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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_499/2022  
 
 
Urteil vom 29. Juni 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterinnen Moser-Szeless, Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Walder, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20. September 2022 (IV 2022/17). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1971 geborene A.________ meldete sich im Oktober 2016 unter Hinwies auf ein psychisches Leiden bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen tätigte verschiedene Abklärungen, so holte sie bei der Neuroinstitut St. Gallen GmbH eine orthopädisch-psychiatrische Expertise (Gutachten vom 24. April 2018) und beim Zentrum für Interdisziplinäre Medizinische Begutachtungen AG (ZIMB) eine polydisziplinäre (orthopädische, internistische und psychiatrische) Expertise (Gutachten vom 4. März 2020) ein. Daraufhin lehnte die IV-Stelle einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 6. Januar 2022 ab bei einem Invaliditätsgrad von 0 % und einem Status von 80 % Erwerbstätigkeit und 20 % Haushaltstätigkeit. 
 
B.  
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 20. September 2022 ab, soweit es auf sie eintrat. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, die Sache sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids zum Einholen eines neuen Gutachtens an die Vorinstanz oder die IV-Stelle zurückzuweisen. Gleichzeitig stellt A.________ ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerdeschrift hat unter anderem ein Rechtsbegehren zu enthalten (Art. 42 Abs. 1 BGG). Da die Beschwerde an das Bundesgericht ein reformatorisches Rechtsmittel ist (Art. 107 Abs. 2 BGG), darf sich diese grundsätzlich nicht darauf beschränken, die Aufhebung bzw. Rückweisung des angefochtenen Urteils zu beantragen. Grundsätzlich ist ein materieller Antrag erforderlich, damit die Beschwerde zulässig ist, ausser wenn das Bundesgericht ohnehin nicht reformatorisch entscheiden könnte (BGE 137 II 313 E. 1.3; 136 V 131 E. 1.2; 134 III 379 E. 1.3; 133 III 489 E. 3.1: siehe allerdings auch BGE 133 II 409 E. 1.4.1).  
Rechtsbegehren sind nach Treu und Glauben auszulegen, insbesondere im Lichte der dazu gegebenen Begründung (BGE 123 IV 125 E. 1; Urteil 9C_344/2020 vom 22. Februar 2021 E. 1.2). Es genügt, wenn der Beschwerde insgesamt entnommen werden kann, was die beschwerdeführende Person verlangt (Urteil 9C_8/2022 vom 6. März 2023 E. 1.1 mit Hinweisen). 
 
1.2. Die Beschwerdeführerin stellt einen grundsätzlich unzulässigen rein kassatorischen Antrag. Aus dem Gesamtzusammenhang der Begründung ergibt sich jedoch, dass sie letztlich die Ausrichtung einer Rente der Invalidenversicherung verlangt, wozu sie ohne weiteres befugt ist. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2, Art. 89 Abs. 1, Art. 90 und Art. 100 Abs. 1 BGG), weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.  
 
2.  
 
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.2. Als Rechtsfrage gilt, ob die rechtserheblichen Tatsachen vollständig festgestellt und ob der Untersuchungsgrundsatz bzw. die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG beachtet wurden. Gleiches gilt für die Frage, ob den medizinischen Gutachten und Arztberichten im Lichte der praxisgemässen Anforderungen Beweiswert zukommt (BGE 134 V 231 E. 5.1). Bei den aufgrund dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um Sachverhaltsfragen (Urteil 8C_326/2022 vom 13. Oktober 2022, E. 2, nicht publiziert in: BGE 148 V 397).  
 
3.  
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, als es einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung verneinte. 
 
4.  
 
4.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535).  
Entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätzen (vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1) ist nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage zu beurteilen, ob bis zu diesem Zeitpunkt ein Rentenanspruch entstanden ist. Trifft dies zu, so erfolgt ein allfälliger Wechsel zum neuen stufenlosen Rentensystem je nach Alter der Rentenbezügerin oder des Rentenbezügers gemäss lit. b und c der Übergangsbestimmungen des IVG zur Änderung vom 19. Juni 2020. Gemäss lit. b Abs. 1 bleibt für Rentenbezügerinnen und -bezüger, deren Rentenanspruch vor Inkrafttreten dieser Änderung entstanden ist und die bei Inkrafttreten der Änderung zwar das 30., aber noch nicht das 55. Altersjahr vollendet haben, der bisherige Rentenanspruch solange bestehen, bis sich der Invaliditätsgrad nach Art. 17 Abs. 1 ATSG ändert. 
Zwar erging die dem hier angefochtenen Entscheid zugrunde liegende Verfügung erst nach dem 1. Januar 2022. Vorliegend steht indessen zur Diskussion, ob bereits vor diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf eine Rente entstanden ist. Damit beurteilt sich die vorliegende Streitigkeit allein nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage. Da die Beschwerdeführerin zudem am 1. Januar 2022 zwar das 30., aber noch nicht das 55. Altersjahr vollendet hatte, bliebe ein Anspruch so lange bestehen, bis ein Revisionsgrund nach Art. 17 Abs. 1 ATSG eintritt. 
 
4.2. Im angefochtenen Entscheid wurden die rechtlichen Grundlagen zum Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung (insb. Art. 28 und 28a IVG, Art. 8 ATSG) korrekt wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.  
 
5.  
 
5.1. Das kantonale Gericht hat in umfassender Würdigung der medizinischen Akten, insbesondere aber gestützt auf das Gutachten des ZIMB vom 4. März 2020, für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich festgestellt, dass die Versicherte in der Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit als Apothekerhelferin weder eingeschränkt ist noch in der Vergangenheit während längerer Zeit war. Dabei hat es erwogen, auf das von Dr. med. B.________ erstellte psychiatrische Teilgutachten der Neuroinstitut St. Gallen GmbH vom 24. April 2018 könne nicht abgestellt werden, da die in ihm gezogenen Schlüsse nicht nachvollziehbar begründet seien und teilweise in einem nicht erklärbaren Widerspruch zu den Stellungnahmen desselben Experten gegenüber dem Taggeldversicherer der Beschwerdeführerin stehen würden. Die Versicherte macht geltend, das Gutachten der Neuroinstitut St. Gallen GmbH vom 24. April 2018 erfülle - im Gegensatz zur Expertise des ZIMB - alle von der Rechtsprechung anerkannten Anforderungen an ein Gutachten, weshalb es gegen Bundesrecht verstosse, dass die Vorinstanz nicht auf dieses abgestellt habe.  
 
5.2. Auf im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholte Gutachten ist rechtsprechungsgemäss abzustellen, wenn nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 135 V 465 E. 4.4). Ob die von der Vorinstanz angeführte Diskrepanz in der Diagnosestellung in den verschiedenen von Dr. med. B.________ erstellten Gutachten (zwei Gutachten zuhanden der Versicherung C.________ vom 11. Januar 2018 und 21. August 2018 sowie dasjenige für die IV-Stelle vom 28. April 2018) tatsächlich unerklärt geblieben und für sich alleine ein hinreichendes Indiz gegen die Zuverlässigkeit der Expertise darstellen würde, muss vorliegend nicht näher geprüft werden. Gewichtiger ist der Umstand, dass die in der Expertise vom 28. April 2018 gezogenen Schlüsse in Bezug auf die verbleibende Arbeitsfähigkeit nicht nachvollziehbar sind und als widersprüchlich erscheinen. So ist unverständlich, weshalb der Experte einerseits auf die grosse Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung der Versicherten und der objektiven gutachterlichen Sicht hinweist, andererseits aber bei der Schätzung der verbliebenen Arbeitsfähigkeit die Selbsteinschätzung der Versicherten im Ergebnis gerade bestätigt. Zudem verneint er unter Hinweis auf die Behandelbarkeit des Leidens eine mittel- oder langfristige Arbeitsunfähigkeit, was in dieser Absolutheit gegen die aktuelle bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl. BGE 143 V 409 E. 4) verstösst. Damit verletzte das kantonale Gericht kein Bundesrecht, als es nicht auf das von Dr. med. B.________ erstellte psychiatrische Teilgutachten der Neuroinstitut St. Gallen GmbH vom 24. April 2018 abstellte.  
 
5.3. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, die Vorinstanz hätte bezüglich des psychischen Gesundheitszustandes nicht auf das Gutachten des ZIMB vom 4. März 2020 abstellen dürfen, vermag sie keine konkreten Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise zu benennen. Insbesondere zeigt sie keine neuen Aspekte auf, die dem Gutachter nicht bekannt gewesen wären. So war dem Experten durchaus bewusst, dass die Versicherte über Ängste klagte, die er aber nicht als eigenständige Angststörung, sondern als Ausdruck der von ihm diagnostizierten Neurasthenie (ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit) würdigte. Keine hinreichenden Indizien um vom Gutachten abzuweichen stellen unbelegbare subjektive Vorwürfe der Versicherten an den Experten dar, wie etwa, dieser sei beim Explorationsgespräch gelangweilt gewesen oder er hätte den Selbstbeurteilungsfragebogen "kurz vor Schluss noch 'reingepfercht'". Entgegen den Vorbringen der Versicherten begründete der Gutachter sodann hinreichend, wie er aus dem Vergleich des Selbstbeurteilungsfragebogens mit dem Aktivitätsniveau der Versicherten und seinen eigenen Einschätzungen zum Schluss kam, die Versicherte aggraviere ihr psychisches Leiden.  
 
5.4. Damit verletzte das kantonale Gericht kein Bundesrecht, als es gestützt auf das Gutachten des ZIMB vom 4. März 2020 davon ausging, dass die Versicherte in der Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit als Apothekerhelferin weder eingeschränkt ist noch in der Vergangenheit während längerer Zeit war. Aufgrund des in sich schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachtens des ZIMB war die Vorinstanz nicht gehalten, das neuerliche Gutachten von Dr. med. B.________ vom 21. April 2018 den Ärzten des ZIMB zur ergänzenden Beurteilung vorzulegen. Die Beschwerde ist demnach abzuweisen.  
 
6.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Michael Walder wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 29. Juni 2023 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold