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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_791/2023  
 
 
Urteil vom 23. August 2023  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
nebenamtliche Bundesrichterin Wasser-Keller, 
Gerichtsschreiberin Unseld. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Erik Wassmer, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz; Strafbefreiung, Kostenfolgen, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 8. Mai 2023 (SST.2023.8). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ fuhr am 23. Juni 2021, um 13.00 Uhr, mit dem Kleinmotorrad in Rheinfelden mit ca. 30 bis 40 km/h auf dem mit einem Fahrverbot für Motorräder versehenen U.________weg Richtung Rheinfelden. In der Rechtskurve kam sie nach links ins Wiesland ab, wobei sie zu Fall kam und sich verletzte. 
 
B.  
Die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg verurteilte A.________ mit Strafbefehl vom 28. Juli 2021 wegen fahrlässiger Verletzung der Verkehrsregeln durch Nichtbeherrschen des Fahrzeugs, fahrlässiger Verletzung der Verkehrsregeln durch mangelnde Aufmerksamkeit und Verletzung der Verkehrsregeln durch Nichtbeachten des Vorschriftssignals "Verbot für Motorräder" zu einer Busse von Fr. 250.--, ersatzweise drei Tage Freiheitsstrafe. 
 
C.  
Auf Einsprache von A.________ hin bestätigte die Präsidentin des Bezirksgerichts Rheinfelden am 23. September 2022 die Schuldsprüche, sah jedoch gestützt auf Art. 54 StGB von einer Strafe ab. Die Verfahrenskosten von Fr. 1'980.-- auferlegte sie A.________. 
 
D.  
Das Obergericht des Kantons Aargau sprach A.________ auf deren Berufung hin mit Urteil vom 8. Mai 2023 der Verletzung der Verkehrsregeln durch Nichtbeherrschen des Fahrzeugs infolge mangelnder Aufmerksamkeit gemäss Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 3 Abs. 1 VRV und Verletzung der Verkehrsregeln durch Nichtbeachten eines Verkehrssignals gemäss Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 1 SVG schuldig. Es sah gestützt auf Art. 54 StGB von einer Strafe ab. Es bestätigte den erstinstanzlichen Kostenentscheid und auferlegte A.________ zusätzlich die obergerichtlichen Verfahrenskosten von Fr. 3'000.--. 
 
E.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau sei aufzuheben und das gegen sie angehobene Strafverfahren sei einzustellen. Eventualiter seien die Verfahrenskosten aller Vorinstanzen dem Staat zu überbinden. Sie ersucht zudem um unentgeltliche Rechtspflege und Erteilung der aufschiebenden Wirkung. 
 
F.  
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wurde am 21. Juni 2023 präsidialiter abgewiesen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Streitgegenstand bildet gemäss der Beschwerdeführerin die Frage, ob sie nach dem unbestrittenermassen falschen Strafbefehl vom 28. Juli 2021, dessen Busse aufgehoben worden sei, noch mit Verfahrenskosten belastet werden dürfe, obwohl das Verfahren von der Staatsanwaltschaft infolge Missachtung von Art. 54 StGB verschuldet worden sei. Der Strafbefehl sei falsch gewesen, da die Staatsanwaltschaft Art. 54 StGB zu Unrecht nicht zur Anwendung gebracht habe. Sie habe diesen falschen Strafbefehl, welcher eine Strafe von Fr. 250.-- vorgesehen habe, anfechten müssen. Verursacherin des Verfahrens sei daher die Staatsanwaltschaft. Sie habe nun zwar Recht erhalten, müsse aber Verfahrenskosten von fast Fr. 5'000 bezahlen, was im Ergebnis willkürlich sei.  
 
1.2.  
 
1.2.1. Ist der Täter durch die unmittelbaren Folgen seiner Tat so schwer betroffen, dass eine Strafe unangemessen wäre, so sieht die zuständige Behörde von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht oder einer Bestrafung ab (Art. 54 StGB). Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bildet Art. 8 Abs. 1 StPO keine Grundlage für die Einstellung des Verfahrens durch das Gericht nach der Anklageerhebung in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB. Ist Anklage erhoben worden, so hat das Gericht, wenn es einen Anwendungsfall dieser Bestimmungen als gegeben erachtet, im Hauptverfahren zu prüfen, ob und inwiefern der eingeklagte Sachverhalt erstellt ist und einen Straftatbestand erfüllt. Fehlt es an einem Straftatbestand, muss das Gericht die beschuldigte Person freisprechen. Ist ein Straftatbestand gegeben und sind die weiteren Voraussetzungen für einen Schuldspruch erfüllt, hat es sie schuldig zu sprechen und in Anwendung von Art. 52, 53 oder 54 StGB von einer Bestrafung abzusehen (BGE 139 IV 220 E. 3.4). Diese Rechtsprechung muss ebenso gelten, wenn anstelle der Anklageerhebung ein dieser entsprechender Strafbefehl ergeht (Art. 356 Abs. 1 StPO; Urteil 6B_167/2018 vom 5. März 2019 E. 1.2). Nachdem sich das Bundesgericht in BGE 139 IV 220 bereits ausführlich mit der abweichenden Auffassung in der Lehre auseinandergesetzt hatte, bestätigte es seine Rechtsprechung mehrfach (Urteile 6B_479/2018 vom 19. Juli 2019 E. 2.4.2; 6B_167/2018 vom 5. März 2019 E. 1.2; 6B_117/2018 vom 28. Mai 2018 E. 1.2; 6B_983/2017 vom 20. März 2018 E. 1.2).  
 
1.2.2. Es besteht vorliegend kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Eine Verfahrenseinstellung durch die Vorinstanz kam nach der zitierten Rechtsprechung nicht in Betracht. Hingegen sah die Vorinstanz in Anwendung von Art. 54 StGB sowie in Beachtung des in Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO verankerten Verschlechterungsverbots zu Recht von einer Bestrafung der Beschwerdeführerin ab.  
 
1.3.  
 
1.3.1. Die beschuldigte Person trägt die Verfahrenskosten, wenn sie verurteilt wird (Art. 426 Abs. 1 StPO). Ein "fehlerhafter" Strafbefehl fällt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 426 Abs. 3 lit. a StPO (Urteile 6B_1290/2021 vom 31. März 2022 E. 4.5; 6B_832/2020 vom 22. Februar 2021 E. 4.1; 6B_904/2018 vom 8. Februar 2019 E. 4.4; 6B_877/2018 vom 16. Januar 2019 E. 4; 6B_90/2017 vom 22. November 2017 E. 5.1; 6B_936/2015 vom 25. Mai 2016 E. 2.3.2; 6B_811/2014 vom 13. März 2015 E. 1.4; 6B_1025/2014 vom 9. Februar 2015 E. 2.3.2). Da die Einsprache gegen einen Strafbefehl kein Rechtsmittel im technischen Sinne ist, gelangen auch die Bestimmungen über die Kostenregelung im Rechtsmittelverfahren nicht zur Anwendung. Die Kosten sind vielmehr so zu verlegen, wie wenn ohne vorgängigen Strafbefehl sogleich Anklage erhoben worden wäre (Urteile 6B_1290/2021 vom 31. März 2022 E. 4.5; 6B_832/2020 vom 22. Februar 2021 E. 4.1; 6B_956/2019 vom 19. November 2019 E. 1.6; 6B_1185/2018 vom 14. Januar 2019 E. 3.2; 6B_90/2017 vom 22. November 2017 E. 5.3; 6B_811/2014 vom 13. März 2015 E. 1.4). Die neuere Rechtsprechung verneint folglich einen Anspruch auf eine kostengünstige Erledigung im Strafbefehlsverfahren, da die verurteilte Person bei den Kostenfolgen auf jeden Fall so zu stellen ist, als wenn ohne vorgängigen Strafbefehl sogleich Anklage erhoben worden wäre (vgl. dazu die Urteile 6B_1025/2014 vom 9. Februar 2015 E. 2.3.2; 6B_523/2014 vom 15. Dezember 2014 E. 5.5; 6B_485/2013 vom 22. Juli 2013 E. 2.1; 6B_367/2012 vom 21. Dezember 2012 E. 3, in welchen das Bundesgericht die Frage noch offenliess). Die beschuldigte Person hat im Falle eines Schuldspruchs die Kosten des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens in Anwendung von Art. 426 Abs. 1 StPO demnach grundsätzlich selbst dann zu tragen, wenn das Verfahren mittels eines Strafbefehls bzw. einer Verfahrenseinstellung gestützt auf Art. 54 StGB i.V.m. Art. 8 StPO durch die Staatsanwaltschaft ohne Überweisung an das Gericht hätte erledigt werden können. Die Vorinstanz auferlegte der Beschwerdeführerin nach dem Gesagten zu Recht die erstinstanzlichen Verfahrenskosten. Offenbleiben kann, ob bereits die Staatsanwaltschaft Art. 54 StGB hätte zur Anwendung bringen können. Die Vorinstanz legt im angefochtenen Entscheid auf jeden Fall zutreffend dar, dass es sich vorliegend zumindest bezüglich der Nichtbeachtung des Vorschriftssignals "Verbot für Motorräder" nicht um einen offensichtlichen Anwendungsfall von Art. 54 StGB handelt (vgl. angefochtenes Urteil E. 1.2 S. 3 ff.).  
 
1.3.2. Im Übrigen hätte die Beschwerdeführerin für die Kosten des Untersuchungsverfahrens inklusive Einstellungsverfügung und Abklärungen zur Anwendbarkeit von Art. 54 StGB nach der Rechtsprechung in Anwendung von Art. 426 Abs. 2 StPO auch aufkommen müssen, wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren gestützt auf Art. 54 StGB eingestellt hätte. Das Bundesgericht entschied wiederholt, die Auflage der Verfahrenskosten bei einer Verfahrenseinstellung nach Art. 54 StGB verstosse angesichts des notwendigerweise in einem solchen Falle begangenen Delikts nicht gegen die Unschuldsvermutung (BGE 144 IV 202 E. 2.3, in: Pra 2019 Nr. 22; Urteile 6B_132/2022 vom 3. März 2023 E. 2.3; 6B_1018/2019 vom 23. Oktober 2019 E. 3).  
 
1.4. Die Kosten- und Entschädigungsfolgen im Rechtsmittelverfahren tragen die Parteien nach Massgabe ihres Obsiegens oder Unterliegens (Art. 428 Abs. 1 Satz 1 StPO). Ob eine Partei als obsiegend oder unterliegend gilt, hängt davon ab, in welchem Ausmass ihre vor Berufungsgericht gestellten Anträge gutgeheissen wurden (Urteile 6B_176/2019 vom 13. September 2019 E. 2.2; 6B_1118/2016 vom 10. Juli 2017 E. 1.2.2). Eine Verletzung von Art. 428 Abs. 1 Satz 1 StPO ist ebenfalls nicht ersichtlich, nachdem die Beschwerdeführerin im Berufungsverfahren mit ihren Anträgen unterlag.  
 
2.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Die Gerichtskosten sind ausgangsgemäss der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist zufolge Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Der angespannten finanziellen Lage der Beschwerdeführerin ist mit reduzierten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. August 2023 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Unseld