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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
4A_415/2023  
 
 
Urteil vom 11. Oktober 2023  
 
I. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jametti, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Hohl, Kiss, 
Gerichtsschreiber Stähle. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Lerch, Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
B.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Klett, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Arzthaftung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Zivilgericht, 1. Kammer, vom 29. Juni 2023 (ZOR.2023.14/TR). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Am 6. Juli 2010 begab sich A.________ (Klägerin, Beschwerdeführerin) wegen eines Hämorrhoidalleidens in die Praxis von Dr. B.________ (Beklagte, Beschwerdegegnerin). Die Klägerin und die Beklagte kamen überein, am nächsten Tag eine Koloskopie durchzuführen. Die Beklagte gab der Klägerin ein Informationsblatt mit, das einen Fragekatalog sowie eine vorgedruckte Einwilligungserklärung enthielt.  
Am Tag darauf (7. Juli 2010) brachte die Klägerin das Informationsblatt ausgefüllt und unterzeichnet in die Praxis mit. Ohne weitere mündliche Aufklärung führte die Beklagte daraufhin die Koloskopie durch, wobei sie einen zufällig im Darmsigma vorgefundenen Polypen entfernte und abschliessend die Hämorrhoiden mit fünf Gummibandligaturen behandelte. 
 
A.b. In der Folge persistierten bei der Klägerin Schmerzen, zunächst im Unterbauch und nach dem 8. Juli 2010 im Oberbauch. Am Morgen des 8. Juli 2010 (zweimal) und dann wieder am 12. Juli 2010 rief der damalige Lebenspartner der Klägerin in die beklagtische Praxis an, wobei er ihren Zustand ([starke] Schmerzen, zusätzliche Symptome wie Erbrechen und Fieber, Verlagerung der Schmerzen in den Oberbauch) schilderte.  
Die Beklagte veranlasste keine weiteren Abklärungen. 
 
A.c. Am 13. Juli 2010 wurde die Klägerin in das Spital C.________ gebracht, wo gleichentags wegen einer gedeckten Kolonperforation der linken Flexur mit ausgedehntem subsplenischem/retrokolischem Abszess notfallmässig eine Laparotomie mit Hemikolektomie links mit Transverso-Sigmoidostomie erfolgte.  
Am 31. Juli 2010 traten Abdominalschmerzen auf. Aus diesem Grund wurde am 2. August 2010 eine CT-gesteuerte Abszessdrainage durchgeführt. 
Am 11. August 2010 wurde die Klägerin aus dem Spital entlassen. 
Aufgrund eines Abszessrezidivs erfolgte eine weitere Hospitalisation der Klägerin vom 18. bis am 24. August 2010 mit CT-gesteuerter Abszessdrainage am 19. August 2010. 
 
B.  
 
B.a. Mit Klage vom 10. November 2017 machte die Klägerin beim Bezirksgericht Aarau Schadenersatzforderungen (Erwerbs-, Haushalt-, Renten-, Betreuungs- und Pflegeschaden, Ersatz von Heilungskosten und für vorprozessuale Anwaltskosten) gegen die Beklagte sowie eine Genugtuung geltend. Sie wirft der Beklagten Verletzungen der Aufklärungs- und der Sorgfaltspflicht vor. Konkret habe die anlässlich der Koloskopie erfolgte Entfernung des zufällig im Darmsigma entdeckten Polypen (sog. Polypektomie) zu einer Perforation der Darmwand geführt. Diese Darmwandperforation habe "massivste Schmerzen", einen "lebensbedrohlichen Zustand", eine "langwierige, komplikationsbehaftete Notfallbehandlung mit bleibenden grossen Narben", depressive Störungen und "verschiedenste psychosomatische Beschwerden" zur Folge gehabt. Sie (die Klägerin) habe wohl der Koloskopie, nicht aber der Entfernung des Polypen, zugestimmt. Die Polypektomie sei folglich rechtswidrig durchgeführt worden. Die Beklagte habe das Risiko einer Darmwandperforation von Beginn weg sorgfaltswidrig verkannt und die Perforation nach der Behandlung weder bemerkt noch adäquat therapiert. Die Klägerin reichte in diesem Zusammenhang ein FMH-Gutachten von Prof. Dr. med. D.________ und Dr. med. E.________ vom 1. November 2013 (nachfolgend: "FMH-Gutachten") ein.  
Insgesamt verlangte die Klägerin mit ihrer Klage die Bezahlung von Fr. 1'201'314.-- nebst Zins (in der Replik auf Fr. 1'149'103.-- reduziert). 
Die Beklagte bestritt ihre Haftpflicht und trug auf Klageabweisung an. 
 
B.b. Am 15. September 2020 erstattete Dr. med. F.________, Facharzt für Gastroenterologie, Allgemeine Innere Medizin, klinische Pharmakologie und Toxikologie, ein Sachverständigengutachten (nachfolgend: "Gerichtsgutachten").  
 
B.c. Mit Entscheid vom 18. August 2022 wies das Bezirksgericht Aarau die Klage ab. Dagegen gelangte die Klägerin mit Berufung an das Obergericht des Kantons Aargau, welches die Berufung mit Entscheid vom 29. Juni 2023 abwies.  
 
C.  
Die Klägerin verlangt mit Beschwerde in Zivilsachen, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben. Die Beklagte sei in Gutheissung der Klage zu verurteilen, ihr Fr. 1'149'103.-- nebst Zins zu bezahlen. Eventualiter sei die Sache zur Wiederholung respektive Ergänzung des Beweisverfahrens sowie zur Neubeurteilung an die Vorinstanz, subeventualiter an die Erstinstanz, zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht begehrt sie, es sei ihr für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege (samt Beigabe eines unentgeltlichen Rechtsbeistands) zu gewähren. 
Mit Verfügung vom 19. September 2023 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt. 
In der Sache wurden keine Vernehmlassungen eingeholt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der angefochtene Entscheid des Obergerichts ist ein Endentscheid (Art. 90 BGG) einer Vorinstanz im Sinne von Art. 75 BGG. Weiter erreicht der Streitwert den nach Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG geltenden Mindestbetrag von Fr. 30'000.--. 
 
2.  
 
2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Dazu gehören sowohl die Feststellungen über den streitgegenständlichen Lebenssachverhalt als auch jene über den Ablauf des vor- und erstinstanzlichen Verfahrens, also die Feststellungen über den Prozesssachverhalt (BGE 140 III 16 E. 1.3.1 mit Hinweisen). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 140 III 115 E. 2; 135 III 397 E. 1.5).  
 
2.2. Soweit die Parteien die vorinstanzliche Beweiswürdigung kritisieren, ist zu beachten, dass das Bundesgericht in diese nur eingreift, wenn sie willkürlich ist. Die Beweiswürdigung ist nicht schon dann willkürlich, wenn sie nicht mit der Darstellung der beschwerdeführenden Partei übereinstimmt, sondern bloss, wenn sie offensichtlich unhaltbar ist (BGE 141 III 564 E. 4.1; 135 II 356 E. 4.2.1). Dies ist dann der Fall, wenn das Gericht Sinn und Tragweite eines Beweismittels offensichtlich verkannt hat, wenn es ohne sachlichen Grund ein wichtiges und entscheidwesentliches Beweismittel unberücksichtigt gelassen oder wenn es auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen unhaltbare Schlussfolgerungen gezogen hat (BGE 140 III 264 E. 2.3; 137 III 226 E. 4.2; 136 III 552 E. 4.2).  
 
3.  
Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe nicht wirksam in die Polypektomie (Entfernung des Polypen) eingewilligt. Der medizinische Eingriff sei demzufolge insoweit widerrechtlich und die Beschwerdegegnerin bereits aus diesem Grund schadenersatzpflichtig (dazu Erwägung 4). Für den Fall, dass die Haftpflicht nicht bereits mangels Einwilligung bejaht werde, beruft sie sich auf Verletzungen der ärztlichen Sorgfaltspflicht. Die Beschwerdegegnerin hafte auch aus diesem Grund (dazu Erwägung 5). 
 
4.  
 
4.1. Die Verletzung der körperlichen Integrität, wie sie zum Beispiel im Rahmen eines chirurgischen Eingriffs stattfindet, ist widerrechtlich und vertragswidrig, falls kein Rechtfertigungsgrund gegeben ist. Bei der ärztlichen Behandlung steht als Rechtfertigungsgrund die Einwilligung des Patienten im Vordergrund. Die Einwilligung ist dabei nur wirksam, wenn der Patient ausreichend aufgeklärt wurde. Fehlt eine solche wirksame Einwilligung, ist der Eingriff als Ganzes widerrechtlich. Diesfalls muss der Arzt für allen Schaden aufkommen, der in kausalem Zusammenhang mit dem Eingriff steht, selbst wenn dieser sachgemäss durchgeführt wurde (BGE 133 III 121 E. 4.1.1; Urteil 4A_547/2019 vom 9. Juli 2020 E. 4.2.1).  
Das Obergericht kam zum Ergebnis, dass die fremdsprachige Beschwerdeführerin nicht ausreichend (konkret: nicht in einer ihr verständlichen Sprache) über die Behandlung und deren Risiken informiert worden sei. Sie habe daher nicht wirksam in die Polypektomie eingewilligt. 
 
4.2. Die Beschwerdegegnerin hatte im kantonalen Verfahren indes den Einwand der hypothetischen Einwilligung erhoben.  
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung gesteht dem Arzt bei gescheitertem Nachweis der ausreichenden Aufklärung den Einwand der hypothetischen Einwilligung des Patienten zu, das heisst, dass sich der Patient auch bei gehöriger Aufklärung zur Operation entschlossen hätte. Die Beweislast für seine entsprechende Behauptung trägt der Arzt. Vom Patienten kann allerdings verlangt werden, dass er glaubhaft macht oder wenigstens behauptet, warum er bei gehöriger Aufklärung die Einwilligung zur Vornahme des Eingriffs insbesondere aus persönlichen Gründen verweigert hätte (BGE 133 III 121 E. 4.1.3; 117 Ib 197 E. 5c). 
Bei der Beurteilung der Hypothese ist nicht bloss darauf abzustellen, ob ein vernünftiger und besonnener Patient nach erfolgter Aufklärung seine Einwilligung verweigert hätte. Massgebend muss vielmehr sein, wie sich der in Frage stehende Patient unter den konkreten Umständen verhalten hätte. Im Fall fehlender Mitwirkung des Patienten kann aber dennoch nach objektiviertem Massstab darauf abgestellt werden, ob die Ablehnung des Eingriffs vom Standpunkt eines vernünftigen Patienten aus verständlich gewesen wäre (BGE 133 III 121 E. 4.1.3; 117 Ib 197 E. 5c; zuletzt zum Ganzen etwa Urteil 4A_585/2021 vom 8. Juni 2022 E. 4). 
 
4.3. Das Obergericht hiess den Einwand der hypothetischen Einwilligung gut:  
Es betonte zunächst, dass bei der Prüfung, ob sich ein Patient auch bei gehöriger Aufklärung zur Operation entschlossen hätte, auf die persönliche und konkrete Situation des Patienten abzustellen sei. Indes - so relativierte die Vorinstanz - müssten unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben die Anforderungen, eine Behandlungsverweigerung mit persönlichen Motiven plausibel zu erklären, umso höher angesetzt werden, je geringer das mit dem Eingriff verbundene Risiko sei. Denn es gelte: Je höher das Risiko der Behandlung und je schwerwiegender deren Nebenwirkungen, desto individueller falle die Abwägung von Vor- und Nachteilen durch den betroffenen Patienten aus. Je kleiner hingegen das Risiko, desto einförmiger würden sich die Patienten entscheiden. Unterzöge sich praktisch jedermann dem fraglichen medizinischen Eingriff trotz eines damit verbundenen Restrisikos, müsse die Begründung des klagenden Patienten, aus welchen Gründen er sich "anders als fast jeder andere" verhalten hätte, eine gewisse Überzeugungskraft erlangen. 
Das Obergericht führte weiter aus, dass eine Koloskopie im Allgemeinen kaum zu Verletzungen des Darms führe. Die Entfernung eines Polypen könne zwar - wie sich hier zeige - schwere Komplikationen nach sich ziehen. Doch sei auch dies nur ganz ausnahmsweise der Fall (0.07 pro 1'000 Fälle bei Screeningkoloskopie ohne Polypektomie vs. 0.18 pro 1'000 Fälle bei Screeningkoloskopie mit Polypektomie). Dabei erfolge die Abtragung von Polypen aus einem handfesten medizinischen Grund (Darmkrebsvorsorge). Demgemäss gebe es kaum ("vernünftige") Patienten, die zwar der Durchführung einer Koloskopie an sich zustimmten, jedoch die Entfernung eines im Rahmen der Koloskopie zufällig entdeckten Polypen ablehnten. 
Vor diesem Hintergrund - so schloss das Obergericht - erscheine der Standpunkt der Beschwerdeführerin nicht nachvollziehbar, wonach sie zwar die Durchführung der Koloskopie gebilligt habe, aber nicht mit der Polypektomie einverstanden gewesen wäre. Sie (die Beschwerdeführerin) mache geltend, sie hätte den im Rahmen der Koloskopie entdeckten Polypen bei korrekter Aufklärung "sicher nicht am 7. Juli 2010 und schon gar nicht von der Beklagten entfernen lassen" und sie wäre bei ordnungsgemässer Information "nie" einverstanden gewesen, dass sie von der Beschwerdegegnerin operiert werde. Denn diese sei "einfach Fachärztin, aber nicht Spezialistin bzw. Chirurgin". Das Obergericht hielt dazu fest, dass die Beschwerdegegnerin gastroenterologische Fachärztin sei und als solche ohne Weiteres in der Lage, den bei der Koloskopie vorgefundenen Polypen zu entfernen. Ein spezialisierter Chirurg werde hierzu grundsätzlich nicht beigezogen. Im Übrigen bestehe auch bei einer Koloskopie ohne Polypektomie das Risiko einer Darmwandperforation. Dieses Risiko sei im Fall einer "Kombination" (Koloskopie mit Polypektomie) zwar gut zweieinhalbmal höher als bei einer Koloskopie ohne Polypektomie, dies jedoch bei "absolut gesehen sehr geringer Wahrscheinlichkeit" (0.07 vs. 0.18 pro 1'000 Fälle). Insgesamt sei nicht glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin bei umfassender Information zwar in die Koloskopie (und die Behandlung der Hämorrhoiden) eingewilligt hätte, nicht aber in die Polypektomie. 
 
4.4. Die Beschwerdeführerin ist mit dieser Beurteilung nicht einverstanden. Sie rügt zunächst in den Rz. 24-27 ihrer Beschwerde eine Verletzung der Verhandlungsmaxime (Art. 55 Abs. 1 ZPO). Sie habe nämlich in ihrer Replik vor Bezirksgericht konkret dargelegt, aus welchen Gründen sie bei rechtskonformer Aufklärung nicht in die Polypektomie eingewilligt hätte ( "i. generelle Skepsis gegenüber invasiven Eingriffen, ii. Informationsbedürfnis betr. Alternativmethoden, iii. Bedenkzeit notwendig, iv. Ermessen bzw. Freiheit betr. Zeitpunkt der allfälligen Polypektomie und ausführende Person"). Die Beschwerdegegnerin habe diese Behauptungen nicht bestritten, weshalb ihr (der Beschwerdegegnerin) "eine erfolgreiche Berufung auf die hypothetische Einwilligung allein schon infolge unzureichend substantiierter Bestreitung" verwehrt bleiben müsse. Dies habe das Obergericht verkannt. Seine "Würdigung" sei "damit a priori unverbindlich".  
Dieser Einwand geht fehl. Ob gestützt auf die erstellten tatsächlichen Elemente eine hypothetische Einwilligung bejaht werden kann, ist eine Rechtsfrage (Urteile 4A_487/2016 vom 1. Februar 2017 E. 3.2; 4A_604/2008 vom 19. Mai 2009 E. 2.2). Eine Missachtung von Art. 55 Abs. 1 ZPO im hier relevanten "Beweiskontext" ist nicht erkennbar, im Übrigen auch insoweit nicht, als die Beschwerdeführerin den Verhandlungsgrundsatz an anderen Stellen ihrer Beschwerde (so in Rz. 39) wieder aufgreift. 
 
4.5.  
 
4.5.1. Die Beschwerdeführerin moniert sodann, das Obergericht habe im Wesentlichen darauf abgestellt, ob die Polypektomie bei objektiver Betrachtung medizinisch sinnvoll gewesen sei. Massgebend seien aber die persönlichen Haltungen des Patienten, über welche dieser keine Rechenschaft ablegen müsse. Sie habe erklärt, weshalb sie den Polypen nicht von der Beschwerdegegnerin und jedenfalls erst nach einer Bedenkzeit hätte entfernen lassen. Das Obergericht habe ihre Ausführungen als nicht nachvollziehbar oder gar "verschroben" abgetan und ihr so zu Unrecht die Last auferlegt, "ihr hypothetisches Tun nicht nur darzutun, sondern dieses objektiv zu rechtfertigen". Dass sich eine Patientin gegen einen "medizinisch nicht zwingend gebotenen, in keiner Weise dringlichen Eingriff" entscheide, sei plausibel. Das Obergericht übergehe ihr Selbstbestimmungsrecht.  
 
4.5.2. Bei der Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung ist - wie die Beschwerdeführerin an sich zu Recht vorträgt - in erster Linie massgebend, ob der in Frage stehende Patient unter den konkreten Umständen bei korrekter Aufklärung der Behandlung zugestimmt hätte (Erwägung 4.2). Damit wird dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten Rechnung getragen. Dieser kann frei über eine Behandlung, über eine Behandlungsverweigerung oder über Behandlungsalternativen entscheiden. Er darf diese höchstpersönliche Entscheidung nach beliebigen, ihm persönlich richtig scheinenden Kriterien und gestützt auf individuelle Motive fällen. Wie sich die allermeisten oder die "vernünftigen" Patienten entscheiden würden, ist nicht ausschlaggebend. Denn dass der Patient zu einer (scheinbar) unvernünftigen Minderheit gehören will, ist seine Sache. Diese Freiheit bildet gerade der Kern der durch Art. 28 ZGB geschützten Persönlichkeit (vgl. REGINA E. AEBI-MÜLLER, Beweisfragen der hypothetischen Einwilligung im Arztrecht, in: Festschrift für Walter Fellmann, 2021, S. 651 f.; ferner Urteil 6B_730/2017 vom 7. März 2018 E. 2.3).  
Diese Grundsätze finden einerseits prozessual eine Einschränkung durch die Mitwirkungsobliegenheit des Patienten. Legt dieser keine Gründe dar, die ihn persönlich zur Behandlungsverweigerung bewogen hätten, ist gleichwohl auf den objektivierten Standpunkt eines vernünftigen Patienten abzustellen (Erwägung 4.2). Andererseits ist zu beachten, dass die Perspektive des Patienten ex post - nachdem sich die Risiken des Eingriffs tatsächlich verwirklicht haben - regelmässig eine andere ist als die Abwägung ex ante, wenn die durch den Eingriff zu beseitigenden Beschwerden im Vordergrund stehen. Nach der Rechtsprechung muss der Patient daher wenigstens plausibel machen, dass er im damaligen Zeitpunkt bei gehöriger Aufklärung nicht in den Eingriff eingewilligt oder er sich zumindest in einem echten Entscheidungskonflikt befunden und sich Bedenkzeit ausbedungen hätte (BGE 133 III 121 E. 4.1.3; Urteile 4A_585/2021 vom 8. Juni 2022 E. 4; 4A_499/2011 vom 20. März 2012 E. 5.2). 
 
4.5.3. Die Vorinstanz ist dieser diffizilen Ausgangslage rechtsfehlerfrei begegnet und hat zutreffende rechtliche Kriterien angewandt. Sie hat insbesondere mit Recht darauf hingewiesen, dass es nicht genügt, wenn der Patient rückblickend - nach dem nicht plangemäss verlaufenen Eingriff - einfach behauptet, er hätte bei gehöriger Aufklärung "nie und nimmer" in die Behandlung eingewilligt. Das Obergericht hat ferner mit Grund erwogen, dass bei besonders riskanten oder mit Nebenwirkungen behafteten Behandlungen eine individuellere Abwägung von Vor- und Nachteilen vorgenommen wird als bei Routineeingriffen ohne substanzielle Risiken oder Begleiterscheinungen. Umso plausibler muss im zweiten Fall erscheinen, dass der betreffende Patient - freilich stets aus seiner persönlichen Warte - die Behandlung im damaligen Zeitpunkt bei umfassender Aufklärung verweigert oder zumindest einen Aufschub verlangt hätte. Diese Risikoabstufung findet in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und in der Lehre im Übrigen eine Stütze (vgl. Urteil 4A_137/2015 vom 19. August 2015 E. 8.4.1; HAUSHEER/JAUN, Unsorgfältige ärztliche Behandlung - Arzthaftung, in: Haftung und Versicherung, 2. Aufl. 2015, S. 931 Rz. 19.91).  
Im vorliegenden Fall fällt namentlich ins Gewicht, dass die Beschwerdeführerin einem Eingriff durch die Beschwerdegegnerin als solchem zugestimmt hat (Koloskopie). Die Beschwerdegegnerin hat anlässlich dieser bewilligten Behandlung eine zusätzliche ärztliche Massnahme (Entfernung des zufällig entdeckten Polypen) ergriffen. Es ging also nicht darum, eine medizinische Behandlung überhaupt (nicht) durchzuführen, sondern vielmehr um deren Ausmass. Es gibt nun in den vorinstanzlich festgestellten Tatsachen keine Anhaltspunkte, dass die Beschwerdeführerin - auch aus ihrer persönlichen Perspektive - bei umfassender Information zwar einer Koloskopie zugestimmt, aber die Entfernung eines im Rahmen der Koloskopie zufällig entdeckten, potentiell zu Darmkrebs führenden Polypen abgelehnt hätte. Die Wahrscheinlichkeit einer Perforation der Darmwand bewegte sich jedenfalls in beiden Fällen in einer ähnlichen (sehr kleinen) Grössenordnung. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, sie hätte den zufällig entdeckten Polypen "sicher nicht am 7. Juli 2010 und schon gar nicht von der Beklagten entfernen lassen", wird nicht begründet und erscheint nachgeschoben. Im Gegenteil sind keine persönlichen Gründe, Haltungen oder Überzeugungen festgestellt, welche plausibel machten, dass die Beschwerdeführerin bei gehöriger Aufklärung aus damaliger Sicht in einen echten Entscheidungskonflikt geraten wäre und die (medizinisch indizierte) Polypenentfernung bei gleichzeitig durchgeführter Koloskopie abgelehnt oder aufgeschoben hätte. Dass die Abtragung des Polypen nach der Darstellung der Beschwerdeführerin "nicht dringlich" gewesen ist, vermag diesen Schluss nicht umzustossen. 
 
4.5.4. Die Vorbringen der Beschwerdeführerin gegen die Annahme einer hypothetischen Einwilligung durch die Vorinstanz erweisen sich demnach als unbegründet. Auch der Vorwurf, das Obergericht habe die Regeln über die "Beweis (führungs) last" verletzt, verfängt nicht.  
 
4.6. Zusammengefasst hat die Vorinstanz rechtsfehlerfrei geschlossen, dass sich die Beschwerdegegnerin auf die hypothetische Einwilligung der Patientin berufen kann.  
 
5.  
Im Eventualstandpunkt wirft die Beschwerdeführerin der Beschwerdegegnerin Verletzungen der Sorgfaltspflicht vor. 
 
5.1. Im kantonalen Verfahren war unbestritten, dass der medizinische Eingriff als solcher (Polypektomie) nach den Regeln der ärztlichen Kunst - sorgfältig - erfolgte.  
 
5.2. Kontrovers war dagegen, ob sich die Perforation der Darmwand bereits anlässlich des Eingriffs am 7. Juli 2010 verwirklicht hat ("primäre Perforation") oder erst später infolge thermischer Einwirkung beziehungsweise Drucksteigerung auf das Darmgewebe ("sekundäre Perforation"). Die Beschwerdeführerin vertritt die Meinung, dass es zu einer primären Perforation gekommen sei, die von der Beschwerdegegnerin unmittelbar nach dem Eingriff hätte erkannt werden müssen.  
 
5.3. Das Obergericht gelangte zum Schluss, dass die Beschwerdeführerin keine primäre, sondern eine sekundäre Perforation erlitten habe. Dies ergebe sich "eindeutig" aus dem Umstand, dass die Perforation nicht am Ort der Polypabtragung ("Sigma" im Unterbauch) aufgetreten sei, sondern an einer deutlich davon entfernten Stelle des Dickdarms ("linke Flexur" im Oberbauch). Dieser Umstand (unterschiedliche Lokalisation von medizinischem Eingriff einerseits und Perforation andererseits) sei allen Gutachtern (FMH-Gutachter und Gerichtsgutachter) "entgangen". Diese hätten sich "offensichtlich" und "zu Unrecht" darauf gestützt, dass am Ort der Perforation auch der Polyp abgetragen worden sei. Dieser Unterscheidung komme aber Bedeutung zu. Denn es sei "nicht nachvollziehbar", inwiefern es bei der Abtragung eines Polypen in einem Darmabschnitt zu einer primären Perforation in einem davon deutlich entfernten anderen Darmabschnitt kommen können solle. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass sich eine primäre Perforation bei einer Polypabtragung "stets" an der Stelle ereigne, an welcher der Polyp entfernt worden sei.  
Ausserdem habe die Beschwerdeführerin anfänglich Schmerzen im Unterbauch gehabt. Es wäre - so erläutert das Obergericht weiter - "nicht einsichtig", weshalb eine primäre Perforation des Darms in der im Oberbauch befindlichen Flexur dort selber keine Schmerzen auslöse, wohl aber im Unterbauch. "[Z]umindest nach einem Laienverständnis" müsse erwartet werden, dass bei einer primären Perforation der Schmerz an der Perforationsstelle auftrete und allenfalls von dort ausstrahle. Aufgrund dieser Unstimmigkeiten müsse die im FMH-Gutachten postulierte primäre Perforation "praktisch ausgeschlossen" werden. Da die Perforation in der deutlich von der Stelle der Polypabtragung entfernten linken Flexur im Oberbauch eingetreten sei und die Beschwerdeführerin frühestens am 9. Juli 2010 über gewanderte Oberbauchschmerzen gelitten habe, erscheine vielmehr "überzeugend", dass es am 9. Juli 2010 zu einer sekundären Darmwandperforation gekommen sei. 
 
5.4. Die Beschwerdeführerin formuliert hauptsächlich zwei Einwände:  
 
5.4.1. Sie stört sich daran, dass die Vorinstanz Feststellungen zu medizinischen Tatsachen getroffen habe, die von keiner Partei "jemals" behauptet und von keinem medizinischen Sachverständigen im vorliegenden Verfahren "jemals" in Erwägung gezogen worden seien. Dies verletze die Verhandlungsmaxime (Art. 55 Abs. 1 ZPO).  
Eine Missachtung von Art. 55 Abs. 1 ZPO liegt entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin nicht vor: Die Vorinstanz gelangte zum Beweisergebnis, dass eine sekundäre Perforation vorliege. Gerade dies bildete Kern der Behauptungen der Beschwerdegegnerin im kantonalen Verfahren. Dass das Obergericht die medizinischen Vorgänge und die im Recht liegenden Gutachten allenfalls anders deutete als dies die Beschwerdegegnerin tat, stellt für sich genommen keine Verletzung des Verhandlungsgrundsatzes dar, sondern betrifft die Beweiswürdigung. 
 
5.4.2. Die Beschwerdeführerin beklagt ferner Willkür in der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung. Sie legt unter Hinweis auf verschiedene ärztliche Berichte (Koloskopiebericht, Eintrittsanamnese, Operationsberichte, Laborbefunde, Histologiebericht sowie ein Gutachten von Dr. med. G.________) dar, dass die Darmwandperforation "genau" an der Polypabtragungstelle eingetreten sei. Die gegenteilige Einschätzung der Vorinstanz, die sich einzig auf eine eigene Wikipedia-Recherche stütze und bewusst sämtliche im Recht liegenden fachärztlichen Gutachten übergehe, sei "qualifiziert unrichtig".  
Es ist in der Tat so, dass das Obergericht in ausdrücklicher Abweichung von ärztlichen Gutachten eigene medizinische Überlegungen anstellte. Ob die vorinstanzlichen Gedankenschritte im Einzelnen zutreffen, kann dahingestellt bleiben. Zu beachten ist jedenfalls, dass das Bundesgericht in die obergerichtliche Beweiswürdigung nur dann eingreifen würde, wenn diese nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis willkürlich wäre (BGE 140 III 16 E. 2.1). Die Beurteilung des Obergerichts findet zwar in der Begründung nicht im Einzelnen eine Grundlage in den Gutachten. Sein Ergebnis (sekundäre Perforation) deckt sich aber mit den Befunden des Gerichtsgutachters, der namentlich mit Blick auf die "Schmerzwanderroute über die Zeit" (Unterbauchschmerzen am 7. Juli 2010, Oberbauchschmerzen am 9. Juli 2010, erneute Unterbauchschmerzen präoperativ) schloss, es sei am 9. Juli 2010 zu einer sekundären Perforation gekommen. Die Beschwerdeführerin vermag sich zwar für ihre Auffassung ihrerseits auf eine - allerdings von ihr eingereichte - medizinische Expertise zu stützen (das FMH-Gutachten), und sie schildert in durchaus vertretbarer Weise, aus welchen Gründen eine primäre Perforation "gerade nicht" auszuschliessen sei. Dass aber das Obergericht nachgerade unhaltbare Schlussfolgerungen gezogen hätte, kann nicht gesagt werden (vgl. Erwägung 2.2). Seine Einschätzung hält der (beschränkten) höchstrichterlichen Überprüfung stand. 
 
5.4.3. Nach dem Gesagten steht für das Bundesgericht verbindlich fest, dass sich die Perforation der Darmwand nicht unmittelbar anlässlich des Eingriffs am 7. Juli 2010 ereignet hat, sondern erst sekundär am 9. Juli 2010. Dass die Beschwerdegegnerin bei diesem Ergebnis am Eingriffstag nicht zu besonderen Abklärungen gehalten war und folglich der damit begründete Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung entfällt, bestreitet die Beschwerdeführerin nicht.  
 
5.5. Die Beschwerdeführerin unterbreitet dem Bundesgericht weitere Rügen, die auf der Behauptung fussen, es sei eine primäre Darmwandperforation eingetreten. Nachdem sich dieser Standpunkt (unter Willkürgesichtspunkten) nicht erhärtet hat, ist der darauf aufbauenden Kritik der Boden entzogen. Weiterungen erübrigen sich.  
 
6.  
Die Beschwerde ist abzuweisen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten gemäss Art. 66 Abs. 1 BGG der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren kann nicht entsprochen werden, da die Beschwerde aussichtslos ist (siehe Art. 64 Abs. 1 BGG). Der finanziellen Lage der Beschwerdeführerin ist durch eine herabgesetzte Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). Der Beschwerdegegnerin, die sich nur zum Gesuch um aufschiebende Wirkung zu äussern hatte und dagegen keine Einwände erhob, ist kein zu entschädigender Aufwand entstanden. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 7'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Zivilgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 11. Oktober 2023 
 
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jametti 
 
Der Gerichtsschreiber: Stähle