteressen entgegenstehen (
BGE 148 IV 362 E. 1.12 mit zahlreichen Hinweisen).
Der Beschwerdeführer war über die gegen ihn erhobenen Anklagevorwürfe im Bild (
Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK). Er nahm sogar persönlich an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung teil. Nachdem ihm die erstinstanzliche Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 11 Monaten eröffnet worden war, bat er seinen Verteidiger, Berufung zu erheben. Danach konnte ihn der Verteidiger nicht
BGE 149 IV 259 S. 265
mehr kontaktieren. Der Beschwerdeführer hätte ohne Weiteres die Möglichkeit gehabt, die Rechtmässigkeit des erstinstanzlichen Urteils vom Berufungsgericht überprüfen zu lassen. Sein gesamtes Verhalten lässt unzweideutig auf einen konkludenten Verzicht auf eine Beurteilung durch ein Berufungsgericht schliessen. Er hat selbst zu verantworten, dass keine Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils erfolgt. Solches ist auch nicht zwingend erforderlich, zumal das Berufungsverfahren weitgehend in der Disposition der Parteien liegt. Das Verfahren ist als fair anzusehen.
2.4.4 Der Beschwerdeführer ersuchte am 7. November 2022 um Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens. Die Vorinstanz hält zutreffend fest, dass das Gesetz keine Wiederaufnahme vorsieht, wenn das Verfahren mit Endentscheid erledigt worden ist. In der Tat ist in einem solchen Fall der ordentliche Rechtsmittelweg zu beschreiten. Dies hat der Beschwerdeführer form- und fristgerecht getan, indem er gegen den Beschluss vom 27. Oktober 2022 die vorliegende Beschwerde in Strafsachen erhob.
2.4.5 Der Verteidiger macht geltend, er habe am 7. November 2022 ein Gesuch um Wiederaufnahme gestellt und eine E-Mail des Beschwerdeführers vom 28. Oktober 2022 an den Verteidiger beigebracht. Daraus folge, dass der Beschwerdeführer in den Kosovo umgezogen sei. Dabei seien die Papiere mit den Kontaktdaten des Verteidigers verloren gegangen. Seine schweizerische Telefonnummer habe er beim Wegzug ausser Betrieb gesetzt. Diese Darstellung ist wenig glaubhaft. Sollte der Beschwerdeführer tatsächlich den Namen seines Verteidigers vergessen haben, dann wäre es ihm ein Leichtes gewesen, sich bei den Zürcher Gerichten zu melden und auf diese Weise mit seinem Verteidiger Kontakt aufzunehmen.
2.5 Nach dem Gesagten durfte die Vorinstanz davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer die Berufung zurückgezogen hatte, und das Berufungsverfahren als durch Rückzug erledigt abschreiben.