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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_219/2023  
 
 
Urteil vom 11. September 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Haag, Merz, 
Gerichtsschreiberin Hänni. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwältin Rahel Unfried, 
 
gegen  
 
Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau, Administrativmassnahmen, Postfach, 5001 Aarau, 
Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, Generalsekretariat, 
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau. 
 
Gegenstand 
Entzug des Führerausweises, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 1. Kammer, vom 21. März 2023 (WBE.2022.386 / pm / jb). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ wurde am 16. April 2020 wegen Rechtsüberholens, begangen am 20. Oktober 2019, der Führerausweis für die Dauer von drei Monaten entzogen; sein Verhalten wurde als schwere Widerhandlung gegen das SVG qualifiziert. Mit Verfügung vom 10. März 2022 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau A.________ den Führerausweis erneut, diesmal wegen einer mittelschweren Widerhandlung im Sinne von Art. 16b SVG für die Dauer von vier Monaten. Diesem zweiten Entzug liegt eine strafrechtliche Verurteilung von A.________ durch die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland wegen Nichtwahrens eines ausreichenden Abstandes (einfache Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 SVG) zugrunde. Dieser hatte am 2. Juni 2021 auf der Autobahn A1 bei Kirchberg-Schönbühl bei einer Geschwindigkeit von 96 km/h lediglich einen Abstand von 18,2 m zum vor ihm fahrenden Auto eingehalten. 
 
B.  
Das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau (DVI) hat eine Beschwerde von A.________ gegen diesen Entscheid am 26. Juli 2022 abgewiesen. Mit Urteil vom 21. März 2023 hat das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau eine dagegen gerichtete Beschwerde ebenfalls abgewiesen. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 11. Mai 2023 gelangt A.________ an das Bundesgericht. Er beantragt im Wesentlichen, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und es sei ihm der Führerausweis lediglich für die Dauer von einem Monat zu entziehen. Er beantragt ausserdem, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen. 
Das Verwaltungsgericht und das DVI verzichten auf eine Stellungnahme und verweisen auf den angefochtenen Entscheid. Das Bundesamt für Strassen ASTRA stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde. 
Mit Verfügung vom 2. Juni 2023 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid betreffend einen Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht offen (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 sowie Art. 90 BGG); ein Ausnahmegrund gemäss Art. 83 ff. BGG ist nicht gegeben. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und ist als Inhaber des entzogenen Führerausweises und Adressat des angefochtenen Urteils gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist. 
 
2.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft die bei ihm angefochtenen Entscheide aber grundsätzlich nur auf Rechtsverletzungen hin, welche die beschwerdeführende Person vorbringt und begründet (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG). 
 
3.  
 
3.1. Gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. b SVG wird der Führerausweis nach einer mittelschweren Widerhandlung für mindestens vier Monate entzogen, wenn in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis einmal wegen einer schweren oder mittelschweren Wiederhandlung entzogen war. Nach Auffassung der kantonalen Behörden ist diese Bestimmung auf die Widerhandlung vom 2. Juni 2021 anwendbar, weil dem Beschwerdeführer der Führerausweis bereits im April 2020, also weniger als zwei Jahre zuvor, wegen einer schweren Widerhandlung (Rechtsüberholen, begangen am 20. Oktober 2019) entzogen worden war.  
 
3.2. Der Beschwerdeführer bestreitet die Qualifikation des Vorkommnisses vom 2. Juni 2021 als mittelschwere Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 16b SVG nicht, ebensowenig den zugrunde liegenden Sachverhalt; immerhin macht er geltend, seinem Verhalten komme bloss ein sehr geringer Unrechtsgehalt zu, sei er doch lediglich zu einer Busse von Fr. 500.-- verurteilt worden.  
Im Zusammenhang mit dem Ereignis vom 20. Oktober 2019 beruft er sich auf die neue Ziff. 314.3 des Anhangs 1 der Ordnungsbussenverordnung vom 16. Januar 2019 (OBV; SR 314.11) sowie auf die in der Folge angepasste, in BGE 149 II 96 publizierte Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Rechtsüberholen. In Anwendung dieser neuen Rechtslage und Praxis würde sein damaliges Überholmanöver heute als einfaches Rechtsüberholen qualifiziert und bloss mit einer Ordnungsbusse sanktioniert. Es hätte keinen Führerausweisentzug mehr zur Folge. Bei der Beurteilung der aktuellen Administrativmassnahme sei die lex mitior-Regel zu beachten. Es sei deshalb nicht von einer in den letzten zwei Jahren erfolgten Widerhandlung auszugehen, die einen Führerausweisentzug zur Folge habe. Deshalb greife das Kaskadensystem nach Art. 16b Abs. 2 SVG nicht und es sei ihm der Führerausweis bloss für einen Monat statt für vier Monate zu entziehen. 
 
4.  
 
4.1. Das Bundesgericht hat im Urteil BGE 149 II 96 geprüft, ob angesichts der seit dem 1. Januar 2021 geltenden neuen Ziff. 314.3 des Anhangs 1 zur OBV an seiner bisherigen Rechtsprechung zum Rechtsüberholen vollumfänglich festzuhalten sei. Es hat befunden, nach der genannten Bestimmung könne das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen auf Autobahnen und Autostrassen mit mehreren Fahrstreifen neu im Ordnungsbussenverfahren geahndet werden. Dies komme allerdings nur ausnahmsweise in Betracht, wenn im Einzelfall in Berücksichtigung der gesamten konkreten Verhältnisse ein einfaches Rechtsüberholen ohne erschwerende Umstände vorliege. Dabei sei ein strenger Massstab anzuwenden und die Schwelle für das Vorliegen solcher Umstände tief anzusetzen (BGE 149 II 96 E. 5.5.2).  
 
4.2. Gemäss Art. 102 Abs. 1 SVG sind die allgemeinen Bestimmungen des StGB anwendbar, soweit das SVG keine abweichenden Vorschriften enthält. Zu diesen allgemeinen Bestimmungen zählt auch Art. 2 Abs. 2 StGB, der den Grundsatz der lex mitior statuiert (BGE 149 II 96 E. 4.2). Dieser findet auch Anwendung auf Führerausweisentzüge gestützt auf Art. 16b SVG, denn diese knüpfen an einen bestimmten Vorfall an. Insoweit ist grundsätzlich das Recht anzuwenden, das im Zeitpunkt des zur Massnahme Anlass gebenden Vorfalls galt. Später in Kraft getretenes Recht ist jedoch dann massgebend, wenn es milder als das alte ist, was sich mit Rücksicht auf den strafähnlichen Charakter des Warnungsentzugs rechtfertigt (BGE 104 Ib 87 E. 2b).  
 
 
4.3. Die Regel der lex mitior nach Art. 2 Abs. 2 StGB stellt eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot nach Art. 2 Abs. 1 StGB dar. Es regelt, wann ein Gericht (oder im Bereich des SVG auch eine Verwaltungsbehörde) einen bestimmten Sachverhalt nicht anhand des Rechts zu beurteilen hat, das bei Tatbegehung gegolten hat, sondern gestützt auf die im Urteilszeitpunkt geltenden Normen. Dem Beschwerdeführer geht es vorliegend aber nicht um die Beurteilung seiner jüngsten Widerhandlung aufgrund neueren, milderen Rechts. Es geht ihm um etwas anderes: Indem er einwendet, sein Überholmanöver vom 20. Oktober 2019 würde nach heutigem Recht nicht mehr als schwere Widerhandlung qualifiziert, weshalb sich die Anwendung des Kaskadensystems nach Art. 16b SVG nicht rechtfertige, strebt er eine Neubeurteilung der verwaltungsrechtlichen Folgen der Widerhandlung vom 20. Oktober 2019 an. Diese Massnahme ist aber längst rechtskräftig geworden. Deren Neubeurteilung sprengt den Anwendungsbereich der lex mitior. Diese gilt einzig für noch nicht beurteilte Sachverhalte und stellt für sich alleine keinen Revisionsgrund dar (Urteil 6B_815/2009 vom 18. Februar 2010 E. 2.1; PETER POPP/ANNE BERKEMEIER in: Basler Kommentar zum StGB, Strafrecht I, 4. Aufl. 2018, N. 13 zu Art. 2).  
 
4.4. Auch in der Sache besteht kein Anlass, das Verhalten des Beschwerdeführers vom 20. Oktober 2019, das zu einem Ausweisentzug von drei Monaten geführt hat, zum heutigen Zeitpunkt neu zu beurteilen: Dieses wurde aufgrund der damals geltenden Wertungen als schwere Widerhandlung qualifiziert; das betreffende Verfahren ist abgeschlossen. Sowohl die strafrechtliche Verurteilung wie auch die administrative Massnahme sind rechtskräftig. Der Beschwerdeführer musste damit rechnen, bei einer erneuten schweren oder mittelschweren Widerhandlung aufgrund des Kaskadensystems mit einem mindestens viermonatigen Führerausweisentzug belegt zu werden. Eine solche Widerhandlung hat er sich zuschulden kommen lassen, indem er am 2. Juni 2021 den gebotenen Abstand zum vor ihm fahrenden Auto erheblich unterschritten hat. Dieses Verhalten hat die Anwendung des Kaskadensystems zur Folge, und dessen rechtliche Beurteilung hat zwischen Tatbegehung und Beurteilung keine Änderung erfahren.  
 
4.5. Das vom Beschwerdeführer gewünschte Vorgehen wäre im Übrigen auch unpraktikabel, weil das Kaskadensystem von Art. 16b Abs. 2 SVG, ebenso wie dasjenige nach Art. 16c Abs. 2 SVG, teils auf mehreren früheren Verurteilungen beruht, die gegebenenfalls alle einer Überprüfung unterzogen werden müssten. Ausserdem liesse sich nach Jahren nicht immer feststellen, ob - soweit es um das Rechtsüberholen geht - die Voraussetzungen für eine Beurteilung im Ordnungsbussenverfahren gegeben wären.  
 
5.  
Weitere Einwände gegen das angefochtene Urteil erhebt der Beschwerdeführer nicht. Daher erweist sich die Beschwerde als unbegründet. Sie ist abzuweisen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es ist keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau, dem Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, und dem Bundesamt für Strassen (ASTRA) schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 11. September 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Hänni