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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_91/2022  
 
 
Urteil vom 11. Juli 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichterin Koch, 
Bundesrichter Kölz, 
Gerichtsschreiber Schurtenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
B.________, 
Beschwerdeführer, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Buttliger, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Bleichemattstrasse 7, 5001 Aarau 1. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Mehrfachvertretung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, Verfahrensleiterin, vom 16. Februar 2022 (SST.2021.221/222). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Den Brüdern B.________ und A.________ werden zahlreiche Delikte zur Last gelegt, die sie jeweils in ihrer Eigenschaft als Gründungsgesellschafter der C.________ GmbH begangen haben sollen. Dabei wurde B.________, der nicht über das Schweizer Bürgerrecht verfügt, erstinstanzlich wegen mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung und mehrfachen betrügerischen Konkurses namentlich zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 33 Monaten verurteilt; von einer Landesverweisung wurde abgesehen. Sein Bruder A.________, der über das Schweizer Bürgerrecht verfügt, wurde erstinstanzlich wegen mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung, teilweise mit Bereicherungsabsicht, und des mehrfachen betrügerischen Konkurses zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 36 Monaten verurteilt. 
 
B.  
Dagegen erhoben die beiden Brüder B.________ und A.________, die vollumfängliche Freisprüche forderten, in einer gemeinsamen Eingabe des freigewählten Verteidigers Rechtsanwalt Marcel Buttliger beim Obergericht des Kantons Aargau Berufung. Nachdem sie das Obergericht dazu aufgefordert hatte, zu einer allfälligen Interessenkollision ihres Rechtsvertreters Stellung zu nehmen, rief es mit Verfügung vom 16. Februar 2022 ihren freigewählten Verteidiger ab bzw. liess diesen nicht zum Berufungsverfahren zu und setzte ihnen zugleich eine Frist an, um jeweils eine neue und nicht gemeinsame freigewählte Verteidigung zu mandatieren. 
 
C.  
Mit Eingabe vom 28. Februar 2022 gelangen B.________ und A.________, beide vertreten durch Rechtsanwalt Marcel Buttliger, mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Sie beantragen, die Verfügung des Obergerichts vom 16. Februar 2022 aufzuheben und ihrem Rechtsvertreter die Prozessberechtigung im Strafverfahren gegen die beiden Beschuldigten zu gewähren, eventualiter sei er zumindest für einen der Beschuldigten im Verfahren zuzulassen. Weiter stellen sie zahlreiche prozessuale Anträge sowie ein Gesuch um Erlass von vorsorglichen Massnahmen, welches das Bundesgericht mit Verfügung vom 31. März 2022 abwies. 
Die Vorinstanz hat sich mit Stellungnahme vom 10. März 2022 insbesondere zur Frage nach ihrer Zuständigkeit geäussert und die Abweisung der Beschwerde beantragt. Die kantonale Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau hat mit Eingabe vom 25. März 2022 eine ausführliche Vernehmlassung eingereicht und beantragt, auf die Beschwerde nicht einzutreten, eventualiter sie abzuweisen. Die Beschwerdeführer haben mit Eingabe vom 16. Mai 2022 repliziert und an ihren Anträgen festgehalten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über den Ausschluss eines Rechtsbeistands. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer handelt es sich indessen nicht um einen Endentscheid, sondern um einen das Strafverfahren nicht abschliessenden Zwischenentscheid (Art. 93 BGG), worauf ihr Rechtsvertreter im Übrigen bereits in einem früheren Verfahren hingewiesen worden ist (vgl. Urteil 1B_528/2021 vom 21. Dezember 2021 E. 1.1). Da ein solcher Entscheid nach der Rechtsprechung jedoch geeignet ist, einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 lit. a BGG zu bewirken (vgl. BGE 135 I 261 E. 1; Urteil 1B_528/2021 vom 21. Dezember 2021 E. 1.1 mit Hinweisen) und auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen erfüllt sind, kann dennoch auf die Beschwerde eingetreten werden. 
 
2.  
Die Beschwerdeführer bestreiten die Zuständigkeit der Vorinstanz und rügen eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV
 
2.1. Zunächst bringen sie vor, der Entscheid hätte, sofern das Obergericht überhaupt als zuständig erachtet werde, durch das Kollegialgericht und nicht durch die Verfahrensleitung gefällt werden müssen. Weiter rügen sie, der angefochtene (Einzelrichter-) Entscheid sei durch die zuständige Instruktionsrichterin erlassen worden, die nicht die Präsidentin der Kammer sei. Dies verstosse gegen Art. 61 lit. c StPO, wonach die Verfahrensleitung der Präsidentin oder dem Präsidenten des Gerichts obliege.  
 
2.2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Verfahrensleitung berechtigt und verpflichtet, jederzeit und von Amtes wegen über die Vertretungsbefugnis eines professionellen Rechtsbeistandes zu entscheiden (BGE 141 IV 257 E. 2.2; 138 II 162 E. 2.5.1; Urteil 1B_226/2016 vom 15. September 2016 E. 2; je mit Hinweisen). Wem die Verfahrensleitung im vorinstanzlichen Verfahren nach Art. 61 lit. c StPO sowie kantonalem Gerichtsorganisationsrecht (Art. 14 StPO) zukommt, braucht vorliegend nicht vertieft zu werden. Nach konstanter Rechtsprechung sind nicht bloss Ausstandsgründe nach Art. 56 StPO, sondern auch andere Rügen betreffend den Anspruch gemäss Art. 30 Abs. 1 BV auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht so früh wie möglich, d.h. nach deren Kenntnis bei erster Gelegenheit, geltend zu machen, andernfalls verwirkt der Anspruch (Urteile 6B_85/2021 vom 26. November 2021 E. 4.3; 1B_47/2019 vom 20. Februar 2019 E. 3.3; 1B_513/2017 vom 5. März 2018 E. 3.2; je mit Hinweisen).  
 
2.3. Die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer haben sich im Rahmen des vorinstanzlichen Verfahrens zu keinem Zeitpunkt gegen die Übernahme und Ausübung der Verfahrensleitung durch Oberrichterin Vasvary zur Wehr gesetzt. Im Gegenteil: Sie hatten ihre Anträge ausdrücklich an sie gerichtet und sie in ihren Eingaben auch als "Verfahrensleiterin" bezeichnet. Unter diesen Umständen ist es unzulässig, wenn die Beschwerdeführer erstmals vor Bundesgericht (und somit erst nach Ergehen eines für sie unvorteilhaften Entscheids) vorbringen, die vorinstanzliche Verfahrensleitung sei von einer hierfür unzuständigen Gerichtsperson ausgeübt worden.  
 
3.  
Die Beschwerdeführer rügen weiter, es sei willkürlich und verstosse gegen Treu und Glauben, wenn die Vorinstanz als zweitinstanzliches Gericht nun plötzlich die Doppelvertretung nicht mehr zulassen wolle, obwohl das erstinstanzliche Gericht dies noch getan habe. 
Diese Rüge ist offensichtlich unbegründet. Wie gesehen hat die Verfahrensleitung nach konstanter Rechtsprechung jederzeit und von Amtes wegen über die Vertretungsbefugnis eines professionellen Rechtsbeistandes zu entscheiden (E. 2.2 hiervor; siehe BGE 141 IV 257 E. 2.2). Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob der drohende Interessenkonflikt bereits zu einem früheren Zeitpunkt durch die Verfahrensleitung hätte erkannt werden können oder nicht. Die Berufsregeln gemäss Art. 12 BGFA (vgl. E. 4.1 hiernach) gebieten es der Rechtsanwältin oder dem Rechtsanwalt ohnehin, in einer solchen Situation das Mandat eigenständig niederzulegen, und zwar selbst dann, wenn die Klientschaft der problematischen Doppelvertretung zugestimmt hat (Urteil 1B_582/2019 vom 20. März 2020 E. 4). 
Ergänzend ist anzumerken, dass die Ausgangslage im erstinstanzlichen Verfahren ohnehin nicht mit jener vor der Vorinstanz verglichen werden kann. Im erstinstanzlichen Verfahren wurde der Rechtsvertreter der Beschwerdeführer (einzig) als gemeinsamer privater Verteidiger neben ihren beiden separaten amtlichen Verteidigern zugelassen, während vor der Vorinstanz eine umfassende gemeinsame Verteidigung zu beurteilen war. 
 
4.  
In der Sache rügen die Beschwerdeführer, die Vorinstanz sei zu Unrecht von einer unzulässigen Doppelvertretung ausgegangen und habe damit ihren Anspruch auf freie Anwaltswahl verletzt. 
 
4.1. Die beschuldigte Person kann im Strafverfahren zur Wahrung ihrer Interessen grundsätzlich einen Rechtsbeistand ihrer freien Wahl bestellen (Art. 127 Abs. 1 StPO; siehe Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK und Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV). Vorbehalten bleiben die strafprozessualen und berufsrechtlichen Vorschriften und Zulassungsvoraussetzungen. Insbesondere ist nach Art. 127 Abs. 5 StPO die Verteidigung der beschuldigten Person Anwältinnen und Anwälten vorbehalten, die nach dem Bundesgesetz vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA; SR 935.61) berechtigt sind, Parteien vor Gerichtsbehörden zu vertreten (Urteile 1B_232/2022 vom 17. Mai 2023 E. 4; 1B_528 vom 21. Dezember 2021 E. 2.2; je mit Hinweisen).  
Nach Art. 128 StPO ist die Verteidigung in den Schranken von Gesetz und Standesregeln allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet. Diese Pflicht wird unter anderem in Art. 12 lit. c BGFA konkretisiert. Danach haben Anwältinnen und Anwälte jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und den Personen, mit denen sie geschäftlich oder privat in Beziehung stehen, zu meiden. Daraus ergibt sich insbesondere ein Verbot der interessenkollidierenden Doppelvertretung: Anwältinnen und Anwälte dürfen nicht in ein und derselben Streitsache Parteien, namentlich Mitbeschuldigte, mit gegenläufigen Interessen vertreten, weil sie sich diesfalls für keine der vertretenen Parteien voll einsetzen könnten (BGE 145 IV 218 E. 2.1; 135 II 145 E. 9.1; siehe auch Urteil 1B_232/2022 vom 17. Mai 2023 E. 4 mit Hinweisen) 
 
4.2. Die Vorinstanz hat zusammengefasst festgehalten, von besonderen Ausnahmefällen abgesehen, dürften Anwälte keine Mehrfachverteidigung von Mitbeschuldigten ausüben. Vorliegend seien die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Zulassung der Mehrfachverteidigung nicht erfüllt: Auch wenn es sich bei den Beschuldigten um Brüder handle, so scheine nicht ausgeschlossen, dass ein jeder von ihnen versucht sein könnte, den anderen Bruder zu belasten, um einen zusätzlichen Freispruch zu erreichen respektive die mit Anschlussberufung beantragten zusätzlichen Schuldsprüche abzuwenden.  
 
4.3. Die Beschwerdeführer rügen, die Vorinstanz verkenne, dass die bloss abstrakte Möglichkeit des Auftretens von Differenzen zwischen den Beschuldigten nicht ausreiche, um auf eine unzulässige Doppelvertretung zu schliessen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Brüder nach mehreren Jahren Zusammenarbeit mit dem gleichen Vertreter plötzlich widersprüchliche bzw. diskrepante Aussagen machen könnten, sei extrem klein. Sodann hätten "die schweizerischen Gerichte [...] immer noch nicht verstanden, dass die Frage der Doppelvertretung nicht losgelöst von kulturellem und ethnischem Hintergrund der Beschuldigten gelöst werden können [sic]".  
 
4.4. Auch diese Vorbringen der Beschwerdeführer sind offensichtlich unbegründet, sofern sie sich nicht ohnehin in unzulässiger appellatorischer Kritik (Art. 42 BGG; vgl. Urteil 1B_639/2023 vom 13. Januar 2023 E. 3.1 mit Hinweisen) erschöpfen. Nach der Rechtsprechung ist eine Mehrfachverteidigung von verschiedenen beschuldigten Personen nur dann zulässig, wenn die mitbeschuldigten Personen durchwegs identische und widerspruchsfreie Sachverhaltsdarstellungen geben und ihre Prozessinteressen nach den konkreten Umständen nicht divergieren (Urteile 1B_457/2021 vom 28. Oktober 2021 E. 2.1; 1B_611/2012 vom 29. Januar 2013 E. 2.2).  
Davon kann vorliegend keine Rede sein. Die gegen die Beschwerdeführer geführten Strafverfahren betreffen zwar einen einzigen Sachverhaltskomplex. Die einzelnen Delikte sollen die Beschwerdeführer aber nicht gemeinschaftlich, sondern jeweils einzeln begangen haben. Entsprechend nannte die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Anklage für jedes der untersuchten Delikte jeweils nur einen der Beschwerdeführer als Täter, wobei im Rahmen einer Eventualanklage die Möglichkeit einer Tatbegehung durch den jeweils anderen Beschwerdeführer offengelassen wurde. Unter diesen Voraussetzungen besteht offensichtlich das Risiko, dass im Verlauf des Verfahrens einer der Beschwerdeführer versucht sein könnte, seine eigene Schuld zu minimieren und hierfür allenfalls auf den anderen Beschuldigten abzuwälzen (vgl. BGE 141 IV 257 E. 2.1; Urteil 1B_457/2021 vom 28. Oktober 2021 E. 2.1). Dies gilt umso mehr, als die Beschwerdeführer bislang die Aussage verweigert hatten und nicht zum Prozess erschienen waren und angesichts der erstinstanzlichen Verurteilungen zu teilbedingten Freiheitsstrafen daher geneigt sein könnten, ihre Prozessstrategie - allenfalls zu Lasten des jeweils anderen Beschwerdeführers - zu überdenken. 
 
4.5. Angesichts des festgestellten Interessenkonflikts und des Umstands, dass der Rechtsvertreter der Beschwerdeführer letztere bereits im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens gemeinsam verteidigt hatte, ist eine Niederlegung beider Mandate sodann die einzige Möglichkeit zur Wahrung seiner Berufspflichten gemäss Art. 12 lit. c BGFA. Eine Weiterführung von (bloss) einem der Mandate, wie die Beschwerdeführer dies eventualiter beantragen, ist offensichtlich unzulässig (BGE 134 II 109 E. 4.2.1; Urteile 1B_59/2018 vom 31. Mai 2018 E. 2.7.1; 1B_120/2018, 1B_121/2018 vom 29. Mai 2018 E. 5.3).  
In Anbetracht dieser Rechtslage war die Vorinstanz nicht gehalten, sich näher mit dem entsprechenden Eventualantrag der Beschwerdeführer auseinanderzusetzen, sondern durfte sich diesbezüglich auf eine summarische Begründung des Entscheids beschränken (ausführlich dazu BGE 143 III 65 E. 5.2 f.). Die Rüge der Beschwerdeführer, die Vorinstanz habe betreffend den Eventualantrag die Begründungspflicht und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, ist somit ebenfalls unbegründet. 
 
5.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten den Beschwerdeführern unter solidarischer Haftung aufzuerlegen und es sind keine Parteientschädigungen zuzusprechen (Art. 66 und Art. 68 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden unter solidarischer Haftung den Beschwerdeführern auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, Verfahrensleiterin, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 11. Juli 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger