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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_50/2023  
 
 
Urteil vom 30. November 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Kölz, Hofmann, 
Gerichtsschreiber Stadler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Wipf, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, An der Aa 4, 6300 Zug. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; amtliche Verteidigung, 
 
Beschwerde gegen die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zug, Strafabteilung, vom 28. Februar 2023 (S 2023 3). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ wurde mit Urteil des Strafgerichts des Kantons Zug vom 20. Dezember 2022 der mehrfachen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) im Sinne von Art. 19 Abs. 1 lit. c und d und gegen das Bundesgesetz über Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. b (rechtswidriger Aufenthalt) und Art. 119 Abs. 1 (Missachtung einer Eingrenzung) schuldig gesprochen sowie zu einer Freiheitsstrafe von 120 Tagen verurteilt. Dagegen hat er beim Obergericht des Kantons Zug Berufung angemeldet und erklärt. 
 
B.  
Am 23. Februar 2023 stellte A.________ beim Obergericht unter anderem den Antrag, ihm sei in der Person von Rechtsanwalt Daniel Wipf eine amtliche Verteidigung zu bestellen. Mit Präsidialverfügung der Strafabteilung des Obergerichts vom 28. Februar 2023 wurde dieser Antrag einstweilen abgewiesen (Dispositiv-Ziffer 2). In derselben Verfügung stellte das Obergericht zudem fest, dass in diesem Verfahren allenfalls Prozesshindernisse gemäss Art. 11 Abs. 1 StPO bestehen könnten (Dispositiv-Ziffer 5). Es forderte die Parteien auf, "gestützt auf Art. 403 Abs. 1 lit. c StPO und Art. 403 Abs. 2 StPO innert 20 Tagen schriftlich dazu Stellung zu nehmen, ob der Verfahrensgegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens bereits mittels Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Zug vom 22. August 2019 rechtskräftig abgeurteilt wurde" (Dispositiv-Ziffer 5.1) und "ob der Vorwurf der Widerhandlung gegen das Ausländergesetz gemäss Art. 115 Abs. 1 lit. b AIG bereits im Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Zug vom 22. August 2019, Ziff. 5, rechtskräftig eingestellt wurde" (Dispositiv-Ziffer 5.2). 
 
C.  
A.________ gelangt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, Dispositiv-Ziffer 2 der Präsidialverfügung vom 28. Februar 2023 sei aufzuheben, ihm sei im Berufungsverfahren vor dem Obergericht die amtliche Verteidigung zu gewähren und Rechtsanwalt Daniel Wipf sei mit Wirkung ab 23. Februar 2023 (Datum der Gesuchstellung) als sein amtlicher Verteidiger einzusetzen. Ausserdem ersucht er für das bundesgerichtliche Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen. Das Obergericht beantragt die Abweisung der Beschwerde. A.________ hat darauf repliziert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, mit dem die Einsetzung der erbetenen Verteidigung als amtliche Verteidigung im Berufungsverfahren verweigert wurde. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 Abs. 1 BGG). 
Gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ist die Beschwerde gegen einen Zwischenentscheid unter anderem dann zulässig, wenn dieser einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Durch die Abweisung des Gesuchs um amtliche Verteidigung droht dem Beschwerdeführer ein nicht wieder gutzumachender Rechtsnachteil im Sinne dieser Bestimmung (Urteile 1B_19/2022 vom 21. März 2022 E. 1; 1B_195/2021 vom 12. Mai 2021 E. 2; 1B_152/2020 vom 28. Mai 2020 E. 1; je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 140 IV 202 E. 2.2; 133 IV 335 E. 4; je mit Hinweisen). 
Gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b BGG ist zur Beschwerde in Strafsachen legitimiert, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat. Der Beschwerdeführer, der im Strafverfahren beschuldigt wird, war am vorinstanzlichen Verfahren beteiligt und ist, da sein Gesuch um amtliche Verteidigung abgewiesen wurde, zur Beschwerdeführung berechtigt. 
Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
Der Beschwerdeführer macht zusammengefasst geltend, er sei hinsichtlich der aufgeworfenen Vorfragen, welche zudem in einem schriftlichen Verfahren geklärt würden, auf eine Rechtsvertretung angewiesen. Auch im anschliessenden Berufungsverfahren würden sich rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten stellen, die den Beizug einer (amtlichen) Verteidigung erforderlich machten. 
 
2.1. Die Vorinstanz erwog, grundsätzlich wäre ein Anspruch des Beschwerdeführers auf amtliche Verteidigung (im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO) ausgewiesen, falls das Berufungsverfahren durchgeführt werden müsste. Vor dem eigentlichen Berufungsverfahren müsse aber vorfrageweise geprüft werden, ob der Strafbefehl vom 22. August 2019 nicht bereits rechtskräftig sei und damit ein Prozesshindernis bestehen würde. Die entsprechende Rechtsfrage betreffe die Zustellungsfiktion und sei damit inhaltlich begrenzt. Die tatsächlichen Grundlagen würden sich ferner aus den Akten ergeben und könnten als einfach bezeichnet werden. Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer gemäss eigenen Aussagen die entsprechende Strafe bereits vollständig ersessen habe, wobei er auf die entsprechende aktenkundige Vollzugsmeldung hinsichtlich des Strafbefehls vom 22. August 2019 verweise. Zusammenfassend bestehe im Rahmen des anzuordnenden schriftlichen Vorverfahrens betreffend die mögliche Rechtskraft des Strafbefehls vom 22. August 2019 kein Anlass, dem Beschuldigten eine amtliche Verteidigung beizustellen. Erst falls vom Gesamtgericht festgestellt werden sollte, dass der Strafbefehl vom 22. August 2019 nicht rechtskräftig wäre, so dass ein Berufungsverfahren durchgeführt werden müsste, könnte die Frage nach der Einsetzung einer amtlichen Verteidigung auf erneuten Antrag hin allenfalls anders entschieden werden. Das Gesuch des Beschuldigten um amtliche Verteidigung sei mithin zurzeit abzuweisen.  
Als Vorfrage - so die Vorinstanz weiter - werde nicht nur zu thematisieren sein, inwiefern die im Strafbefehl vom 22. August 2019 verfügte Verfahrenseinstellung betreffend den rechtswidrigen Aufenthalt des Beschuldigten eine Sperrwirkung nach Art. 11 Abs. 1 StPO entfalten könne, sondern auch, inwiefern der Strafbefehl vom 22. August 2019 gesamthaft in Rechtskraft erwachsen sei und mithin nach dem Grundsatz "ne bis in idem" nach Art. 11 Abs. 1 StPO ein Prozesshindernis vorliege. 
 
2.2. Über die Fälle der notwendigen Verteidigung hinaus wird eine amtliche Verteidigung angeordnet, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO). Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist die Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre (Art. 132 Abs. 2 StPO). Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist (Art. 132 Abs. 3 StPO).  
Mit Art. 132 StPO wird die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK für den Bereich des Strafprozessrechts umgesetzt. Daraus, aber auch aus dem Wortlaut von Art. 132 Abs. 3 StPO ("jedenfalls dann nicht"), folgt, dass nicht automatisch von einem Bagatellfall auszugehen ist, wenn die im Gesetz genannten Schwellenwerte nicht erreicht sind. Die Formulierung von Art. 132 Abs. 2 StPO bringt durch die Verwendung des Worts "namentlich" ausserdem zum Ausdruck, dass nicht ausgeschlossen ist, neben den genannten Kriterien (kein Bagatellfall; tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre) weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Mithin ist eine Beurteilung der konkreten Umstände des Einzelfalls notwendig, die sich einer strengen Schematisierung entzieht. Immerhin kann festgehalten werden, dass die Anforderungen an die erwähnten tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten umso geringer sind, je schwerwiegender der Eingriff in die Interessen der betroffenen Person ist, und umgekehrt (zum Ganzen: BGE 143 I 164 E. 3.5 mit Hinweisen; zuletzt Urteil 1B_618/2021 vom 15. Februar 2022 E. 3.2). 
 
2.3. Die Vorinstanz bejaht die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers zumindest implizit, wenn sie ausführt, sein Anspruch auf amtliche Verteidigung im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO wäre grundsätzlich ausgewiesen, falls das Berufungsverfahren durchgeführt werden müsste. Indes ist umstritten, ob die amtliche Verteidigung zur Wahrung der Interessen des Beschwerdeführers im (schriftlichen) Vorverfahren geboten ist.  
Die Vorinstanz setzte den Parteien am 7. Februar 2023 Frist an, um schriftlich Beweisanträge zu stellen und zu begründen sowie mitzuteilen, ob sie sich mit dem schriftlichen Berufungsverfahren einverstanden erklären können. In der darauf Bezug nehmenden Eingabe an die Vorinstanz vom 23. Februar 2023 liess der Beschwerdeführer über seinen (erbetenen) Verteidiger unter anderem darauf hinweisen, dass mit Strafbefehl und Einstellungsverfügung vom 22. August 2019 das Verfahren gegen ihn hinsichtlich des Vorwurfs des rechtswidrigen Aufenthalts für den gesamten anklagegegenständlichen Zeitraum eingestellt worden sei. Obwohl diese Verfahrenseinstellung unangefochten geblieben in Rechtskraft erwachsen sei, sei er von der Erstinstanz für das gleiche Delikt verurteilt worden. In der anschliessenden, hier angefochtenen Verfügung hielt die Vorinstanz wie erwähnt fest, als Vorfrage des eigentlichen Berufungsverfahrens werde (auch) die Frage zu behandeln sein, inwiefern die im Strafbefehl vom 22. August 2019 verfügte Verfahrenseinstellung betreffend den rechtswidrigen Aufenthalt des Beschuldigten eine Sperrwirkung nach Art. 11 Abs. 1 StPO entfalten könne. Im Weiteren nahm sie dem Beschwerdeführer die mit Präsidialverfügung vom 7. Februar 2023 angesetzten Fristen zur Stellungnahme zu den Beweisanträgen und zum schriftlichen Verfahren einstweilen ab. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, wenn der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde vor Bundesgericht behauptet, die kantonalen Strafbehörden hätten sich erst auf Intervention seiner Verteidigung im Berufungsverfahren hin mit der Thematik dieser Sperrwirkung beschäftigt.  
Hinzu kommt, dass die Vorinstanz im erwähnten Vorverfahren darüber zu befinden gedenkt, inwiefern der Strafbefehl vom 22. August 2019 gesamthaft in Rechtskraft erwachsen sei und mithin ebenso ein Prozesshindernis nach Art. 11 Abs. 1 StPO vorliege. Die entsprechende Rechtsfrage betrifft nach Auffassung der Vorinstanz die Zustellungsfiktion, genauer die Frage, ob die Einsprachefrist gegen den Strafbefehl allenfalls am 18. September 2019 bereits gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO i.V.m. Art. 354 Abs. 1 StPO abgelaufen gewesen sei. Der Beschwerdeführer machte in der Untersuchung geltend, ihm sei der Strafbefehl erst an diesem Datum (effektiv) zugestellt worden, woraufhin seine damalige Verteidigerin am 28. September 2019 bei der Staatsanwaltschaft ein Gesuch um Wiederherstellung der Frist zur Einsprache einreichte und offenbar am selben Tag Einsprache gegen den Strafbefehl erhob. Die zuständige Staatsanwältin hielt schliesslich mit Schreiben vom 21. Oktober 2020 an die erbetene Verteidigerin des Beschwerdeführers fest, dass sie davon ausgehe, er habe den Strafbefehl erst am 18. September 2019 erhalten; anderes lasse sich nicht beweisen. In der Folge erhob sie am 26. Januar 2022 Anklage bei der Erstinstanz. 
Der mittellose Beschwerdeführer erscheint nicht in der Lage, ohne anwaltliche Unterstützung seine Argumente zu dieser Thematik gezielt vorzutragen und sich sachgerecht zu verteidigen. Ihm ist daher von Bundesrechts wegen bereits dafür die amtliche Verteidigung zu gewähren. Diese bliebe im Berufungsverfahren bestehen, wovon, wie erwähnt, im Grundsatz auch die Vorinstanz ausgeht. 
 
3.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Dispositiv-Ziff. 2 der angefochtenen Verfügung ist aufzuheben. Rechtsanwalt Daniel Wipf ist rückwirkend auf den Zeitpunkt der Gesuchstellung als amtlicher Verteidiger einzusetzen (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG; BGE 122 I 203 E. 2f; Urteil 1B_239/2021 vom 20. August 2021 E. 3 mit Hinweisen). 
Dem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens entsprechend sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Zug hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor Bundesgericht eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Diese ist praxisgemäss seinem Rechtsvertreter auszurichten. Für das gesamte bundesgerichtliche Verfahren erweist sich eine pauschale Entschädigung von Fr. 1'500.-- als angemessen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren vor dem Bundesgericht wird aufgrund der genannten Kosten- und Entschädigungsfolgen gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Dispositiv-Ziff. 2 der angefochtene Verfügung wird aufgehoben. Rechtsanwalt Daniel Wipf wird rückwirkend auf den 23. Februar 2023 als amtlicher Verteidiger bestellt. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Zug hat den Beschwerdeführer für das Verfahren vor Bundesgericht mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. Die Entschädigung ist Rechtsanwalt Daniel Wipf auszurichten. 
 
4.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren vor dem Bundesgericht ist gegenstandslos. 
 
5.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Zug und dem Obergericht des Kantons Zug, Strafabteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 30. November 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Stadler