Avis important:
Les versions anciennes du navigateur Netscape affichent cette page sans éléments graphiques. La page conserve cependant sa fonctionnalité. Si vous utilisez fréquemment cette page, nous vous recommandons l'installation d'un navigateur plus récent.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1047/2021  
 
 
Urteil vom 25. Juli 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin Koch, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Clément. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel U. Walder, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ungetreue Geschäftsbesorgung, wirksame Verteidigung, staatliche Fürsorgepflicht, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 27. Mai 2021 (SB200466-O/U/cwo). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Urteil vom 29. Juni 2020 erkannte das Bezirksgericht Dietikon den Beschuldigten A.________ der ungetreuen Geschäftsbesorgung sowie der groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig und bestrafte ihn mit einer unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 10 Monaten. 
 
B.  
Mit Datum vom 23. November 2020 reichte der amtliche Verteidiger, Rechtsanwalt B.________, die Berufungserklärung ein. 
Zu Beginn der Berufungsverhandlung beschränkte der Beschuldigte seine Berufung und erklärte, der Schuldspruch betreffend grobe Verkehrsregelverletzung sei nicht mehr angefochten. Vorfragen wurden nicht aufgeworfen und abgesehen von der Einvernahme des Beschuldigten mangels entsprechender Anträge auch keine Beweise abgenommen, diverse Unterlagen hingegen noch ins Recht gereicht. 
Mit Urteil vom 27. Mai 2021 wies das Obergericht des Kantons Zürich die Berufung vollumfänglich ab und bestätigte die erstinstanzliche Verurteilung. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt der Beschwerdeführer, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt Daniel U. Walder, es sei das Berufungsurteil aufzuheben und der Beschwerdeführer sei vollumfänglich freizusprechen und die Kosten des Vorverfahrens sowie des erstinstanzlichen und vorinstanzlichen Verfahrens seien neu zu verteilen; eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zur neuen Entscheidung zurückzuweisen. Weiter sei dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines verfassungs- und konventionsrechtlichen Rechts auf wirksame Verteidigung und damit einhergehend auch der richterlichen Fürsorgepflicht. Der amtliche Verteidiger habe im vorinstanzlichen Verfahren ein "völlig unzureichendes Engagement" an den Tag gelegt und sein Mandat "offensichtlich unsorgfältig" ausgeübt. So habe er sich kaum auf die Berufungsverhandlung vorbereitet, unsachgemässe Beweisanträge gestellt, ein ebensolches Plädoyer gehalten und sei überhaupt weitgehend untätig geblieben. Daher sei das vorinstanzliche Urteil vollumfänglich aufzuheben. 
 
1.1.  
 
1.1.1. Die Bestimmungen von Art. 29 Abs. 3 BV, Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK garantieren den Anspruch des Beschuldigten auf sachkundige, engagierte und effektive Wahrnehmung seiner Parteiinteressen. Mit den Bestimmungen von Art. 132 und 133 StPO wurde die bisherige Rechtsprechung zur Garantie auf eine wirksame Verteidigung kodifiziert (BGE 139 IV 113 E. 4.3; Urteile 6B_918/2021 vom 4. Mai 2022 E. 1.1; 6B_909/2018 vom 23. Januar 2019 E. 1.2).  
 
1.1.2. Nach der in Art. 128 StPO kodifizierten Grundregel ist die Verteidigung in den Schranken von Gesetz und Standesregeln allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet. Die Verteidigung muss die Interessen des Beschuldigten in ausreichender und wirksamer Weise wahrnehmen und die Notwendigkeit prozessualer Massnahmen im Interesse des Angeschuldigten sachgerecht und kritisch abwägen. Der Beschuldigte hat Anspruch auf eine sachkundige, engagierte und effektive Wahrnehmung seiner Parteiinteressen. Die Strafbehörden ihrerseits haben gemäss den in Art. 3 StPO festgeschriebenen Grundsätzen des Strafverfahrensrechts für ein faires Strafverfahren zu sorgen und eine genügende Verteidigung zu gewährleisten. Wird von den Behörden untätig geduldet, dass der amtliche Verteidiger seine anwaltlichen Berufs- und Standespflichten zum Nachteil der beschuldigten Person in schwerwiegender Weise vernachlässigt, kann darin eine Verletzung der von Verfassung und EMRK gewährleisteten Verteidigungsrechte liegen (BGE 143 I 284 E. 2.2.2; 138 IV 161 E. 2.4; 131 I 185 E. 3.2.3; 126 I 194 E. 3d; 120 Ia 48 E. 2b/bb; je mit Hinweisen).  
 
1.1.3. Die richterliche Fürsorgepflicht gebietet dem Gericht im Falle einer offenkundig ungenügenden Verteidigung, den amtlichen Verteidiger zu ersetzen, und bei einer privaten Verteidigung einzuschreiten sowie nach der Aufklärung des Angeschuldigten über seine Verteidigungsrechte das zur Gewährleistung einer genügenden Verteidigung Erforderliche vorzukehren (BGE 131 I 350 E. 4.1 und 4.2; 124 I 185 E. 3b).  
Der Behörde kann indes nicht die Verantwortung für jegliches Versäumnis auferlegt werden; die Verteidigungsführung obliegt im Wesentlichen der beschuldigten Person und ihrem Verteidiger. Diesem steht in der Ausgestaltung der Prozessführung ein erhebliches Ermessen zu (BGE 126 I 194 E. 3d; Urteile 6B_918/2021 vom 4. Mai 2022 E. 1.1; 6B_909/2018 vom 23. Januar 2019 E. 1.2; 6B_307/2016 vom 17. Juni 2016 E. 2.2 und 2.3.4; je mit Hinweisen). Dies gilt namentlich auch hinsichtlich der Frage, ob Verfahrens- und Beweisanträge im Interesse des Angeschuldigten zu stellen seien (Urteil 6B_100/2010 vom 22. April 2010 E. 2.1 mit Hinweis). 
Erst eine Verteidigungsstrategie, die offensichtlich nicht zum gewünschten Ergebnis führen kann und damit den Interessen des Beschuldigten klarerweise zuwiderläuft, ist als ungenügend zu bezeichnen (so zutreffend Denise Weingart, Die richterliche Fürsorgepflicht im Strafverfahren, Justice - Justiz - Giustizia [Richterzeitung], 2022/1, Rz. 30). 
 
1.1.4. Als schwere Pflichtverletzung fällt sodann nur sachlich nicht vertretbares bzw. offensichtlich fehlerhaftes Prozessverhalten der Verteidigung in Betracht, sofern die beschuldigte Person dadurch in ihren Verteidigungsrechten substanziell eingeschränkt wird. Ein solcher eklatanter Verstoss gegen allgemein anerkannte Verteidigerpflichten liegt etwa vor bei krassen Frist- und Terminversäumnissen, Fernbleiben an wichtigen Zeugeneinvernahmen, mangelnder Sorgfalt bei der Vorbereitung von Einvernahmen und anderen Prozesshandlungen oder fehlender Vorsorge für Stellvertretungen (BGE 143 I 284 E. 2.2.2 f.; 120 Ia 48 E. 2c/d; Urteile 6B_918/2021 vom 4. Mai 2022 E. 1.1; 6B_4/2021 vom 2. Juni 2021 E. 4.2; 6B_1447/2020 vom 13. April 2021 E. 3.2; je mit Hinweisen). Aus dem blossen Umstand, dass das angefochtene Urteil nicht den Erwartungen des Beschwerdeführers bzw. seines neuen Rechtsvertreters entspricht und Letzterer gegebenenfalls eine andere Verteidigungsstrategie als sein Vorgänger gewählt hätte, lässt sich für sich allein freilich kein offensichtlich fehlerhaftes Verhalten der früheren Verteidigung ableiten, welches unter Berufung auf eine Verletzung der richterlichen Fürsorgepflicht zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen könnte (vgl. Urteile 6B_918/2021 vom 4. Mai 2022 E. 1.2; 6B_4/2021 vom 2. Juni 2021 E. 4.3; 6B_909/2018 vom 23. Januar 2019 E. 1.3.3).  
 
1.2. Dem Beschwerdeführer gelingt es nicht, ein Fehlverhalten seines früheren amtlichen Verteidigers aufzuzeigen, das die Aufhebung des Berufungsurteils rechtfertigen würde:  
 
1.2.1. So unterlegt er den Vorwurf, sein Verteidiger habe sich auf die Berufungsverhandlung nur ungenügend vorbereitet, einzig mit dessen Honorarnote vom 26. Mai 2021 bzw. der darin enthaltenen Leistungsübersicht. Die dort ausgewiesene Vorbereitung von 2 Stunden und 40 Minuten hält er für ungenügend und einen Beleg für ein "unzureichendes Engagement". Der Beschwerdeführer zeigt damit aber nicht auf, inwiefern eine längere Vorbereitung notwendig gewesen wäre, und schon gar nicht substanziiert er, inwiefern eine längere Vorbereitung zu einem für ihn günstigeren Berufungsurteil hätte führen können. Gewiss, der strafrechtliche Vorwurf gegen den Beschwerdeführer wog schwer. Relevanter als die Schwere des Vorwurfs ist jedoch insbesondere die Komplexität des Sachverhalts. Der Beschwerdeführer zeigt aber diesbezüglich nicht auf, dass dieser verwickelt und eine längere Vorbereitung zwingend gewesen wäre. Das gilt auch hinsichtlich der Plädoyernotizen: Dass sich solche nicht in den Akten befinden, vermag für sich keine schwerwiegende Pflichtverletzung des früheren Verteidigers zu belegen.  
 
1.2.2. Nichts anderes gibt es zu den Vorwürfen der "Untätigkeit" und des "unsachgemässen" Plädoyers zu sagen: Dem Beschwerdeführer gelingt es auch damit nicht aufzuzeigen, dass die Verteidigungsstrategie seines früheren Verteidigers offensichtlich nicht zum gewünschten Ergebnis führen konnte und damit seinen Interessen klarerweise zuwiderlief. Die entsprechende Offensichtlichkeit ist nicht gegeben - sachlich nicht vertretbares bzw. klarerweise fehlerhaftes Prozessverhalten der Verteidigung ist nicht ersichtlich.  
 
1.2.3. Was schliesslich die Schelte anbelangt, der amtliche Verteidiger habe den Beschwerdeführer auch während der Berufungsverhandlung mangelhaft verteidigt, ist auf das erhebliche Ermessen bei der Verteidigungsstrategie zu verweisen. So mögen dem neuen Rechtsvertreter die Ausführungen seines Kollegen nun zwar "völlig unstrukturiert, wenig nachvollziehbar und noch weniger sachdienlich" erscheinen; ein offensichtlich fehlerhaftes Verhalten der früheren Verteidigung vermag der Beschwerdeführer aber nicht konkret aufzuzeigen. Auch mit Blick auf den Vorwurf, es seien "unsachgemässe Beweisanträge" gestellt worden, ist auf das entsprechende Ermessen des früheren Verteidigers und ganz besonders darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer mit keinem Wort darauf eingeht, welche konkreten Beweisanträge stattdessen hätten gestellt werden sollen.  
 
1.2.4.  
 
1.2.4.1. Immerhin wird in der Beschwerde der folgende Vorwurf etwas substanziierter ausgeführt: Vorliegend habe es sich von Anfang an um einen Fall einer notwendigen Verteidigung gehandelt und dennoch sei der Beschwerdeführer zu Beginn des Strafverfahrens mehrfach ohne Beisein seines Anwalts einvernommen worden. Damit hätte sich die Frage der Verwertbarkeit dieser Einvernahmen gestellt, was der frühere Verteidiger jedoch während des gesamten Verfahrens mit keinem Wort thematisiert habe. So habe er "insbesondere anlässlich seiner ersten Einvernahme vom 27. Februar 2018 - ohne Beisein eines Anwalts - [relevante Aussagen] zu Protokoll" gegeben. Dieser ersten Aussage sei "entscheidende Bedeutung" zugekommen, womit es "umso mehr angebracht gewesen wäre, die Unverwertbarkeit der damaligen Einvernahme zu thematisieren".  
 
1.2.4.2. Es trifft zwar zu, dass die polizeiliche Einvernahme vom 27. Februar 2018 gestützt auf einen staatsanwaltlichen Auftrag nach Art. 312 Abs. 1 StPO erfolgt ist, womit dem Beschwerdeführer bereits die Verfahrensrechte zustanden, die ihm bei Einvernahmen durch die Staatsanwaltschaft zukommen (Art. 312 Abs. 2 StPO). Insoweit ist dem Beschwerdeführer beizupflichten, dass es nahe gelegen wäre, die mangelnde Verteidigung anlässlich dieser Einvernahme unter Verwertungsgesichtspunkten zu thematisieren. Der Beschwerdeführer vermag jedoch nicht aufzuzeigen und es ist auch nicht ersichtlich, dass - mit Blick auf die zahlreichen weiteren Beweismittel (staatsanwaltlichen Einvernahmen, Zeugenaussagen, Aussagen der Privatklägerschaft und Gutachten) - die vorinstanzlichen Beweisschlüsse massgeblich von der ersten Einvernahme bei der Polizei abhängen. Insoweit wäre hinsichtlich der Beweisverwertungsproblematik eine andere Verteidigungsstrategie zwar durchaus vorzuziehen gewesen, von einem sachlich nicht mehr vertretbarem bzw. offensichtlich fehlerhaftem Prozessverhalten der Verteidigung kann jedoch auch hinsichtlich dieses Vorwurfs noch nicht gesprochen werden.  
 
1.3. Zusammenfassend liegt keine Verletzung des verfassungs- und konventionsrechtlichen Rechts auf wirksame Verteidigung des Beschwerdeführers und damit einhergehend auch der richterlichen Fürsorgepflicht vor. Der Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils ist abzuweisen.  
 
2.  
Die Anträge auf Neuverlegung der Kosten des Vorverfahrens sowie des erstinstanzlichen und vorinstanzlichen Verfahrens begründet der Beschwerdeführer einzig damit, dass das vorinstanzliche Urteil aufzuheben sei. Da er mit seinem Hauptantrag nicht durchdringt (siehe E. 1 oben), sind diese Anträge abzuweisen, soweit auf sie überhaupt eingetreten werden kann. Weiterungen dazu erübrigen sich. 
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der Beschwerdeführer wird ausgangsgemäss grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Indes ist sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege mit Blick auf die nicht ohne Weiteres aussichtslose Rüge, die Beweisverwertungsproblematik hätte vom vorinstanzlichen Verteidiger thematisiert werden müssen, gutzuheissen und es sind keine Kosten zu erheben. Rechtsanwalt Daniel U. Walder ist dem Beschwerdeführer als unentgeltlicher Rechtsbeistand beizuordnen und aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Daniel U. Walder, wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 3'000.-- entschädigt. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 25. Juli 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Clément