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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9F_12/2023  
 
 
Urteil vom 2. November 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiberin Fleischanderl. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Gregor Beckmann, 
Gesuchsteller, 
 
gegen  
 
Schweizerische Ausgleichskasse SAK, Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf, 
Gesuchsgegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Revisionsgesuch gegen das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 30. August 2017 (9C_499/2017 [C-114/2016]). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________, 1964 geboren und in Deutschland wohnhaft, ist Vater zweier am 6. Juni 1993 und 20. August 1997 geborener Söhne. Er bezog seit 1. Januar 2007 eine Witwerrente der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung. Am 14. September 2015 teilte ihm die Schweizerische Ausgleichskasse (SAK) verfügungsweise mit, dass die Witwerrente auf Ende August 2015 eingestellt werde, da der jüngere Sohn zu diesem Zeitpunkt das 18. Altersjahr vollendet habe. Den von A.________ in der Folge erhobenen Einwand nahm die SAK als gegen ihre Verfügung gerichtete Einsprache entgegen und beschied diese abschlägig (Einspracheentscheid vom 2. Dezember 2015). Auf Beschwerde hin bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den angefochtenen Einspracheentscheid (Urteil vom 19. Juni 2017). Das hierauf angerufene Bundesgericht wies die Beschwerde ebenfalls ab (Urteil 9C_499/2017 vom 30. August 2017). 
 
B.  
Am 13. Oktober 2017 liess A.________ gegen das Urteil 9C_499/2017 vom 30. August 2017 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nachfolgend: EGMR) Beschwerde erheben. Gerügt wurde eine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK, indem ihm auf Grund seines Geschlechts die Weiterausrichtung der bisherigen Witwerrente verwehrt werde. Mit Entscheidung vom 17. Mai 2023 (Beschwerde Nr. 74063/17), berichtigt am 29. Juni 2023, nahm der EGMR Kenntnis von der zwischen den Parteien nach Massgabe von Art. 122 lit. a Teilsatz 2 BGG in Verbindung mit Art. 39 EMRK geschlossenen Vereinbarung (gütliche Einigung) und strich die Beschwerde aus seinem Register. 
 
C.  
Mit Eingabe vom 17. August 2023 (Poststempel) lässt A.________ um Revision des Bundesgerichtsurteils 9C_499/2017 vom 30. August 2017 ersuchen; er beantragt, es sei ihm über den 31. August 2015 hinaus eine Witwerrente zu gewähren. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das letztinstanzliche Revisionsverfahren verläuft in mehreren Schritten (vgl. BGE 144 I 214 E. 1.2; Urteil 6F_10/2015 vom 26. Mai 2016 E. 1.2.1). Zunächst prüft das Bundesgericht die Zulässigkeit des Revisionsgesuchs. Für Fragen, die nicht in Kapitel 7 des BGG betreffend die Revision behandelt werden, gelten die allgemeinen Bestimmungen des Gesetzes. Erachtet das Bundesgericht das Revisionsgesuch als zulässig, tritt es auf das Verfahren ein und prüft, ob der geltend gemachte Revisionsgrund gegeben ist. Trifft dies zu, fällt das Bundesgericht nacheinander zwei verschiedene Entscheide, die aber in der Regel in einem einzigen Urteil ergehen: Mit dem ersten hebt es das Urteil auf, das Gegenstand des Revisionsgesuchs bildet; im Rahmen des zweiten Entscheids befindet es über die zuvor bei ihm eingereichte Beschwerde (vgl. Art. 128 Abs. 1 BGG). Der Aufhebungsentscheid beendet das eigentliche Revisionsverfahren und hat die Wiederaufnahme des vorherigen Prozesses zur Folge. Dies führt zu einer Wirkung ex tunc, sodass das Bundesgericht und die Verfahrensbeteiligten in jenen Zustand (rück-) versetzt werden, in welchem sie sich im Zeitpunkt des Erlasses des nun aufgehobenen Urteils befunden hatten, und die Sache so entschieden werden muss, als hätte es das fragliche Urteil nie gegeben (BGE 144 I 214 E. 1.2 mit diversen Hinweisen; Urteil 9F_9/2023 vom 17. Oktober 2023 E. 1; vgl. auch Basile Cardinaux, Das EGMR-Urteil Beeler und seine Folgen, in: SZS 3/2023 S. 115 ff., insb. S. 127 ff.). 
 
2.  
Der Gesuchsteller beruft sich auf den Revisionsgrund gemäss Art. 122 BGG
 
2.1. Nach Art. 122 lit. a Teilsatz 2 BGG, in der ab 1. Juli 2022 geltenden Fassung (AS 2022 289), kann die Revision eines Urteils des Bundesgerichts wegen Verletzung der EMRK verlangt werden, wenn der EGMR in einem endgültigen Urteil (Art. 44 EMRK) eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt oder den Fall durch eine gütliche Einigung abgeschlossen hat (Art. 39 EMRK). Wenn die Parteien im Verfahren vor dem EGMR eine gütliche Einigung erzielen, trifft der EGMR eine Entscheidung im Sinne von Art. 39 Abs. 3 EMRK und Art. 43 Abs. 3 der Verfahrensordnung des EGMR vom 4. November 1998 (SR 0.101.2). In diesem Fall läuft die in Art. 124 Abs. 1 lit. c BGG vorgesehene Frist - das Revisionsgesuch wegen Verletzung der EMRK ist innert 90 Tagen einzureichen, nachdem das Urteil des EGMR nach Art. 44 EMRK endgültig geworden ist - ab der Verkündung des Streichungsentscheids des EGMR (die Möglichkeit der gütlichen Einigung wird darin nicht explizit erwähnt; vgl. Christian Denys, Commentaire de la LTF, 3. Aufl. 2022, je Ziff. 6 zu Art. 122 und 124 BGG). Zudem muss die gesuchstellende Person zur Einreichung eines Revisionsgesuchs legitimiert sein und insbesondere ein aktuelles Interesse an einem neuen Urteil betreffend den strittigen Punkt haben (BGE 144 I 214 E. 2.1 mit Hinweisen).  
 
2.2. Als Partei des Verfahrens, das zum bundesgerichtlichen Urteil 9C_499/2017 vom 30. August 2017 geführt hat, dessen Revision beantragt wird, verfügt der Gesuchsteller über die entsprechende Legitimation und ein aktuelles Interesse an der Wiederaufnahme seiner Sache nach dem Entscheid des EGMR. Ausserdem strich der EGMR die Beschwerde aus dem Register, da die Parteien eine gütliche Einigung im Sinne von Art. 39 Abs. 3 EMRK und Art. 43 der Verfahrensordnung des EGMR erzielt hatten.  
Auf das formal zulässige und rechtzeitige eingereichte Gesuch ist daher grundsätzlich einzutreten (vgl. indes E. 3.3 hiernach). 
 
3.  
 
3.1. Der Revisionsgrund nach Art. 122 BGG setzt neben einer Einigung der Parteien zudem voraus, dass eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Auswirkungen der Verletzung zu beheben (lit. b), und dass die Revision notwendig ist, um die Auswirkungen der Verletzung zu beheben (lit. c).  
 
3.2.  
 
3.2.1. Das Bundesgericht wies die von A.________ eingereichte Beschwerde mit Urteil 9C_477/2017 vom 30. August 2017 ab. Es erwog dabei insbesondere, es bestehe kein Anlass, von der Rechtsprechung abzuweichen, wonach die Aufhebung der Rente eines überlebenden Ehegatten bei Volljährigkeit des letzten Kindes nicht in den Geltungsbereich von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) falle, weshalb sich die Angelegenheit nicht für eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) eigne (BGE 139 I 257).  
 
3.2.2. Mit dem Urteil Beeler gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022 (Nr. 78630/12) entschied die Grosse Kammer des EGMR, dass der Rechtsstreit betreffend den Anspruch auf eine Witwerrente der schweizerischen AHV über die Volljährigkeit des jüngsten Kindes hinaus unter dem Blickwinkel des Rechts auf Achtung des Familienlebens den Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK tangiere (§§ 73 ff.; vgl. auch zu den relevanten Kriterien für die Frage, was unter Art. 8 EMRK in Bezug auf Sozialleistungen fällt, §§ 66 ff.). Der Gerichtshof kam in der Folge zum Schluss, dass durch Art. 24 Abs. 2 AHVG Witwer diskriminiert würden - und daher Art. 14 EMRK verletzt werde -, indem ihre Hinterlassenenrente, anders als jene von Witwen, mit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes dahinfalle.  
Nachdem der Gesuchsteller seine Beschwerde Mitte Oktober 2017 beim EGMR deponiert hatte, war im Rahmen einer Erklärung der Schweiz vom 15. Februar 2023 erkannt worden, dass der vorliegende Fall eine ähnliche Frage aufwerfe wie derjenige, welcher mit dem Urteil Beeler gegen Schweiz entschieden und in dem eine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK festgestellt worden sei. In der Folge einigten sich die Schweiz und der Gesuchsteller gütlich (vgl. Entscheidung des EGMR vom 17. Mai 2023 [betreffend Beschwerde Nr. 74063/17], berichtigt am 29. Juni 2023). Vorbehalten blieb dabei ausdrücklich die Frage der Wiedergutmachung des materiellen Schadens des Gesuchstellers, der aus der Unterbrechung der Auszahlung der Witwerrente zu dem Zeitpunkt resultiert, an dem sein jüngstes Kind volljährig geworden war.  
 
3.2.3. Vor diesem Hintergrund - Vorbehalt der Wiedergutmachung des materiellen Schadens - ist eine Revision im Sinne von Art. 122 BGG erforderlich, um die Auswirkungen der Verletzung zu beheben. Der Revisionsgrund muss daher bejaht werden und es ist nach Art. 128 BGG vorzugehen, d.h. Dispositiv-Ziffer 1 des Urteils 9C_499/2017 vom 30. August 2017 ist aufzuheben und die Beschwerde im Lichte der zwischen den Parteien geschlossenen gütlichen Einigung sowie des Urteils Beeler gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022 neu zu beurteilen.  
 
3.3. Hingegen zahlte die Schweiz dem Gesuchsteller laut EGMR-Entscheidung vom 17. Mai 2023, berichtigt am 29. Juni 2023, einen Betrag von 5'000.- Euro für den dem Gesuchsteller entstandenen immateriellen Schaden sowie von 6'230.- Euro für sämtliche Kosten und Gebühren, die durch das Beschwerdeverfahren in der Schweiz und am EGMR verursacht worden waren. Eine Revision von Dispositiv-Ziffer 2 des Urteils 9C_477/2017 vom 30. August 2017, mit der dem Gesuchsteller Verfahrenskosten in der Höhe von Fr. 500.- auferlegt wurden, fällt mithin ausser Betracht, da er in diesem Punkt bereits entschädigt wurde. Das Revisionsgesuch erweist sich insoweit als unzulässig (Art. 122 lit. b BGG).  
 
4.  
 
4.1. Die Grosse Kammer des EGMR entschied im Urteil Beeler gegen Schweiz, die Schweizer Regierung habe nicht nachgewiesen, dass es zwingende Gründe oder besonders stichhaltige und überzeugende Argumente gebe, die geeignet seien, die in Art. 24 Abs. 2 AHVG verankerte Ungleichbehandlung von Witwern und Witwen auf Grund des Geschlechts zu rechtfertigen. Nach dieser Bestimmung erlischt der Anspruch auf eine Witwerrente neben den in Art. 23 Abs. 4 AHVG genannten Beendigungsgründen (Wiederverheiratung [lit. a], Tod der Witwe oder des Witwers [lit. b]) auch, wenn das letzte Kind des Witwers das 18. Altersjahr vollendet hat. Die Grosse Kammer des EGMR hielt vielmehr fest, dass sich die Ungleichbehandlung von Witwern und Witwen im Lichte von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK nicht ausreichend sachlich begründen lasse.  
 
4.2. Diese Auslegung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 EMRK durch die Grosse Kammer des EGMR ist zur Kenntnis zu nehmen und es ist ihr Rechnung zu tragen. Der in Art. 24 Abs. 2 AHVG stipulierten Ausnahmeregelung fehlt es somit an einer objektiv vertretbaren Grundlage, die eine unterschiedliche Behandlung der dem Gesuchsteller zugesprochenen Witwerrente nach Vollendung des 18. Altersjahrs seines jüngsten, am 20. August 1997 geborenen Sohnes im Vergleich zu einer Witwe in derselben Situation legitimierte. Die auf der Basis von Art. 23 AHVG gewährte Witwerrente ist daher weiterhin - über Ende August 2015 hinaus - auszurichten (vgl. auch "Mitteilungen an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen" Nr. 460 des Bundesamts für Sozialversicherungen [BSV] vom 21. Oktober 2022 [nachfolgend: Mitteilungen Nr. 460], Ziff. 2).  
Dies führt zur Aufhebung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Juni 2017 und des Einspracheentscheids der SAK vom 2. Dezember 2015. Die Sache ist an die SAK zurückzuweisen, damit sie die Höhe des Anspruchs auf die Witwerrente über den 31. August 2015 hinaus und die entsprechenden Nachzahlungen mit Verzugszinsen festsetzt (vgl. Mitteilungen Nr. 460, Ziff. 2; ferner Ziff. 10530 ff. der Wegleitung des BSV über die Renten [RWL] in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, Stand 1. Juli 2022). 
 
5.  
 
5.1. Nach dem Gesagten dringt der Gesuchsteller mit seinem Revisionsgesuch in der Hauptsache durch.  
Auf Grund der Umstände ist ausnahmsweise auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). Die Gesuchsgegnerin hat dem Gesuchsteller eine Parteientschädigung für das Revisionsverfahren zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
5.2. Eine Entschädigung für das Beschwerdeverfahren (sowohl vor den schweizerischen Instanzen als auch vor dem EGMR) ist, wie hiervor dargelegt (E. 3.3), nicht erforderlich.  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Das Revisionsgesuch wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Dispositiv-Ziffer 1 des Urteils 9C_499/2017 vom 30. August 2017 wird aufgehoben und wie folgt neu gefasst: 
 
"1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Juni 2017 und der Einspracheentscheid der Schweizerischen Ausgleichskasse vom 2. Dezember 2015 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Schweizerische Ausgleichskasse zurückgewiesen, damit sie einen neuen Entscheid betreffend die Höhe des Anspruchs auf eine Witwerrente über den 31. August 2015 hinaus und die diesbezüglichen Nachzahlungen mit Verzugszins fällt." 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten für das Revisionsverfahren erhoben. 
 
4.  
Die Gesuchsgegnerin hat dem Gesuchsteller für das Revisionsverfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'800.- zu bezahlen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und dem Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 2. November 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Fleischanderl