Avis important:
Les versions anciennes du navigateur Netscape affichent cette page sans éléments graphiques. La page conserve cependant sa fonctionnalité. Si vous utilisez fréquemment cette page, nous vous recommandons l'installation d'un navigateur plus récent.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_395/2022  
 
 
Urteil vom 23. Juni 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Müller, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Chaix, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
Beschwerdegegner, 
vertreten durch Rechtsanwältin Antigone Schobinger, 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Entsiegelung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Horgen, Zwangsmassnahmengericht, Vizepräsident, 
vom 27. Juni 2022 (GT220004-F/UB/Rie). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen Betrugs und Urkundenfälschung. Am 1. Mai 2022 stellte das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit seine Aktentasche sicher. Auf sein Verlangen wurde diese gesiegelt. Mit Eingabe vom 25. Mai 2023 ersuchte die Staatsanwaltschaft um Entsiegelung der Aktentasche und ihres Inhalts (iPad, schriftliche Notizen und weitere Dokumente). A.________ stimmte der Entsiegelung der Aktentasche und deren Inhalt mit Ausnahme des iPads zu. 
 
B.  
Das Zwangsmassnahmengericht des Bezirksgerichts Horgen nahm mit Verfügung vom 27. Juni 2022 Vormerk von der Beschränkung des Entsiegelungsgesuchs auf das iPad, entsiegelte den restlichen Inhalt der Aktentasche und gab diesen der Staatsanwaltschaft zur Durchsuchung und weiteren Verwendung frei (Dispositiv-Ziffer 1). Betreffend das iPad wies es das Entsiegelungsgesuch ab und verpflichtete die Staatsanwaltschaft, es an A.________ herauszugeben (Dispositiv-Ziffer 2). 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich vor Bundesgericht, Dispositiv-Ziffer 2 der Verfügung vom 27. Juni 2022 sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei das iPad zu entsiegeln und der Staatsanwaltschaft zur Durchsuchung und weiteren Verwendung freizugeben. 
Das präsidierende Mitglied der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts hat der Beschwerde mit Verfügung vom 23. August 2022 die aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
Die Vorinstanz hat auf Vernehmlassung verzichtet. Der Beschwerdegegner hat auf Abweisung der Beschwerde geschlossen. Die Oberstaatsanwaltschaft hat auf Replik verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist eine Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts betreffend Entsiegelung. Es handelt sich um einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid in einer Strafsache (vgl. Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG i.V.m. Art. 248 Abs. 3 lit. a und Art. 380 StPO). 
Die Oberstaatsanwaltschaft ist zur Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG i.V.m. Art. 381 Abs. 1 und 2 StPO; vgl. BGE 142 IV 196 E. 1.5.2). Dies gilt auch für Beschwerden gegen die Ablehnung von Entsiegelungsgesuchen im Vorverfahren (Urteil 1B_185/2022 vom 22. Februar 2023 E. 1 mit Hinweis). 
Der angefochtene Entscheid schliesst das Strafverfahren gegen den Beschwerdegegner nicht ab. Er stellt einen Zwischenentscheid dar, der weder die Zuständigkeit noch den Ausstand betrifft. Gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ist die Beschwerde dagegen prinzipiell nur zulässig, wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Die Oberstaatsanwaltschaft legt dar, dass ihr bei der Aufklärung eines Verbrechens oder Vergehens ein empfindlicher Beweisverlust droht. Damit ist auch das Erfordernis des nicht wieder gutzumachenden Rechtsnachteils (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) grundsätzlich erfüllt (vgl. Urteil 1B_372/2021 vom 16. Dezember 2021 E. 1). 
Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist grundsätzlich auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
Nach Art. 246 StPO dürfen Schriftstücke, Ton-, Bild- und andere Aufzeichnungen, Datenträger sowie Anlagen zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass sich darin Informationen befinden, die der Beschlagnahme unterliegen. Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, sind zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet werden (Art. 248 Abs. 1 StPO). Stellt die Staatsanwaltschaft ein Entsiegelungsgesuch, hat das Zwangsmassnahmengericht im Entsiegelungsverfahren (auf entsprechende substanziierte Vorbringen der siegelungsberechtigten Person hin) zu prüfen, ob schutzwürdige Geheimnisinteressen oder andere gesetzliche Entsiegelungshindernisse einer Durchsuchung entgegenstehen (Art. 248 Abs. 2 bis 4 StPO; BGE 144 IV 74 E. 2.2; 141 IV 77 E. 4.1 mit Hinweisen). 
Die Entsiegelung setzt gemäss Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO unter anderem einen hinreichenden Tatverdacht voraus. Nach der Rechtsprechung hat das Entsiegelungsgericht, anders als das erkennende Strafgericht, bei der Überprüfung des Tatverdachts keine erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen. Es hat lediglich zu prüfen, ob aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen, die Justizbehörden somit das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können (BGE 141 IV 87 E. 1.3.1; Urteile 1B_125/2022 vom 6. Dezember 2022 E. 4.1; 1B_108/2020 vom 25. November 2020 E. 6.2.1; je mit Hinweisen). 
Die Staatsanwaltschaft hat das Entsiegelungsgesuch zu begründen (Urteile 1B_424/2013 vom 22. Juli 2014 E. 2.4, nicht publ. in BGE 140 IV 108; 1B_336/2018 vom 8. November 2018 E. 4.2 mit Hinweisen). An die Begründungsdichte sind angesichts der relativ kurzen Frist von 20 Tagen gemäss Art. 248 Abs. 2 StPO jedoch keine allzu hohen Anforderungen zu stellen (Urteile 1B_656/2021 vom 4. August 2022 E. 9.2; 1B_213/2016 vom 7. September 2016 E. 3.1.1 mit Hinweis). 
 
3.  
 
3.1. Nach der Vorinstanz besteht kein hinreichender Tatverdacht für die Entsiegelung des iPads. Sie erwägt, die Staatsanwaltschaft werfe dem Beschwerdegegner in ihrem Entsiegelungsgesuch vor, sich des Betrugs strafbar gemacht zu haben, indem er zusammen mit einem Mitbeschuldigten 65 Bilder und 10 Skulpturen unter unklarer Deklaration bzw. falschen Angaben zu überhöhten Preisen verkauft habe. Die Käuferschaft sei dabei über den tatsächlichen Wert der verkauften Objekte bewusst getäuscht worden. Nach der Vorinstanz hat die Staatsanwaltschaft mit diesen Ausführungen nicht dargelegt, inwiefern das beschriebene Verhalten arglistig im Sinne von Art. 146 StGB gewesen sein soll. "Offensichtliche Hinweise diesbezüglich" ergäben sich - so die Vorinstanz weiter - weder aus dem Polizeirapport vom 25. Mai 2022 noch aus den weiteren Untersuchungsakten. Dem Beschwerdegegner sei somit zuzustimmen, dass die Staatsanwaltschaft den Tatverdacht im Entsiegelungsgesuch nicht hinreichend umschrieben habe.  
 
3.2. Die Oberstaatsanwaltschaft rügt eine Verletzung von Art. 197 Abs. 1 lit. b, Art. 246 und Art. 248 StPO. Sie bringt vor, die Vorinstanz verkenne, dass die Ermittlungen noch ganz am Anfang stünden und Arglist in diesem Verfahrensstudium schwer nachzuweisen sei. Sie habe der Vorinstanz mit ihrem Entsiegelungsgesuch den Rapport der Kantonspolizei Zürich vom 25. Mai 2022 vorgelegt. Aus diesem gehe hervor, dass die beschuldigten Personen die Käuferschaft nicht darauf hingewiesen hätten, dass die verkauften Kunstwerke keine Originale seien. Vielmehr hätten sie der Käuferschaft (teilweise) Zertifikate vorgehalten oder in Aussicht gestellt, um die vermeintliche Echtheit der Objekte zu untermauern. Die Oberstaatsanwaltschaft macht geltend, falls hierzu gefälschte Zertifikate verwendet worden seien, stehe der Vorwurf der Urkundenfälschung im Raum. In diesem Fall wäre Arglist ohne Weiteres zu bejahen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz bestehe damit ein hinreichender Tatverdacht auf Betrug.  
 
3.3. Der Beschwerdegegner stimmt in seiner Vernehmlassung der Vorinstanz zu und macht geltend, es sei weder Sache des Gerichts noch der beschuldigten Person, den hinreichenden Tatverdacht aus den dem Entsiegelungsgesuch beigelegten Akten "herauszulesen". Die Staatsanwaltschaft müsse diesen vielmehr im Entsiegelungsgesuch selbst darlegen; andernfalls würde das rechtliche Gehör der von der Entsiegelung betroffenen Person verletzt.  
 
3.4. Den Tatbestand des Betrugs im Sinne von Art. 146 Abs. 1 StGB erfüllt, wer in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmässig zu bereichern, jemanden durch Vorspiegelung oder Unterdrückung von Tatsachen arglistig irreführt oder ihn in einem Irrtum arglistig bestärkt und so den Irrenden zu einem Verhalten bestimmt, wodurch dieser sich selbst oder einen andern am Vermögen schädigt. Nach der Rechtsprechung ist Arglist zu bejahen, wenn der Täter bzw. die Täterin mit einer gewissen Raffinesse oder Durchtriebenheit täuscht. Dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn diese Person ein ganzes Lügengebäude errichtet oder sich besonderer Machenschaften oder Kniffe bedient (BGE 142 IV 153 E. 2.2.2; 135 IV 76 E. 5.2; je mit Hinweisen). Eine mit gefälschten oder verfälschten Urkunden verübte Täuschung ist dem Grundsatz nach arglistig, da im geschäftlichen Verkehr in aller Regel auf die Echtheit von Urkunden vertraut werden darf. Das Gegenüber soll sich im Rechtsverkehr auf Urkunden verlassen können. Anders kann es sich verhalten, wenn die vorgelegten Urkunden ernsthafte Anzeichen für Unechtheit aufweisen (BGE 133 IV 256 E. 4.4.3; Urteil 6B_1161/2021 vom 21. April 2023 E. 8.9.3.4; je mit Hinweisen).  
 
3.5. Die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft ist begründet: Die Staatsanwaltschaft hat im Entsiegelungsgesuch knapp, aber nachvollziehbar dargelegt, weshalb sie den Beschwerdegegner des Betrugs verdächtigt. Dabei war sie (insbesondere angesichts des frühen Untersuchungsstadiums) nicht gehalten, alle Tatbestandsmerkmale nach Art. 146 StGB detailliert abzuhandeln (vgl. Urteil 1B_656/2021 vom 4. August 2022 E. 9.5). Indem die Vorinstanz weitere Ausführungen zum Tatbestandsmerkmal der Arglist voraussetzt, überspannt sie im vorliegenden Fall die Anforderungen an den Nachweis eines hinreichenden Tatverdachts. Zudem geht ihre Erwägung, wonach auch dem Polizeirapport vom 25. Mai 2022 keine "offensichtlichen Hinweise" betreffend das Tatbestandsmerkmal der Arglist zu entnehmen seien, fehl: Tatsächlich wird im fraglichen Polizeirapport - den die Vorinstanz entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners bei der Prüfung des Entsiegelungsgesuchs zu Recht berücksichtigt - ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die beschuldigten Personen Zertifikate zur Untermauerung der Täuschung verwendet haben könnten. Die Verwendung solcher Urkunden erfüllt das Tatbestandsmerkmal der Arglist regelmässig. Die Vorinstanz durfte bei dieser Sachlage das Entsiegelungsgesuch nicht mit der Begründung abweisen, die Staatsanwaltschaft habe den hinreichenden Tatverdacht nicht genügend umschrieben.  
 
4.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen und Dispositiv-Ziffer 2 der angefochtenen Verfügung aufzuheben. Die Vorinstanz hat die übrigen Entsiegelungsvoraussetzungen nicht geprüft. Es ist für das Bundesgericht auch nicht ohne Weiteres aus den Akten des vorinstanzlichen Verfahrens erkennbar, ob die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind oder nicht. Die Sache ist daher - entsprechend dem Hauptantrag der Oberstaatsanwaltschaft - an die Vorinstanz zur Prüfung der restlichen Entsiegelungsvoraussetzungen zurückzuweisen. 
Die Gerichtskosten sind dem in der Sache unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Parteientschädigungen sind nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 2 der angefochtenen Verfügung wird aufgehoben und die Sache zur Prüfung der übrigen Entsiegelungsvoraussetzungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Bezirksgericht Horgen, Zwangsmassnahmengericht, Vizepräsident, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. Juni 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Müller 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern