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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_376/2022  
 
 
Urteil vom 20. Oktober 2022  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichterin Jametti, Bundesrichter Merz, 
Gerichtsschreiber Mattle. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic Marini, 
 
gegen  
 
B.B.________ und C.B.________, 
Beschwerdegegner, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Alain Lässer, 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Bleichemattstrasse 7, 5001 Aarau 1 Fächer, 
vertreten durch die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Rechtsverzögerung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 22. Juni 2022 des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, Verfahrensleiter (SST.2022.76). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau führte eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen Betrugs zum Nachteil von B.B.________ und C.B.________. Sie erhob am 18. Juni 2020 Anklage. Mit Urteil vom 10. November 2021 sprach das Bezirksgericht Aarau A.________ von Schuld und Strafe frei. 
Die Staatsanwaltschaft meldete gegen das Urteil des Bezirksgerichts Berufung beim Obergericht des Kantons Aargau an, zog diese am 21. März 2022 nach Erhalt des begründeten Strafurteils jedoch wieder zurück. B.B.________ und C.B.________ erhoben am 30. März 2022 beim Obergericht Berufung und beantragten unter anderem die Bestrafung von A.________ wegen Betrugs. Am 20. April 2022 erhob die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung und beantragte ebenfalls die Bestrafung von A.________ wegen Betrugs. 
 
B.  
Am 23. Mai 2022 stellte A.________ beim Obergericht den Antrag, auf die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft sei nicht einzutreten. Am 21. Juni 2022 beantragte er sodann, zur Eintretensfrage auf die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft sei eine anfechtbare Zwischenverfügung zu erlassen. 
Mit Verfügung vom 22. Juni 2022 teilte der Verfahrensleiter des Obergerichts den Verfahrensbeteiligten mit, die Berufungsverhandlung werde am 3. November 2022 stattfinden. In der Verfügung erklärte der Verfahrensleiter ausserdem, das Berufungsgericht sei nicht verpflichtet, bereits zum jetzigen Zeitpunkt einen Entscheid über Eintretensfragen zu fällen. 
Mit Verfügung vom 8. Juli 2022 wurden die Verfahrensbeteiligten zur Berufungsverhandlung vom 3. November 2022 förmlich vorgeladen. Im Rahmen dieser Verfügung teilte der Verfahrensleiter des Obergerichts unter anderem mit, über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft im Berufungsverfahren gegen A.________ werde erst anlässlich der Berufungsverhandlung entschieden (Dispositiv-Ziffer 4.4). 
 
C.  
A.________ hat am 12. Juli 2022 Beschwerde an das Bundesgericht erhoben. Er beantragt, das Obergericht sei anzuweisen, noch vor der Durchführung des weiteren Berufungsverfahrens und vor der Berufungsverhandlung einen anfechtbaren Entscheid über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft - nämlich einen Nichteintretensentscheid, eventualiter einen Eintretensentscheid - zu erlassen und den Parteien zu eröffnen. Falls das Obergericht einen Entscheid über die Zulässigkeit der Anschlussberufung bereits gefällt habe, sei dieser den Parteien noch vor der Durchführung des weiteren Berufungsverfahrens und vor der Berufungsverhandlung mitzuteilen. 
 
D.  
Die Vorinstanz und die Beschwerdegegner beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau als Vertreterin der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau hat auf Vernehmlassung verzichtet. Mit Eingabe vom 30. August 2022 hat der Beschwerdeführer an seiner Beschwerde festgehalten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit Dispositiv-Ziffer 4.4 der Verfügung vom 8. Juli 2022 entschied der Verfahrensleiter des Obergerichts förmlich, über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft im Berufungsverfahren gegen den Beschwerdeführer werde erst anlässlich der Berufungsverhandlung entschieden. Die Beschwerde des Beschwerdeführers richtet sich gegen diesen Entscheid, was aus der Beschwerdebegründung hervorgeht. Ob es sich hierbei um einen beim Bundesgericht anfechtbaren Entscheid handelt, beurteilt sich nach den Art. 90 ff. i.V.m. Art. 78 ff. BGG. Art. 94 BGG kommt dagegen nicht zur Anwendung. Diese Bestimmung beseitigt lediglich das prozessuale Hindernis, dass im Falle einer formlosen Rechtsverzögerung oder Rechtsverweigerung - anders als im vorliegenden Fall - kein anfechtbarer Entscheid im Sinne von Art. 90 ff. vorliegt (FELIX UHLMANN, Basler Kommentar Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl., 2018, N. 2 und 4 zu Art. 94 BGG).  
 
1.2. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer Strafsache im Sinne von Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 Abs. 1 und 2 BGG. Die angefochtene Verfügung schliesst das gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren nicht ab und betrifft weder die Zuständigkeit noch ein Ausstandsbegehren im Sinne von Art. 92 BGG. Es handelt sich somit um einen anderen selbstständig eröffneten Vor- und Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG. Als solcher ist er mit Beschwerde an das Bundesgericht grundsätzlich nur unmittelbar anfechtbar, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder - was vorliegend nicht der Fall ist - wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).  
Der Beschwerdeführer macht eine formelle Rechtsverweigerung in der Form der Verweigerung bzw. Verzögerung eines Rechtsanwendungsaktes geltend. In einem derartigen Fall verzichtet die Rechtsprechung auf das Erfordernis des nicht wieder gutzumachenden Nachteils gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (BGE 143 IV 175 E. 2.3; 143 I 344 E. 1.2; Urteil 1C_595/2019 vom 27. Januar 2020 E. 2.2). 
 
1.3. Der Beschwerdeführer hat als beschuldigte Person am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen (vgl. Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG). Ob er ein rechtlich geschütztes Interesse im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG an der Behandlung der Beschwerde hat, erscheint fraglich, zumal die bereits angesetzte Berufungsverhandlung wegen der Berufung der Privatkläger ohnehin durchzuführen ist und unter diesen Umständen nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, worin für den Beschwerdeführer der praktische Nutzen liegt, wenn über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft nicht erst im Rahmen der Berufungsverhandlung, sondern separat und vorab entschieden wird. Namentlich ist zweifelhaft, ob sich aus dem Hinweis des Beschwerdeführers auf den angeblichen Mehraufwand im Berufungsverfahren ein rechtlich geschütztes Interesse im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG ableiten lässt. Die Frage, ob der Beschwerdeführer nach Art. 81 Abs. 1 BGG beschwerdeberechtigt ist, kann indessen offen bleiben, weil die Beschwerde ohnehin abzuweisen ist.  
 
2.  
Der Beschwerdeführer erblickt eine ungerechtfertigte Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung darin, dass die Vorinstanz entgegen seinem Antrag nicht vorab, sondern erst anlässlich der Berufungsverhandlung über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft entscheiden will. Er beruft sich auf Art. 403 Abs. 1 und 3 StPO
 
2.1. Gemäss Art. 403 Abs. 1 StPO entscheidet das Berufungsgericht in einem schriftlichen Verfahren, ob auf die Berufung einzutreten sei, wenn die Verfahrensleitung oder eine Partei geltend macht, die Anmeldung oder Erklärung der Berufung sei verspätet oder unzulässig (lit. a), die Berufung sei im Sinne von Art. 398 StPO unzulässig (lit. b) oder es fehlten Prozessvoraussetzungen bzw. es lägen Prozesshindernisse vor (lit. c). Den Parteien ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (Art. 403 Abs. 2 StPO). Tritt das Berufungsgericht auf die Berufung nicht ein, so eröffnet es gemäss Art. 403 Abs. 3 StPO den Parteien den begründeten Nichteintretensentscheid. Ist die Eintretensfrage nicht umstritten oder tritt das Berufungsgericht trotz gegenteiliger Anträge ein, muss den Parteien somit kein begründeter Entscheid eröffnet werden. Diese Lösung dient der Prozessökonomie (Botschaft des Bundesrats zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085, S. 1316). Die nach Art. 403 Abs. 1 StPO geltend gemachten Einwände können im weiteren Verfahren erneut vorgebracht werden und sind im Berufungsurteil zu behandeln (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl., 2017, S. 699).  
 
2.2. Die Vorinstanz verfügte, das Berufungsgericht werde erst anlässlich der Berufungsverhandlung über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft entscheiden. Sie ist der Ansicht, das Berufungsgericht sei trotz Art. 403 Abs. 1 und 3 StPO nicht verpflichtet, bereits vor der Berufungsverhandlung einen Entscheid über Eintretensfragen zu fällen. Die Auffassung, dass das Berufungsgericht - selbst wenn entsprechende Anträge korrekt gestellt und plausibel begründet worden sind - nicht zwingend vorab über die Eintretensfrage entscheiden muss, wird auch in der Lehre vertreten (SVEN ZIMMERLIN, in: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl., 2020, N. 12 zu Art. 403 StPO; vgl. auch SCHMID/JOSITSCH, a.a.O., Fussnote 301 auf S. 698).  
 
2.3. Im vorliegenden Verfahren zu klären ist nur die Frage, ob die Verschiebung des Entscheids über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft auf die Berufungsverhandlung unter den gegebenen Umständen, wo die Berufungsverhandlung wegen der Berufung der Privatkläger unbestrittenerweise ohnehin durchzuführen ist, mit einer ungerechtfertigten Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung verbunden ist.  
Die Vorinstanz hat in Aussicht gestellt, dass anlässlich der Berufungsverhandlung über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft entschieden werden soll. Ihr kann somit nicht vorgeworfen werden, sie verweigere ungerechtfertigterweise einen Entscheid. 
Das Vorgehen der Vorinstanz hat es ermöglicht, dass die ohnehin durchzuführende Berufungsverhandlung zeitnah angesetzt werden konnte (vgl. Sachverhalt Lit. B). Hätte sie hingegen entsprechend dem Antrag des Beschwerdeführers vorab über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft entscheiden wollen, hätte sie noch vor der Berufungsverhandlung ein schriftliches Verfahren im Sinne von Art. 403 StPO durchführen müssen. Sofern die Vorinstanz anlässlich der Berufungsverhandlung entgegen dem Antrag des Beschwerdeführers auf die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft eintreten und dem Beschwerdeführer daraus ein Nachteil entstehen sollte, könnte dieser mit einer Beschwerde gegen das Berufungsurteil vorbringen, auf die Anschlussberufung hätte nicht eingetreten werden dürfen. Eine Verzögerung des Berufungsverfahrens wäre damit nicht verbunden. Die Durchführung eines separaten Verfahrens zur Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft vor der Berufungsverhandlung würde unter den gegebenen Umständen nicht zur Beschleunigung, sondern allenfalls gar zu einer Verzögerung des Berufungsverfahrens beitragen, was dem Zweck der Regelung von Art. 403 Abs. 1 und 3 StPO zuwiderlaufen würde. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, das Vorgehen der Vorinstanz sei für ihn mit einem Mehraufwand verbunden, ist dies für die Beurteilung der gerügten Rechtsverzögerung unerheblich. Jedenfalls unter den gegebenen Umständen, wo die Berufungsverhandlung wegen der Berufung der Privatkläger unbestrittenerweise ohnehin durchzuführen ist, ist in der Verschiebung des Entscheids über die Zulässigkeit der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft auf die Berufungsverhandlung somit auch keine ungerechtfertigte Rechtsverzögerung zu erblicken. 
 
3.  
Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (vgl. Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat den privaten Beschwerdegegnern eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (vgl. Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 500.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, Verfahrensleiter, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. Oktober 2022 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Mattle