Avis important:
Les versions anciennes du navigateur Netscape affichent cette page sans éléments graphiques. La page conserve cependant sa fonctionnalité. Si vous utilisez fréquemment cette page, nous vous recommandons l'installation d'un navigateur plus récent.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_549/2022  
 
 
Urteil vom 17. Februar 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Müller, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Haag, Kölz, 
Gerichtsschreiber Schurtenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin, 
 
gegen  
 
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Verfahrensleiterin, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; 
unentgeltliche Rechtspflege/Sicherheitsleistung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Verfahrensleiterin, vom 21. September 2022 (SBK.2022.293 / CS). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 16. August 2022 hat die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach eine Nichtanhandnahmeverfügung betreffend eine von A.________ eingereichte Strafanzeige erlassen. 
 
B.  
Gegen diese Nichtanhandnahmeverfügung erhob A.________ am 1. September 2022 Beschwerde an das Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen. Zugleich stellte er ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Beschwerdeverfahren. Mit Verfügung vom 21. September 2022 hat das Obergericht das Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege abgewiesen und A.________ eine Frist zur Bezahlung eines Kostenvorschusses angesetzt. 
 
C.  
Dagegen erhebt A.________ mit Eingabe vom 26. Oktober 2022 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die angefochtene Verfügung aufzuheben und ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren sowie von der Erhebung eines Kostenvorschusses abzusehen. Weiter beantragt er die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren. 
Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Der Beschwerdeführer hat sich nicht mehr zur Sache geäussert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen offen (Art. 78 Abs. 1 i.V.m. Art. 80 BGG). Es handelt sich um einen das Strafverfahren nicht abschliessenden Zwischenentscheid, der geeignet ist, einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu bewirken (vgl. BGE 140 IV 202 E. 2.2; Urteil 1B_81/2022 vom 20. Juni 2022 E. 1; je mit Hinweis). 
Der Beschwerdeführer ist ungeachtet der Legitimationsvoraussetzungen von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG zur Beschwerde berechtigt, da er mit seiner Kritik an der Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege eine Verletzung von Verfahrensrechten geltend macht, die einer formellen Rechtsverweigerung gleichkommt (BGE 146 IV 76 E. 2; 141 IV 1 E. 1.1; Urteil 1B_75/2022 vom 3. Mai 2022 E. 1; je mit Hinweisen). 
 
2.  
Die Vorinstanz hat das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege aufgrund unzureichender Begründung abgewiesen. Zum einen habe er es unterlassen darzulegen, welche Zivilforderungen er gegenüber dem Beschuldigten adhäsionsweise im Strafverfahren geltend zu machen gedenke, obwohl die unentgeltliche Rechtspflege der Privatklägerschaft im Strafprozess nur zur Durchsetzung ihrer Zivilansprüche gewährt werden könne (vgl. Art. 136 Abs. 1 StPO). Zum anderen sei er seiner Obliegenheit nicht nachgekommen, Unterlagen zu seinen finanziellen Verhältnissen bzw. zu seiner behaupteten Bedürftigkeit einzureichen. Er habe in seiner Beschwerde zwar ausgeführt, aufgrund schwerer Krankheit weder über Einkommen noch Vermögen zu verfügen und die entsprechenden Unterlagen und Nachweise noch nachzureichen. Seit der Beschwerdeeinreichung vom 1. September 2022 seien jedoch keinerlei Unterlagen nachgereicht worden. Über die finanzielle Situation des Beschwerdeführers herrsche demnach gänzliche Unklarheit, weshalb das Gesuch abgelehnt werden müsse. Da der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten sei, müsse ihm auch keine Nachfrist zur Einreichung der Unterlagen angesetzt werden. 
Der Beschwerdeführer macht zunächst eine Verletzung der aus Art. 3 und 8 EMRK fliessenden Gewährleistungspflichten, der Rechtsweggarantie und des Anspruchs auf Waffengleichheit im Sinne von Art. 6 EMRK sowie das Recht auf eine Beschwerde im Sinne von Art. 13 EMRK geltend. Weiter rügt er eine Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV, eine Rechtsverweigerung im Wege des überspitzten Formalismus und eine überraschende Rechtsanwendung, die Verletzung des Prinzips von Treu und Glauben sowie des Verhältnismässigkeitsprinzips. Schliesslich rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 136 StPO sowie des Untersuchungsgrundsatzes gemäss Art. 6 StPO
 
3.  
 
3.1. Die prozessuale Bedürftigkeit beurteilt sich nach der gesamten wirtschaftlichen Situation des Rechtsuchenden im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs. Dazu gehören einerseits sämtliche finanziellen Verpflichtungen, andererseits die Einkommens- und Vermögensverhältnisse (BGE 141 III 369 E. 4.1; 124 I 1 E. 2a, Urteil 1B_245/2020 vom 23. Juli 2020 E. 3.5). Dabei obliegt es der Antrag stellenden Partei, ihre aktuellen Einkommens- und Vermögensverhältnisse umfassend aufzuzeigen und ihre finanziellen Verpflichtungen zu belegen (BGE 135 I 221 E. 5.1). Kommt sie dieser Obliegenheit nicht nach, ist der Antrag abzuweisen (BGE 125 IV 161 E. 4a; Urteile 1B_379/2021 vom 6. April 2022 E. 2.2; 1B_245/2020 vom 23. Juli 2020 E. 3.5; 1B_502/2019 vom 23. Dezember 2019 E. 2.2; 1B_107/2018 vom 30. April 2018 E. 2.3; 1B_332/2012 vom 15. August 2012 E. 2.5).  
Die mit dem Gesuch befasste Behörde ist weder verpflichtet, den betreffenden Sachverhalt von sich aus umfassend abzuklären, noch muss sie alles Behauptete von Amtes wegen überprüfen (Urteil 6B_578/2020 vom 11. August 2021 E. 3.3; 2C_367/2020 vom 7. Oktober 2020 E. 3.3; je mit Hinweisen). Sie hat unbeholfene Rechtssuchende aber darüber zu informieren, welche Angaben zur Beurteilung des Gesuchs eingereicht werden müssen (BGE 120 Ia 179 E. 4a; Urteil 2C_367/2020 vom 7. Oktober 2020 E. 3.3; je mit Hinweisen). Demgegenüber ist anwaltlich vertretenen Gesuchstellerinnen und Gesuchstellern dem Grundsatz nach keine Nachfrist anzusetzen, wenn diese ihrer Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen sind, und kann ihr Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ohne weiteres abgewiesen werden (Urteile 5A_1012/2020 vom 3. März 2021 E. 3.2.3; 5A_502/2017 vom 15. August 2017 E. 3.2; 5A_327/2017 vom 2. August 2017 E. 4; je mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 6B_578/2020 vom 11. August 2021 E. 3.4 e contrario). Das Gericht hat die antragsstellende Person indessen auch bei anwaltlicher Vertretung immer dann zur Klärung aufzufordern und ihr entsprechend eine Nachfrist zur Einreichung weiterer Unterlagen anzusetzen, wenn diese ihrer Mitwirkungsobliegenheit zwar nachgekommen ist, es ihr aber (dennoch) nicht mit der ersten Eingabe gelungen ist, ihre Bedürftigkeit zur Zufriedenheit des Gerichts nachzuweisen (Urteile 1B_502/2019 vom 23. Dezember 2019 E. 2; 1B_389/2015 vom 7. Januar 2016 E. 5.4; siehe auch 6B_578/2020 vom 11. August 2021 E. 3.4). 
 
3.2. Die Vorinstanz hat sich in ihrem Entscheid ausdrücklich auf die vorgenannte Rechtsprechung berufen und gestützt darauf festgehalten, es obliege dem Beschwerdeführer, seine finanzielle Situation vollumfänglich offenzulegen. Da der Beschwerdeführer dieser Obliegenheit nicht nachgekommen sei und er über eine anwaltliche Vertretung verfüge, könne auf die Ansetzung einer Nachfrist verzichtet und das Gesuch direkt abgewiesen werden.  
Der Beschwerdeführer bezieht sich zwar nicht direkt auf die genannte bundesgerichtliche Rechtsprechung. Seine Rügen, für das Vorgehen der Vorinstanz bestehe keine gesetzliche Grundlage und es verletze die im Strafprozess vorherrschende Untersuchungsmaxime, stellen im Ergebnis jedoch eine Kritik an der bundesgerichtlichen Praxis dar, die er für rechtswidrig hält. Aus seinen Vorbringen ergeben sich indessen keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte, die eine Praxisänderung nahelegen würden, zumal der Beschwerdeführer respektive dessen Rechtsvertreter einzig seine eigene diesbezügliche Rechtsauffassung darlegt. Die Änderung einer Rechtsprechung muss sich auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung für zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis des Gesetzeszwecks, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (BGE 147 V 342 E. 5.5.1 mit Hinweisen; siehe auch Urteil 1B_420/2022 vom 9. September 2022 E. 4.1.2, zur amtlichen Publikation bestimmt). Auf die vom Beschwerdeführer kritisierte langjährige Rechtsprechung (vgl. E. 3.1 hiervor) ist somit nicht zurückzukommen. 
Mit Blick auf diese konstante Praxis des Bundesgerichts erscheint es sodann auch als abwegig, von einer (unzulässigen) überraschenden Rechtsanwendung (vgl. dazu BGE 145 IV 99 E. 3.1) durch die Vorinstanz auszugehen, wie dies der Beschwerdeführer tut. Die Beschwerde ist diesbezüglich unbegründet. 
 
3.3. Neben dieser pauschalen Kritik an der Verfahrensführung der Vorinstanz bemängelt der Beschwerdeführer auch deren Vorgehen im vorliegenden Einzelfall. Er habe aufgrund seiner Verbeiständung seinen Rechtsvertreter erst wenige Tage vor der Einreichung des Gesuchs mandatieren können, seine Bedürftigkeit eingehend begründet und die Nachreichung der entsprechenden Belege, die er innerhalb der kurzen Beschwerdefrist nicht habe beschaffen können, in Aussicht gestellt. Ihm unter diesen Voraussetzungen keine Nachfrist zu gewähren, sei überspitzt formalistisch und stelle damit eine unzulässige Rechtsverweigerung und Beschränkung der Rechtsweggarantie dar (Art. 6 EMRK).  
Der Beschwerdeführer scheint indessen zu verkennen, dass die Vorinstanz sein Gesuch nicht deshalb abgewiesen hat, weil er die notwendigen Dokumente nicht gemeinsam mit seinem Gesuch eingereicht hat, wofür in dieser besonderen Konstellation in der Tat vertretbare Gründe vorlagen, sondern diese auch hiernach nicht (unaufgefordert) nachgereicht hat. 
Vielmehr hat der Beschwerdeführer, im Wissen um die Unvollständigkeit seines Gesuchs um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (vgl. dagegen Urteil 6B_578/2020 vom 11. August 2021 E. 3.4, wo der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer davon ausgehen durfte, seiner Mitwirkungsobliegenheit hinreichend nachgekommen zu sein), dieses dennoch eingereicht und der Vorinstanz die Nachreichung der fehlenden Unterlagen in Aussicht gestellt. Vor diesem Hintergrund konnte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer es nicht dabei genügen lassen, die Ansetzung einer Nachfrist zur Einreichung der fehlenden Unterlagen durch die Vorinstanz abzuwarten, sondern hätte selbst tätig werden und die fehlenden Unterlagen unaufgefordert und unverzüglich nachreichen müssen. Dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer wäre es indessen freigestanden, ausdrücklich um Ansetzung einer solchen (Nach-) Frist zu ersuchen, was er unterlassen hat und ihm anzulasten ist. 
Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Frist zur Einreichung der Beschwerde lediglich 10 Tage betrug, ist schwer verständlich, weshalb es dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer innerhalb von 20 weiteren Tagen, mithin insgesamt dem Dreifachen der ursprünglichen Beschwerdefrist, nicht möglich gewesen wäre, die fehlenden Unterlagen nachzureichen oder - zumindest - die Vorinstanz um die Gewährung einer (weiteren) Nachfrist zu ersuchen. Wenn die Vorinstanz aufgrund der scheinbar völligen Untätigkeit des anwaltlich vertretenen Beschwerdeführers während 20 Tagen nach Einreichung seines offensichtlich unvollständigen Gesuchs, trotz Kenntnis dieser Unvollständigkeit, auf die Ansetzung einer Nachfrist verzichtet hat, so vermag dies zwar als streng erscheinen, verstösst aber nicht gegen das Verbot des überspitzten Formalismus. 
 
3.4. Zusammenfasst hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, wenn sie unter den gegebenen Umständen das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege mangels Darlegung seiner Mittellosigkeit abgewiesen hat, ohne ihm eine Nachfrist zur Substanziierung seiner Behauptungen zu gewähren.  
Damit kann offenbleiben, ob dem Beschwerdeführer, wie er in der Beschwerde geltend macht, unabhängig von Zivilforderungen und entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 136 Abs. 1 StPO, direkt gestützt auf Art. 6 und 13 EMRK ein Anspruch auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege zugestanden hätte. 
 
4.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang ist der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er stellt indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Art. 64 BGG), ist diesem stattzugeben. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt Philip Stolkin als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben. 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Rechtsanwalt Philip Stolkin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.  
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Verfahrensleiterin, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. Februar 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Müller 
 
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger