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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_18/2024  
 
 
Urteil vom 5. März 2024  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichter von Felten, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, Bahnhofstrasse 29, 8200 Schaffhausen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Einsprache gegen Strafbefehl; Rückzugsfiktion, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts 
des Kantons Schaffhausen vom 1. Dezember 2023 (51/2023/52/D). 
 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:  
 
1.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen verurteilte den in Deutschland wohnhaften Beschwerdeführer mit Strafbefehl vom 5. Juli 2022 wegen mehrfacher Verkehrsregelverletzung (Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit ausserorts und auf Autostrassen) unter Auflage der Verfahrenskosten zu einer Busse von Fr. 210.-- (Ersatzfreiheitsstrafe 3 Tage). Auf die dagegen erhobene Einsprache des Beschwerdeführers hielt die Staatsanwaltschaft mit Überweisungsverfügung vom 4. April 2023 am Strafbefehl fest. 
Das Kantonsgericht Schaffhausen lud den Beschwerdeführer am 20. April 2023 auf den 5. Juni 2023 zur Hauptverhandlung vor. Am 9. Mai 2023 ersuchte er um "Abladung", insbesondere unter Hinweis auf seinen Wohnsitz im Ausland und unter Geltendmachung, dass die postalische Vorladungszustellung ohne Rechtshilfe rechtswidrig sei. Am 12. Juni 2023 wurde erneut zur kantonsgerichtlichen Hauptverhandlung auf den 26. Juli 2023 vorgeladen. Dem Beschwerdeführer wurde das persönliche Erscheinen erlassen, allerdings unter der Verpflichtung, sich an der Hauptverhandlung anwaltlich vertreten lassen zu müssen, ansonsten die Einsprache als zurückgezogen gelte. 
Da der Beschwerdeführer zur Hauptverhandlung nicht persönlich erschien und er sich auch nicht anwaltlich vertreten liess, schrieb das Kantonsgericht das Verfahren am 7. August 2023 infolge Rückzugs der Einsprache als erledigt ab. Es stellte fest, der Strafbefehl vom 5. Juli 2022 sei rechtskräftig, und auferlegte dem Beschwerdeführer die Verfahrenskosten. 
Die dagegen gerichtete Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen ebenso wie das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege bzw. um Anordnung einer amtlichen Verteidigung am 1. Dezember 2023 kostenfällig ab. Zur Begründung macht es unter Hinweis auf den Vertrag vom 13. November 1969 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung (SR 0.351.913.61) kurz zusammengefasst im Wesentlichen geltend, die direkte Postzustellung von Schweizer Behörden an einen Zustellungsempfänger in Deutschland sei erlaubt. Die Zustellung der Vorladungen und der angefochtenen Verfügungen durch das Kantonsgericht sei demnach nicht zu beanstanden. Soweit der Beschwerdeführer sich auf die auf das hiesige Staatsgebiet beschränkte schweizerische Staatsgewalt berufe und meine, als in Deutschland wohnhafter Beschuldigter müsse er einer schweizerischen Vorladung nicht Folge leisten, verkenne er, dass die Schweiz aufgrund des bereits erwähnten bilateralen Vertrags berechtigt sei, Vorladungen mit Säumnisandrohungen, vorliegend mit einer Rückzugsfiktion, zu verbinden. Mithin habe das Kantonsgericht die Einsprache des Beschwerdeführers zu Recht als zurückgezogen und den Strafbefehl zutreffend als in Rechtskraft erwachsen beurteilt. 
Der Beschwerdeführer reicht dagegen Beschwerde in Strafsachen ein. 
 
2.  
Als unbegründet erweist sich seine Kritik, soweit er auch vor Bundesgericht eine nicht formell korrekte bzw. nicht ordnungsgemässe Zustellung der Vorladung rügt. Gemäss Art. IIIA des zuvor referenzierten Vertrags zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland dürfen die zuständigen Stellen eines Vertragsstaates im Rahmen der Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nämlich gerichtliche und andere behördliche Schriftstücke unmittelbar durch die Post an Personen übersenden, die sich im Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates aufhalten. Unter die erwähnten Schriftstücke fallen auch Vorladungen (siehe Urteile 6B_1456/2021 vom 7. November 2022 E. 2.2.3 und 6B_33/2013 vom 1. Februar 2013 E. 4). Die Zulässigkeit der Zustellung von Vorladungen ergibt sich im Übrigen auch aus Art. 12 des Schweizerisch-deutschen Polizeivertrags vom 27. April 1999 (SR 0.360.136.1; siehe dazu Urteil 6B_390/2013 vom 6. Februar 2014 E. 2.3.2). 
 
3.  
 
3.1. Der Beschwerdeführer rügt weiter, er sei nicht verpflichtet gewesen, der Vorladung für die Hauptverhandlung in der Schweiz Folge zu leisten. Eine Vorladung wegen einer derart geringfügigen Bagatelle, die er im Übrigen nicht begangen habe, sei willkürlich. Die Rückzugsfiktion könne in dieser Fallkonstellation mit Auslandbezug gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht gelten und der Strafbefehl hätte nicht für rechtskräftig befunden werden dürfen.  
 
3.2. Bleibt die gegen einen Strafbefehl Einsprache erhebende Person der Hauptverhandlung unentschuldigt fern und lässt sie sich auch nicht vertreten, so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen (Art. 356 Abs. 4 StPO).  
 
Die schweizerische Staatsgewalt beschränkt sich auf das hiesige Staatsgebiet. Die schweizerischen Strafbehörden dürfen daher unter den gesetzlichen Voraussetzungen Zwang auf den sich hier befindenden Beschuldigten ausüben, nicht dagegen auf den sich im Ausland befindenden. Sie dürfen dem sich im Ausland aufhaltenden Beschuldigten zwar eine Vorladung zukommen lassen. Zwangsandrohungen dürfen sie damit aber nicht verbinden. Die Vorladung stellt daher in der Sache eine Einladung dar. Leistet ihr der Beschuldigte keine Folge, darf er keinerlei rechtliche oder tatsächliche Nachteile erleiden. Die Einsprache gegen den Strafbefehl kann bei Fernbleiben des Beschuldigten an der in der Schweiz von der Staatsanwaltschaft anberaumten Einvernahme oder von der gerichtlichen Hauptverhandlung deshalb nicht gestützt auf Art. 355 Abs. 2 bzw. Art. 356 Abs. 4 StPO als zurückgezogen gelten (BGE 140 IV 86 E. 2.4; Urteile 6B_1456/2021 vom 7. November 2022 E. 2.2.3; 6B_282/2019 vom 5. April 2019 E. 3; 6B_615/2017 und 6B_614/2017 vom 2. Mai 2018 E. 1.2 f.; 6B_678/2015 vom 28. September 2015 E. 1.3 und 6B_404/2014 vom 5. Juni 2015 E. 1.3). 
 
3.3. Der Beschwerdeführer ist in Deutschland wohnhaft, wohin ihm das Kantonsgericht die Vorladungen für die Hauptverhandlung vom 20. April und 12. Juni 2023 zustellte. Mit der ersten Vorladung wurde er verpflichtet, persönlich an der Hauptverhandlung teilzunehmen, unter Androhung, die Einsprache gelte ansonsten als zurückgezogen, was nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei einer betroffenen Person mit Wohnsitz im Ausland unzulässig ist (vgl. statt vieler Urteil 6B_1456/2021 vom 7. November 2022 E. 2.2.3, das ebenfalls eine in Deutschland lebende beschuldigte Person betrifft). Dies kann auch damit nicht umgangen werden, dass im Rahmen einer zweiten Vorladung zwar auf ein persönliches Erscheinen verzichtet, der Beschwerdeführer aber - notabene gleichfalls unter Hinweis, dass die Einsprache bei Säumnis als zurückgezogen gelte - verpflichtet wird, sich an der Hauptverhandlung in der Schweiz anwaltlich vertreten lassen zu müssen. Auch bei dieser Variante wird ihm die Verfahrenserledigung und damit ein unzulässiger Nachteil bei nicht Folgegebung angedroht. Die Bedingungen für die Rückzugsfiktion gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO sind folglich auch insofern bei einem im Ausland wohnhaften Beschuldigten nicht erfüllt, weshalb sie nicht zur Anwendung gelangt. Die Vorinstanz hat mithin zu Unrecht entschieden, das Kantonsgericht habe das Verfahren als erledigt abschreiben dürfen, weil der Beschwerdeführer der Verhandlung fernblieb und sich auch nicht anwaltlich vertreten liess.  
 
4.  
 
4.1. Selbst wenn aber mit der Vorinstanz davon auszugehen wäre, die Schweiz dürfe aufgrund des zuvor zitierten Vertrags in Deutschland wohnhafte beschuldigte Personen verpflichtend in die Schweiz vorladen und die Vorladungen zulässigerweise mit Säumnisandrohungen, hier mit einer Rückzugsfiktion, verbinden (vgl. Art. IIIA i.V.m. Art. XII Abs. 2 des Vertrags; in diesem Sinne wohl ALBERT LARGIADÈR, Vorladungen ins Ausland nur Einladungen?, forumpoenale 2014 293 ff.; differenziert DONATSCH/HEIMGARTNER/MEYER/SIMONEK, Internationale Rechtshilfe, 2. Aufl., Zürich 2015, S. 39 f.), führte ein Nichterscheinen bzw. ein Sich-Nichtvertretenlassen an der Hauptverhandlung nicht "telquel" zur Abschreibung des Verfahrens infolge Rückzugs der Einsprache und zur Rechtskraft des Strafbefehls. Dies verkennt die Vorinstanz aber offensichtlich, wenn sie sich im angefochtenen Entscheid ohne weitere Ausführungen damit begnügt, unter Verweis auf die Erwägung 6.3.1 des Urteils 7B_8/2021 vom 25. August 2023 festzuhalten: "Dem steht auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung nicht entgegen". Denn die Rückzugsfiktion nach Art. 356 Abs. 4 StPO (im Falle einer Erscheinungspflicht) kommt nur zum Tragen, wenn sich aus dem gesamten Verhalten des Betroffenen der Schluss aufdrängt, er verzichte mit seinem Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens bewusst auf den ihm zustehenden Rechtsschutz, wobei ein bewusster Verzicht Kenntnis der Konsequenzen der unterlassenen Teilnahme voraussetzt (BGE 146 IV 30 E. 1.1.1, 286 E. 2.2; 142 IV 158 E. 3.1 und 3.3; 140 IV 82 E. 2.3 und 2.6; Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5.1).  
 
4.2. Dieser Schluss lässt sich vorliegend entgegen der vermeintlichen Ansicht im angefochtenen Entscheid nicht ziehen, zumal der Beschwerdeführer wiederholt und namentlich auch in seiner Beschwerde vom 16. August 2023 an die Vorinstanz unmissverständlich vorgebracht hat, ausländische Staatsangehörige könnten nach der geltenden Rechtsprechung des Bundesgerichts weder zur Anreise in die Schweiz noch zur Aussage in der Schweiz gezwungen werden. Es sei ein Rechtshilfegesuch zu stellen. Bis dato sei ein solches nicht gestellt worden (vgl. kantonale Akten, Obergericht des Kantons Schaffhausen, Beschwerdeeingabe vom 16. August 2023). Damit hat sich der Beschwerdeführer als Laie auf die Möglichkeit der Rechtshilfe und damit auf eine rechtshilfeweise Vernehmung berufen und insofern seine Bereitschaft hinlänglich kundgetan, sich am Verfahren weiterhin beteiligen und seine Rechte in Hinblick auf die Anfechtung des erstinstanzlichen Entscheids bzw. des Strafbefehls wahren zu wollen. Nach Treu und Glauben kann aus dem Fernbleiben bzw. dem Sich-Nichtvertretenlassen an der Hauptverhandlung daher nicht auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens geschlossen bzw. davon ausgegangen werden, der Beschwerdeführer habe bewusst auf das Verfahren bzw. dessen Weiterführung verzichtet; dies gilt umso mehr, als er auf die ihm zugestellten Vorladungen stets reagiert und jeweils - nicht zuletzt auch vor Bundesgericht - klar zum Ausdruck gebracht hat, den Strafbefehl nicht zu akzeptieren, am Verfahren mitwirken und sich zur Sache äussern zu wollen.  
 
5.  
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten gutzuheissen, der Entscheid vom 1. Dezember 2023 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Rückweisung an die Vorinstanz erfolgt prozessualiter. Die Sache wird damit nicht präjudiziert, sodass auf die Einholung von Vernehmlassungen verzichtet werden kann (vgl. Urteil 6B_151/2019 vom 17. April 2019 E. 5). Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer ist keine Parteientschädigung zuzusprechen, da er keine besonderen Verhältnisse oder Auslagen geltend macht, die eine solche rechtfertigen könnten (vgl. BGE 127 V 205 E. 4b; 125 II 518 E. 5b). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht :  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 1. Dezember 2023 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 5. März 2024 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill