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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_684/2023  
 
 
Urteil vom 17. August 2023  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichter Muschietti, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
handelnd durch B.________, und diese vertreten durch Advokat Dr. Jascha Schneider-Marfels, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
2. C.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt André Kuhn, 
Beschwerdegegnerinnen. 
 
Gegenstand 
Fahrlässige Körperverletzung, evt. Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht; Willkür; Nichteintreten, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, vom 28. März 2023 (SST.2022.169). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der 2011 geborene Beschwerdeführer verletzte sich am 14. September 2020 durch einen Sturz aus dem Fenster aus grösserer Höhe schwer. In der Folge bestrafte die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg die Beschwerdegegnerin 2, als die zum Zeitpunkt des Unfalls verantwortliche Person betreffend die Mittagstisch-Aufsicht der Schule U.________, wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung (Art. 125 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 StGB), begangen durch Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht (Art. 219 Abs. 1 StGB), mit einer bedingten Geldstrafe und einer Busse. Auf Einsprache der Beschwerdegegnerin 2 hin wurde der Strafbefehl mit den Akten zur Durchführung des Hauptverfahrens an das Bezirksgericht Laufenburg überwiesen. Dieses sprach die Beschwerdegegnerin 2 mit Urteil vom 7. Juni 2022 vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung, begangen durch Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht, frei. Die dagegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Aargau ab und bestätigte am 28. März 2023 den bezirksgerichtlichen Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung, begangen durch Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht. 
 
2.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 19. Mai 2023 beantragt der Beschwerdeführer, das Urteil der Vorinstanz sei in Bezug auf die Dispositivziffern 1, 3 und 4 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin 2 sei der fahrlässigen Körperverletzung nach Art. 125 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 StGB, eventualiter der Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht im Sinne von Art. 219 Abs. 1 StGB, subeventualiter der fahrlässigen Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht gemäss Art. 219 Abs. 2 StGB schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen. Subsubeventualiter sei das angefochtene Urteil aufzuheben und zwecks Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
3.  
 
3.1. Nach Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG ist die Privatklägerschaft zur Beschwerde in Strafsachen berechtigt, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann. Als Zivilansprüche gelten Ansprüche, die ihren Grund im Zivilrecht haben und deshalb ordentlicherweise vor dem Zivilgericht durchgesetzt werden müssen. In erster Linie handelt es sich um Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung nach Art. 41 ff. OR (BGE 146 IV 76 E. 3.1; 141 IV 1 E. 1.1). Nicht in diese Kategorie gehören Ansprüche, die sich aus öffentlichem Recht ergeben. Öffentlich-rechtliche Ansprüche, auch solche aus öffentlichem Staatshaftungsrecht, können nicht adhäsionsweise im Strafprozess geltend gemacht werden und zählen nicht zu den Zivilansprüchen im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG (BGE 146 IV 76 E. 3.1; 141 IV 380 E. 2.3; 131 I 455 E. 1.2.4; 128 IV 188 E. 2.2; 125 161 E. 2b).  
 
3.2. Eine strafrechtliche Verantwortung könnte vorliegend allenfalls die Beschwerdegegnerin 2 treffen, die zum Urteilszeitpunkt die Aufsicht über den Unterstufenmittagstisch U.________, Tagesstruktur, inne hatte. Als Angestellte der Stadt U.________ und damit als Mitarbeitende des Gemeinwesens richteten sich allfällige Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche gegen sie ausschliesslich nach dem kantonalen Haftungsgesetz (vgl. § 1 Abs. 1 ff. des Haftungsgesetzes des Kantons Aargau vom 24. März 2009 [Haftungsgesetz/AG; SAR 150.200]; § 75 der Verfassung des Kantons Aargau vom 25. Juni 1980 [SAR 110.000]) und wären somit öffentlich-rechtlicher Natur. Öffentlich-rechtliche (Staatshaftungs-) Ansprüche können im Strafverfahren nicht adhäsionsweise geltend gemacht werden, weshalb sich der angefochtene Entscheid nicht wie erforderlich auf Zivilansprüche im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG auswirken kann (vgl. BGE 146 IV 76 E. 3.1; 141 IV 380 E. 2.3.1).  
 
3.3. Soweit der Beschwerdeführer die in Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG getroffene Regelung kritisiert und eine Verletzung u.a. des Gleichheitssatzes geltend macht, dringt er nicht durch. Das Bundesgericht hat sich im Grundsatzentscheid BGE 146 IV 76 eingehend mit dieser Problematik unter Berücksichtigung der teils kritischen Lehre befasst. Es hat seine bisherige Rechtsprechung erneut bestätigt, wonach die Privatklägerschaft keine Zivilansprüche im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG geltend machen kann, wenn - wie hier - das Gemeinwesen (bzw. eine Körperschaft des öffentlichen Rechts) für die der beschuldigten Person vorgeworfenen Handlungen haftet, und auch eine damit verbundene ungerechtfertigte Ungleichbehandlung mit eingehender Begründung verneint (BGE 146 IV 76 E. 3). Darauf ist nicht zurückzukommen. Es kann für den vorliegenden Fall daher vollumfänglich auf diesen Grundsatzentscheid verwiesen werden, ohne dass sich das Bundesgericht abermals im Einzelnen zu der in der Beschwerde erhobenen Kritik ausdrücklich äussern müsste. Das gilt auch, soweit der Beschwerdeführer seine Beschwerdeberechtigung in der Sache direkt aus der sog. "Star-Praxis" ableiten möchte; es kann auch diesbezüglich auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung verwiesen werden (statt vieler BGE 146 IV 76 E. 2). Der Beschwerdeführer ist in der Sache folglich nicht zur Beschwerde legitimiert.  
 
4.  
 
4.1. Eine Beschwerdeberechtigung müsste im Übrigen selbst dann verneint werden, wenn vom Vorliegen von Zivilansprüchen auszugehen wäre. Denn Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG setzt gemäss ständiger Rechtsprechung voraus, dass sich der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung der im Strafverfahren adhäsionsweise geltend gemachten bzw. noch geltend zu machenden Zivilforderungen auswirken kann (so etwa Urteile 6B_96/2019 vom 7. Juni 2019 E. 1.2; 6B_1134/2018 vom 24. April 2019 E. 1.2; 6B_1080/2018 vom 5. Dezember 2018 E. 3). Die Kann-Formel bezieht sich auf eine Auswirkung des Entscheids und lässt sich nicht in der Weise verstehen, dass die Begründung der Zivilforderung im Belieben der Geschädigten stünde. Es ist der tatsächliche, unmittelbare (Art. 115 Abs. 1 StPO) adhäsionsweise Anspruch (vgl. Art. 122 StPO) zu begründen (BGE 141 IV 1 E. 3.1; vgl. Urteil 6B_531/2016 vom 5. Mai 2017 E. 3.2). Die Zivilansprüche können nicht hinsichtlich eines allfällig auf dem Zivilweg durchzusetzenden Anspruchs begründet werden (Urteile 6B_1063/2015 vom 5. September 2016 E. 4 und 6B_828/2016 vom 29. August 2016 E. 2). Das Beschwerderecht der Privatklägerschaft fällt entsprechend dahin, wenn das Strafverfahren im Zivilpunkt bereits erledigt ist, weil die Zivilforderungen z.B. rechtskräftig auf den Zivilweg verwiesen wurden (vgl. statt vieler Urteile 6B_1406/2021 vom 23. März 2022 E. 1.1; 6B_1192/2021 vom 26. November 2021 E. 3; 6B_1260/2020 vom 23. Juni 2021 E. 1.1 mit Hinweisen). Dasselbe gilt auch, wenn die Privatklägerschaft sich zunächst als Straf- und Zivilklägerin konstituiert hat, anschliessend aber erklärt, sich nicht mehr als Zivilklägerin am Strafverfahren zu beteiligen (Urteil 6B_1280/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2).  
 
4.2. Das Bezirksgericht Laufenburg hat die Zivilklage des Beschwerdeführers auf den Zivilweg verwiesen (vgl. Urteil des Bezirksgerichts, Urteilsdispositivziffer 2). Da das Urteil des Bezirksgerichts in diesem Punkt (Verweisung der Zivilforderung auf den Zivilweg) von keiner Partei angefochten wurde, erwuchs es insofern in Rechtskraft, was die Vorinstanz im angefochtenen Urteil vom 28. März 2023 ausdrücklich feststellt (vgl. Urteil des Obergerichts, Urteilsdispositivziffer 2). Die Feststellung der Rechtskraft wird in der Beschwerde nicht substanziiert beanstandet und folglich nicht als rechtswidrig widerlegt. Weil das Strafverfahren im Zivilpunkt damit als bereits erledigt zu gelten hat bzw. hätte (vgl. vorstehend E. 4.1), kann bzw. könnte sich das angefochtene Urteil nicht im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG auf allfällige Zivilforderungen auswirken. Der Beschwerdeführer ist bzw. wäre folglich auch aus diesem Grund nicht zur Beschwerde in Strafsachen legitimiert. Im Übrigen gilt insofern noch darauf hinzuweisen, dass sich rechtliche Festlegungen im Strafentscheid von vornherein nicht im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG auf die Beurteilung der Zivilansprüche auswirken, zumal die Ziviljustiz nicht an die strafrechtliche Beurteilung von parallelen Fragestellungen rechtlicher Natur gebunden ist (vgl. Art. 53 OR; Urteile 6B_291/2022 vom 4. Mai 2022 E. 2 und 6B_1244/2021 vom 12. April 2022 E. 1.1.3).  
 
4.3. Davon abgesehen hat der Beschwerdeführer an der Verhandlung vor dem Bezirksgericht Laufenburg auf die Geltendmachung von Zivilansprüchen verzichtet und sich in der Folge am Verfahren nur noch als Strafkläger und nicht mehr als Zivilkläger beteiligt (vgl. Urteil des Bezirksgerichts S. 5 E. 1). Auch deswegen ist bzw. wäre er nicht (mehr) im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG beschwerdeberechtigt (Urteile 6B_1322/2017 vom 14. August 2018 E. 2.3; 6B_481/2014 vom 13. August 2014 E. 5; je mit Hinweisen). An diesem Ergebnis ändert nichts, dass er sich zunächst als Straf- und gleichzeitig auch als Zivilkläger konstituiert hat (vgl. vorstehend E. 4.1; Urteil 6B_1280/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.).  
 
5.  
 
5.1. Mit dem Hinweis darauf, dass die Privatklägerschaft nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung einen persönlichkeitsrechtlichen Anspruch auf Feststellung des zugefügten Unrechts habe, welcher unabhängig von Auswirkungen auf die Zivilforderungen bestehe, ist für die Beschwerdelegitimation nach Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG sodann ebenfalls nichts gewonnen. Der vom Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang angerufene BGE 148 IV 124 E. 2.6.4 (mit Hinweis auf BGE 141 IV 231) bezieht sich ausschliesslich auf die Einspracheberechtigung der Privatklägerschaft gegen einen Strafbefehl und betrifft somit einzig das kantonale Strafverfahren. Die Beschwerdeberechtigung der Privatklägerschaft an das Bundesgericht richtet sich indessen nach Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG und hängt damit direkt-kausal von Zivilansprüchen ab. Das Bundesgericht ist an Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG gebunden (Art. 190 BV).  
 
5.2. Schliesslich lässt sich eine Beschwerdeberechtigung in der Sache auch nicht aus der Kostenverlegung der Vorinstanz ableiten. Inwiefern dem Beschwerdeführer daraus, also aus der vorinstanzlichen Verpflichtung zur Übernahme der Verfahrens- sowie Verteidigerkosten der beschuldigten Person, Zivilforderungen entstanden sein könnten, erschliesst sich nicht. Die Berechtigung zur Anfechtung des Kostenentscheids als solchen bleibt davon unberührt (vgl. Urteile 6B_1039/2017 vom 13. März 2018 E. 2. 3; 6B_816/2020 vom 19. Januar 2021 E. 2).  
 
6.  
Formelle Rügen, zu deren Vorbringen der Beschwerdeführer unbesehen der fehlenden Legitimation in der Sache befugt wäre (sog. "Star-Praxis"; vgl. BGE 141 IV 1 E. 1.1 mit Hinweisen), erhebt er nicht. 
 
7.  
Ohne dass sich das Bundesgericht zu sämtlichen Ausführungen und Vorbringen in der Beschwerde zur Beschwerdelegitimation nach Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG ausdrücklich äussern müsste, ist darauf im Verfahren nach Art. 109 BGG nicht einzutreten. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist wegen Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Die reduzierten Gerichtskosten sind der für den Beschwerdeführer handelnden gesetzlichen Vertreterin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden der gesetzlichen Vertreterin des Beschwerdeführers auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. August 2023 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill