Avis important:
Les versions anciennes du navigateur Netscape affichent cette page sans éléments graphiques. La page conserve cependant sa fonctionnalité. Si vous utilisez fréquemment cette page, nous vous recommandons l'installation d'un navigateur plus récent.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_529/2021  
 
 
Urteil vom 26. Juli 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Nünlist. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Erich Züblin, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. August 2021 (VBE.2021.236). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1964 geborene A.________ meldete sich im August 2018 unter Hinweis auf eine nekrotisierende Fasziitis mit Sepsis bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau tätigte daraufhin Abklärungen. Am 20. Juni 2019 nahm Dr. med. B.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) zum medizinischen Sachverhalt Stellung. Es wurden berufliche Massnahmen gewährt, die am 29. Februar 2020 ihren Abschluss fanden. Am 4. Mai 2020 äusserte sich Dr. med. B.________ erneut. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren, in dessen Rahmen eine letzte Stellungnahme des RAD-Arztes eingeholt worden war, sprach die IV-Stelle dem Versicherten mit Verfügung vom 25. März 2021 eine vom 1. März 2019 bis 31. Oktober 2019 befristete Dreiviertelsrente zu. 
 
B.  
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 27. August 2021 ab. 
 
C.  
A.________ ersucht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten um Aufhebung des angefochtenen Urteils und Gewährung einer unbefristeten Invalidenrente. 
Die Beschwerdegegnerin beantragt unter Verweis auf das angefochtene Urteil die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem das kantonale Gericht einen vom 1. März bis 31. Oktober 2019 befristeten Anspruch auf eine Dreiviertelsrente bestätigt hat. Dabei ist auf die bereits zugesprochene befristete Invalidenrente vor Bundesgericht nicht mehr zurückzukommen (Art. 107 Abs. 1 BGG). 
 
3.  
 
3.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) sowie des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) in den bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassungen anwendbar.  
 
3.2.  
 
3.2.1. Im Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (vgl. Art. 61 lit. c ATSG). Dieser verpflichtet das Gericht dazu, die Beweise ohne Bindung an förmliche Beweisregeln sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Es hat mithin alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruchs gestatten. Insbesondere darf es bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum es auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Dabei ist hinsichtlich des Beweiswerts eines Arztberichtes entscheidend, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind.  
Die Rechtsprechung hat es indessen als mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung vereinbar erachtet, in Bezug auf bestimmte Formen medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung aufzustellen. Auf das Ergebnis versicherungsinterner ärztlicher Abklärungen kann nicht abgestellt werden und es sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen, wenn auch nur geringe Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit bestehen (zum Ganzen: Urteil 9C_528/2021 vom 11. Februar 2022 E. 4.1 f. mit Hinweisen). 
Ein medizinischer Aktenbericht ist sodann (nur) beweistauglich, wenn die Akten einen vollständigen Überblick über Anamnese, Verlauf und gegenwärtigen Status ergeben und diese Daten unbestritten sind; der Untersuchungsbefund muss lückenlos vorliegen, damit die berichterstattende Person imstande ist, sich auf Grund der vorhandenen Unterlagen ein vollständiges Bild zu verschaffen (Urteil 9C_415/2019 vom 14. Oktober 2019 E. 4.2 mit Hinweisen). 
Der gerichtliche Überprüfungszeitraum beschränkt sich schliesslich grundsätzlich auf den Sachverhalt, wie er sich bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung verwirklicht hat (BGE 143 V 409 E. 2.1). Unterlagen, die nach dem Verfügungszeitpunkt datieren, sind jedoch zu berücksichtigen, wenn und soweit sie sich auf den Zeitraum bis zur Verfügung beziehen resp. Rückschlüsse darauf zulassen (Urteil 9C_721/2019 vom 27. Mai 2020 E. 2.3 mit Hinweis). 
 
3.2.2. Zudem zu beachten gilt es, dass es sich bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit um Tatfragen handelt (BGE 132 V 393 E. 3.2). Ebenso stellt die konkrete Beweiswürdigung eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Missachtung der Anforderungen an die Beweiskraft ärztlicher Berichte und Gutachten eine Rechtsfrage (Urteile 9C_899/2017 vom 9. Mai 2018 E. 2.1 und 8C_673/2016 vom 10. Januar 2017 E. 3.2). Gleiches gilt für die korrekte Anwendung der Beweiswürdigungsregeln (vgl. BGE 132 V 393 E. 4.1).  
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz hat den Einschätzungen von Dr. med. B.________ Beweiskraft zuerkannt und den Beschwerdeführer gestützt darauf in angestammter Tätigkeit (Bademeister) seit 8. März 2018 für nicht mehr arbeitsfähig, in einer leidensangepassten Tätigkeit bei Ablauf des Wartejahres im März 2019 zu 50 % und seit dem 3. Juli 2019 zu 100 % arbeitsfähig beurteilt. Sie hat ein Abstellen auf die Medianlöhne gemäss Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik (BFS) für bundesrechtskonform erachtet und der Beschwerdegegnerin folgend bei 10%igem Abzug vom Invalideneinkommen ab März 2019 einen bis am 31. Oktober 2019 befristeten Anspruch auf eine Dreiviertelsrente bestätigt.  
 
4.2.  
 
4.2.1. Vorweg fällt auf, dass die Arbeitsfähigkeitsschätzungen von Dr. med. B.________ nicht schlüssig erscheinen. Während er in seiner Stellungnahme vom 20. Juni 2019 noch von einer 20%igen Arbeitsfähigkeit in leidensangepasster Tätigkeit ab 9. Oktober 2018 mit "Steigerungsfrequenz" um monatlich etwa eine Stunde ausgegangen war, schloss er am 4. Mai 2020 rückwirkend von März 2019 (Ablauf des Wartejahres) bis 2. Juli 2019 auf eine durchschnittlich 50%ige Arbeitsfähigkeit und ab 3. Juli 2019 auf eine solche von 100 %. Insbesondere die sprunghafte Verbesserung des Gesundheitszustandes im Sommer 2019 ist dabei nicht begründet.  
 
4.2.2. Dr. med. C.________, Facharzt für Anästhesiologie und leitender Arzt der Klinik für Anästhesie des Spitals D.________, stützte sich sodann - entgegen der willkürlichen Feststellung der Vorinstanz - nicht im Wesentlichen auf die subjektiven Schmerzangaben des Beschwerdeführers. Vielmehr erkannte er ausdrücklich auf einen Weichteildefekt mit anschliessenden Vernarbungen infolge nekrotisierender Fasziitis und damit auf ein organisches Korrelat für die Schmerzen (Stellungnahme vom 8. April 2021 zu Frage 2, vorliegend zu berücksichtigen [E. 3.2.1 hiervor]; vgl. auch Dr. med. E.________, Fachärztin für Chirurgie, Stellungnahme vom 25. November 2020).  
 
4.2.3. Schliesslich wäre die Stellungnahme von Dr. med. F.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, vom 16. April 2021 entgegen der Auffassung der Vorinstanz sehr wohl in die Würdigung mit einzubeziehen gewesen, nachdem sie nicht einmal einen Monat nach Verfügungserlass datiert und keine Hinweise auf eine zwischenzeitliche Veränderung vorliegen (E. 3.2.1 hiervor). Darin wird eine psychiatrische Behandlung oder Beurteilung der Leistungsfähigkeit vor dem Hintergrund der Schmerzproblematik als indiziert erachtet. Der Internist beschreibt, dass er den Beschwerdeführer am 9. April 2021 bei den Psychiatrischen Diensten G.________ angemeldet habe. Damit bestehen zumindest Anhaltspunkte für psychische (Folge-) Beschwerden bei (gemäss Dr. med. C.________, vgl. E. 4.2.2 hiervor) organisch begründeter Schmerzproblematik. Der medizinische Sachverhalt erscheint abklärungsbedürftig und die Einschätzung von Dr. med. B.________ nicht als umfassend (zur Eignung von Berichten behandelnder Ärzte, versicherungsinterne Beurteilungen in Zweifel zu ziehen: BGE 135 V 465 E. 4.5 f.).  
 
4.3. Mit Blick auf das Dargelegte ist von einer willkürlichen Beweiswürdigung durch das kantonale Gericht auszugehen, indem es der Einschätzung von Dr. med. B.________ in Verletzung von Beweiswürdigungsregeln gefolgt ist. Fehlt es an einer allseitigen, beweiskräftigen medizinischen Stellungnahme zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, ist die Sache an die Beschwerdegegnerin zwecks Gutachtenserstattung und anschliessendem Neuentscheid zurückzuweisen. Hinzuweisen bleibt auf den Umstand, dass im Verfahren vor Bundesgericht das Verbot der reformatio in peius gilt (E. 2 hiervor), das im Fall einer Rückweisung auch die vorinstanzlichen Behörden bindet (vgl. Urteil 9C_721/2019 vom 27. Mai 2020 E. 7 mit Hinweis).  
 
5.  
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung gilt als vollständiges Obsiegen der leistungsansprechenden Partei nach Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG (etwa: BGE 132 V 215 E. 6.1; Urteil 8C_694/2018 vom 22. Februar 2019 E. 4). Als unterliegende Partei trägt demnach die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Sie schuldet dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung für das bundesgerichtliche Verfahren (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens ist die Sache an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. August 2021 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 25. März 2021 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Aargauischen Pensionskasse APK, Aarau, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 26. Juli 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist