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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
2C_438/2022  
 
 
Urteil vom 23. November 2022  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Aubry Girardin, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Hänni, Ryter, 
Gerichtsschreiber Hugi Yar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwältin Lea Hungerbühler, 
substituiert durch Rechtsanwältin Sonja Comte, 
 
gegen  
 
Verwaltungsrekurskommission 
des Kantons St. Gallen, 
Unterstrasse 28, 9001 St. Gallen, 
 
Migrationsamt des Kantons St. Gallen, 
Oberer Graben 38, 9001 St. Gallen. 
 
Gegenstand 
Ausschaffungshaft (Art. 77 AIG), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen, Abteilung II, vom 
21. April 2022 (B 2022/64). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ (geb. 1999) stammt aus Mali. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) wies am 8. Dezember 2016 sein Asylgesuch ab und hielt ihn an, das Land zu verlassen. Die Beschwerde hiergegen blieb am 6. April 2017 ohne Erfolg. Am 17. Mai 2019 ersuchte A.________ erfolglos um Wiedererwägung des Asylentscheids (negatives Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juli 2019). Das Migrationsamt des Kantons St. Gallen trat am 29. September 2021 auf ein Gesuch nicht ein, dem SEM ein asylrechtliches Härtefallgesuch zur Zustimmung zu unterbreiten. Ein entsprechendes Verfahren ist erneut hängig. 
 
B.  
Das Migrationsamt des Kantons St. Gallen nahm A.________ am 15. März 2022 gestützt auf einen Haftbefehl vom 10. März 2022 für 60 Tage in eine "kleine" Ausschaffungshaft (Art. 77 AIG). Die Einzelrichterin der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen prüfte diese am 16. März 2022 und bestätigte sie bis zum 13. Mai 2022. Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen wies die hiergegen gerichtete Beschwerde am 21. April 2022 ab. A.________ weigerte sich am 17. März 2022, das Flugzeug für eine unbegleitete Rückführung (Deportee Unaccompanied [DEPU]) nach Mali zu besteigen. Am 6. Mai 2022 wurde er aus der Haft entlassen. 
 
C.  
A.________ beantragt vor Bundesgericht, den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. April 2022 aufzuheben und festzustellen, dass dieses das Beschleunigungsgebot verletzt habe und seine Inhaftierung "vom 15. März 2022 bis zum 5. Mai 2022 rechtswidrig" gewesen sei. Gegebenenfalls sei ihm für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. 
Das Migrationsamt und die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen verzichten darauf, einen Antrag zu stellen; das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) macht geltend, dass eine begleitete Rückführung (Deportee Accompanied [DEPA]) nach Mali "durchaus möglich" sei. 
A.________ hat in Kenntnis der Vernehmlassungen an seinen Anträgen und Ausführungen festgehalten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Gegen den kantonal letztinstanzlichen Endentscheid betreffend Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig (BGE 147 II 49 E. 1 mit Hinweisen) : Wegen des mit der Anordnung ausländerrechtlicher Administrativhaft verbundenen schweren Eingriffs in die persönliche Freiheit erscheint die Haft nicht als bloss untergeordnete Vollzugsmassnahme zur Wegweisung, weshalb der Ausschlussgrund von Art. 83 lit. c Ziff. 4 BGG der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nicht entgegensteht (BGE 147 II 49 E. 1.1). Das Bundesgericht tritt - trotz Haftentlassung oder eines Verlängerungsentscheids, welcher den ursprünglich angefochtenen Haftentscheid ablöst (vgl. BGE 139 I 206 E. 1.2.1 - 1.2.3) - auf Beschwerden gegen die Genehmigung der ausländerrechtlichen Festhaltung durch den Haftrichter bzw. einen entsprechenden kantonalen Rechtsmittelentscheid ein, wenn der Betroffene - wie hier - rechtsgenügend begründet (vgl. Art. 42 BGG) und in vertretbarer Weise ("griefs défendables") die Verletzung von Art. 5 EMRK rügt (BGE 147 II 49 E. 1.2.1 mit Hinweisen; Urteil 2C_781/2022 vom 8. November 2022 E. 1.2). Da auch alle übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten (vgl. Art. 82 lit. a, 89 Abs. 1 u. 100 Abs. 1 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Hinsichtlich der Rügepflicht und der Prüfungsbefugnis gilt: Das Bundesgericht wendet das Recht zwar von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), es beurteilt unter Berücksichtigung der Begründungspflicht der betroffenen Person (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) jedoch nur die vorgebrachten Argumente, falls weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 142 I 135 E. 1.5; Urteil 2C_712/2022 vom 2. November 2022 E. 2). In Bezug auf die Verletzung von Grundrechten gilt ein qualifiziertes Rüge- und Substanziierungsgebot (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 139 I 229 E. 2.2; 136 II 304 E. 2.5).  
 
2.2. Das Bundesgericht ist an den Sachverhalt gebunden, wie die Vorinstanz ihn festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser erweise sich in einem entscheidwesentlichen Punkt als offensichtlich falsch oder unvollständig bzw. seine Feststellung beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 142 I 135 E. 1.6; 133 II 249 E. 1.4.3); dies ist in der Beschwerdeschrift wiederum qualifiziert (Art. 9 BV) zu substanziieren.  
 
2.3. Soweit die vorliegende Eingabe den entsprechenden Vorgaben nicht genügt und sich auf appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid beschränkt, wird darauf nicht weiter eingegangen (vgl. BGE 145 I 26 E. 1.3 mit Hinweisen; Urteil 2C_712/2022 vom 2. November 2022 E. 2). Dies gilt etwa für die Kritik, das Datum der Einreichung des asylrechtlichen Härtefallgesuchs sei falsch festgehalten worden; dieses ist für das vorliegende Verfahren im Übrigen so oder anders nicht von Bedeutung.  
 
3.  
 
3.1. Der Beschwerdeführer macht in verfahrensrechtlicher Hinsicht geltend, die Vorinstanz habe grundlos das Beschwerdeverfahren verzögert. Die Beschwerde habe dieser am 25. März 2022 vorgelegen; sie habe dann der Verwaltungsrekurskommission für ihre Vernehmlassung eine Frist von zwei Wochen angesetzt (8. April 2022) und dem Migrationsamt am 6. April 2022 eine Frist von 13 Tagen (19. April 2022) gewährt. Erst am 19. April 2022 seien ihm die Vernehmlassungen vom 5. April und 12. April 2022 zugestellt worden; die Vorinstanz habe damit eine resp. zwei Wochen zugewartet und mit ihrer "zögerlichen Behandlung der Beschwerde und insbesondere der separaten und aufeinanderfolgenden Einladung der Vorinstanzen zur Vernehmlassung [...] das Beschleunigungsgebot" verletzt.  
 
3.2.  
 
3.2.1. Das in Art. 29 Abs. 1 BV verankerte Beschleunigungsgebot bzw. Verbot der Rechtsverzögerung garantiert in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen den Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist, wobei die Angemessenheit unter Würdigung sämtlicher konkreter Umstände zu prüfen ist und insbesondere Kriterien wie die Art des Verfahrens, die Komplexität und der Umfang der Streitfragen, die Bedeutung des Verfahrens für die Beteiligten und das Verhalten der Verfahrensbeteiligten zu berücksichtigen sind (BGE 144 I 318 E. 7.1; 135 I 265 E. 4.4; Urteil 2C_10/2022 vom 21. September 2022 E. 4.1 mit weiteren Hinweisen). Jede Person, die festgenommen wurde, hat das Recht, zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist (Art. 5 Ziff. 4 EMRK; Art. 31 Abs. 4 BV). Im Rahmen des ausländerrechtlichen Beschleunigungsgebots sind schliesslich unnötige Verzögerungen im Haftprüfungsverfahren zu vermeiden.  
 
3.2.2. Im vorliegenden Fall ist das kantonale Beschwerdeverfahren allenfalls nicht optimal abgelaufen und wäre es wünschbar gewesen, wenn dieses kürzer gehalten und insbesondere die Stellungnahmen der beteiligten Behörden dem Beschwerdeführer rascher zugestellt worden wären; es liegt jedoch keine Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV oder Art. 5 Ziff. 4 EMRK vor: Entscheidend ist, dass die erstinstanzliche richterliche Haftprüfung von Amtes wegen innerhalb von 96 Stunden ab der Festhaltung des Beschwerdeführers erfolgt ist (Art. 80 Abs. 2 AIG). Das Beschwerdeverfahren dauerte vom 25. März 2022 bis zum 21. April 2022, und endete vor Ablauf der maximalen Haftdauer, was im Hinblick auf die Rechtsfragen, die sich gestellt haben, noch als angemessen gelten kann, auch wenn eine striktere Verfahrensführung durch die Vorinstanz angezeigt gewesen wäre.  
 
4.  
 
4.1. Gestützt auf Art. 77 AIG kann die zuständige kantonale Behörde eine Person zur Sicherstellung des Vollzugs der Weg- oder Ausweisung für maximal sechzig Tage in Haft nehmen, wenn (a) ein vollstreckbarer Entscheid vorliegt, (b) die Schweiz nicht in der angesetzten Frist verlassen wurde, (c) die Behörde die Reisepapiere beschaffen musste ("kleine" Ausschaffungshaft) und (d) diese zum Zeitpunkt der Haftanordnung bei ihr vorlagen (Urteil 2C_366/2022 vom 27. Mai 2022 E. 3). Sie setzt keine subjektiven Erfordernisse voraus (Untertauchensgefahr, Vereitelungsabsicht usw.; vgl. FELIX BAUMANN/TARKAN GÖKSU, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, 2022, N. 121). Die für den Vollzug der Weg- oder Ausweisung notwendigen Vorkehrungen sind umgehend zu treffen (Art. 77 Abs. 3 AIG); zudem muss dieser absehbar sein.  
 
4.2.  
 
4.2.1. Gestützt auf die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. April 2017 und 10. Juli 2019 im Asylverfahren lag vorliegend ein rechtskräftiger Wegweisungsentscheid vor, ohne dass der Beschwerdeführer das Land rechtzeitig verlassen hätte. Zwar wurde er am 6. September 2017 durch die deutschen Behörden in die Schweiz rücküberstellt, womit er vorübergehend ausser Landes gewesen sein muss, doch wurde er im Wiedererwägungsverfahren am 27. Mai 2019 erneut rechtskräftig angehalten, auszureisen, was er nicht getan hat.  
 
4.2.2. Der Beschwerdeführer war nicht bereit, sich die erforderlichen Reisepapiere selber zu beschaffen. Bei der Anordnung der Haft lag bei den Behörden ein für drei Monate gültiger Laissez-passer der malischen Botschaft vom 5. Januar 2022 vor. Dem Beschwerdeführer ist indessen zuzustimmen, dass der Vollzug der Wegweisung bei der Anordnung der Ausschaffungshaft nach Art. 77 AIG nicht als absehbar gelten konnte. Gemäss Mitteilung des SEM vom 23. bzw. 26. Oktober 2020 sind "seit mehreren Jahren" weder DEPA noch Sonderflüge nach Mali durchführbar. Der Beschwerdeführer hat sich wiederholt und insbesondere noch am 15. März 2022 geweigert, das Land freiwillig zu verlassen, womit klar sein musste, dass eine DEPU-Rückführung nicht möglich sein würde.  
 
4.2.3. Gemäss Stellungnahme des SEM zuhanden der kantonalen Behörden vom 5. Mai 2022 ist die Möglichkeit einer begleiteten Rückführung (DEPA) nach Mali heute im Einzelfall zu prüfen und soll die malische Vertretung einer solchen hier "nicht abgeneigt" sein; die begleitete Ausschaffung setzt aber weitere Abklärungen im Heimatland des Beschwerdeführers und seine Vorführung auf der Botschaft voraus, weshalb der Beschwerdeführer am 6. Juni 2022 denn auch aus der Haft entlassen wurde. Eine Rückführungsmöglichkeit innerhalb der bei der "kleinen" Ausschaffungshaft möglichen Haftdauer von maximal 60 Tagen war bei der Haftanordnung damit unwahrscheinlich und im Wesentlichen rein theoretischer Natur (vgl. BGE 130 II 56 E. 4.1.3; Urteil 2C_35/2021 vom 10. Februar 2021 E. 2.2.2). Der Beschwerdeführer hatte - wie gesagt - nie erklärt, bereit zu sein, freiwillig in seine Heimat zurückzukehren. Es war somit bei der Anordnung der Haft absehbar, dass der geplante DEPU-Flug nicht möglich und die Organisation eines DEPA-Flugs bzw. eines Sonderflugs nötig sein würde, was - soweit überhaupt möglich - auf jeden Fall wesentlich mehr Zeit in Anspruch nahm. Potentiell hätte zwar allenfalls eine ordentliche Ausschaffungshaft nach Art. 76 AIG oder eine Durchsetzungshaft nach Art. 78 AIG verfügt werden können, doch hat das Migrationsamt dies nicht getan und lehnt es das Bundesgericht in seiner neueren Rechtsprechung ab, selber die Haft nach Art. 77 AIG durch eine solche nach Art. 76 AIG zu ersetzen (vgl. das Urteil 2C_366/2022 vom 27. Mai 2022 E. 4).  
 
5.  
 
5.1. Die Beschwerde erweist sich damit teilweise als begründet. Sie ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und es ist festzustellen, dass die Ausschaffungshaft nach Art. 77 AIG widerrechtlich erfolgt ist.  
 
5.2. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind keine Gerichtskosten geschuldet (Art. 64 bzw. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton St. Gallen hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das vorliegende Verfahren im Rahmen seines Obsiegens angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG); im Übrigen ist seine Rechtsvertreterin im Rahmen des Gesuchs um unentgeltliche Verbeiständung zu entschädigen (Art. 64 BGG). Zur Regelung der Kosten- und Entschädigungsfrage für die kantonalen Verfahren wird die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen (Art. 67 i.V.m. Art. 68 Abs. 5 BGG).  
 
 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. April 2022 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die am 10. März 2022 angeordnete und ab dem 15. März 2022 vollzogene Ausschaffungshaft nach Art. 77 AIG widerrechtlich erfolgt ist. 
 
2.  
Der Kanton St. Gallen hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. 
 
3.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird - soweit nicht gegenstandslos - gutgeheissen: 
 
3.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
3.2. Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwältin Sonja Comte, Zürich, als unentgeltliche Rechtsbeiständin beigegeben und dieser eine Entschädigung von Fr. 500.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.  
 
4.  
Die Sache wird zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfrage in den kantonalen Verfahren an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung II, und dem Staatssekretariat für Migration (SEM) mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. November 2022 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: F. Aubry Girardin 
 
Der Gerichtsschreiber: Hugi Yar