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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_55/2023  
 
 
Urteil vom 19. Juli 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Kölz, Hofmann, 
Gerichtsschreiber Stadler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Bernard, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Thomas Kläusli, c/o Bezirksgericht Zürich, Badenerstrasse 90, Postfach, 8036 Zürich, 
Beschwerdegegner, 
 
Bezirksgericht Zürich, 3. Abteilung, Badenerstrasse 90, 8004 Zürich. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 22. März 2023 (UA230007-O/U/HON). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Im selbständigen nachträglichen Verfahren betreffend Aufhebung der stationären Massnahme und Antrag auf Verwahrung von A.________, geboren 1960, setzte die 3. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich mit Vorladung vom 20. Januar 2023 die Hauptverhandlung auf den 6. April 2023 an und gab gleichzeitig die Gerichtsbesetzung des Kollegialgerichts bekannt. Mit an das Bezirksgericht gerichtetem Schreiben vom 23. Januar 2023 liess A.________ gestützt auf Art. 56 lit. b und lit. f StPO ein Ausstandsgesuch gegen den Vorsitzenden, Bezirksrichter Thomas Kläusli, stellen. 
Am 3. Februar 2023 überwies Bezirksrichter Thomas Kläusli das Gesuch der zu dessen Beurteilung zuständigen Kammer des Obergerichts des Kantons Zürich, unter Abgabe der gewissenhaften Erklärung, dass keine Befangenheit seinerseits vorliege. Mit Beschluss vom 22. März 2023 wies das Obergericht das Ausstandsgesuch von A.________ ab. 
 
B.  
Am 3. April 2023 hat A.________ Beschwerde an das Bundesgericht erhoben. Er beantragt, der vorinstanzliche Beschluss sei vollumfänglich aufzuheben und es sei festzustellen, dass Bezirksrichter Thomas Kläusli in der Sache befangen sei und deshalb in den Ausstand zu treten habe. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
Das Obergericht hat auf eine Stellungnahme verzichtet. Bezirksrichter Thomas Kläusli beantragt die Abweisung der Beschwerde. A.________ hat auf eine Replik verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 78 ff. bzw. Art. 92 Abs. 1 BGG sind erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Er macht geltend, der Beschwerdegegner habe sowohl am ursprünglichen, die heutige stationäre Massnahme anordnenden Entscheid vom 19. November 2010 sowie an den Nachverfahren in den Jahren 2017 und 2019 mitgewirkt. Ins Gewicht falle dabei besonders der letzte, vom 28. Januar 2019 datierende Beschluss, welcher ursprünglich die Verwahrung des Beschwerdeführers angeordnet habe. Dieser Entscheid sei in der Folge vom Obergericht mit Beschluss vom 9. Juli 2019 aufgehoben worden und es sei anstelle der Verwahrung eine erneute stationäre Massnahme angeordnet worden. Im vorliegenden Verfahren stelle sich erneut die Frage, ob eine Verwahrung des Beschwerdeführers angeordnet werden solle. Die stationäre Massnahme sei bereits zum dritten Mal aufgehoben worden, eine vierte Anordnung sei weder von einer Partei beantragt noch scheine sie sonst wahrscheinlich. Die im Raum stehende Frage laute deshalb: Könne der Beschwerdeführer verwahrt werden, wie es die Bewährungs- und Vollzugsdienste beantragen würden, oder nicht? Dabei würde die Frage der Verhältnismässigkeit eine entscheidende Rolle spielen, mithin ein Faktor, bei welchem dem Gericht ein grosses Ermessen zustehe. Entgegen dem Beschwerdegegner behandle das erneut angerufene Gericht denselben Sachverhalt wie im letzten Verfahren. Es gehe um die rechtlich exakt gleiche Fragestellung, nämlich, ob die vorliegende Anlasstat ausreiche, um eine Verwahrung anzuordnen.  
 
2.2.  
 
2.2.1. Gemäss Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Gericht ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Die Garantie des verfassungsmässigen Gerichts soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Diese Garantie wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten Verhalten der betreffenden Gerichtsperson oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein (BGE 142 III 732 E. 4.2.2; Urteil 1B_101/2022 vom 15. Dezember 2022 E. 2.1; je mit Hinweisen). Auf das bloss subjektive Empfinden einer Partei kann bei der Beurteilung nicht abgestellt werden. Die abgelehnte Gerichtsperson muss nicht tatsächlich befangen sein; der Anschein der Befangenheit genügt (BGE 148 IV 137 E. 2.2; 147 I 173 E. 5.1; 144 I 234 E. 5.2; 143 IV 69 E. 3.2; 141 IV 178 E. 3.2.1; je mit Hinweisen).  
Die genannte verfassungs- bzw. konventionsrechtliche Garantie wird für das Strafverfahren durch Art. 56 StPO konkretisiert (BGE 144 I 234 E. 5.2 mit Hinweisen). Gemäss dieser Bestimmung tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person unter anderem in den Ausstand, wenn sie in einer anderen Stellung, insbesondere als Mitglied einer Behörde, in der gleichen Sache tätig war (sog. Vorbefassung; lit. b) oder wenn sie aus "anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte" (lit. f). Die Gerichte gehören zu den Strafbehörden (vgl. Art. 13 StPO). Ist die vom Ausstandsgesuch betroffene Person in derselben Stellung mit der gleichen Sache mehrfach befasst, liegt keine Vorbefassung im Sinne von Art. 56 lit. b StPO, sondern eine sogenannte Mehrfachbefassung vor (BGE 148 IV 137 E. 5.4; 143 IV 69 E. 3.1). Die Mehrfachbefassung kann jedoch unter dem Gesichtswinkel von Art. 56 lit. f StPO Bedeutung erlangen, wenn zu erwarten ist, die betroffene Gerichtsperson habe sich in Bezug auf einzelne Fragen bereits in einem Masse festgelegt, dass das Verfahren im späteren Verfahrensabschnitt nicht mehr als offen erscheint (Urteil 1B_101/2022 vom 15. Dezember 2022 E. 2.1; 1B_85/2022 vom 18. Juli 2022 E. 3.1; 1B_593/2021 vom 11. April 2022 E. 4.3 mit Hinweisen). 
Ob eine unzulässige, den Verfahrensausgang vorwegnehmende Mehrfachbefassung vorliegt, kann nicht allgemein gesagt werden und ist anhand der tatsächlichen und verfahrensrechtlichen Umstände in jedem Einzelfall zu klären (BGE 148 IV 137 E. 5.5; Urteil 1B_101/2022 vom 15. Dezember 2022 E. 2.1; je mit Hinweisen). Zu berücksichtigen ist dabei, in welchen prozessualen Funktionen die Gerichtsperson mit der Sache befasst war, welche Fragen sie zu entscheiden hatte und in welchem Zusammenhang diese zu den aktuell zu beantwortenden Fragen stehen, sowie der Umfang ihrer Entscheidbefugnis; auch die Bedeutung jedes einzelnen Entscheids für den Fortgang des Verfahrens kann in die Beurteilung einbezogen werden (Urteil 1B_85/2022 vom 18. Juli 2022 E. 3 mit Hinweisen). 
 
2.2.2. Der Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht gemäss Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK umfasst nicht auch die Garantie jederzeit fehlerfrei arbeitender Richter. Prozessuale Rechtsfehler sind im Rechtsmittelverfahren zu rügen und lassen sich grundsätzlich nicht als Begründung für eine Verletzung der Garantie des verfassungsmässigen Richters heranziehen. Nur ausnahmsweise können richterliche Verfahrensfehler die Unbefangenheit einer Gerichtsperson infrage stellen. Dabei müssen objektiv gerechtfertigte Gründe zur Annahme bestehen, dass sich in Rechtsfehlern gleichzeitig eine Haltung manifestiert, die auf fehlender Distanz und Neutralität beruht. Wird der Ausstandsgrund aus materiellen oder prozessualen Rechtsfehlern abgeleitet, so sind diese nur wesentlich, wenn sie besonders krass sind oder wiederholt auftreten, sodass sie einer schweren Amtspflichtverletzung gleichkommen und sich einseitig zulasten einer der Prozessparteien auswirken (zum Ganzen: BGE 143 IV 69 E. 3.2; 141 IV 178 E. 3.2.3; 138 IV 142 E. 2.3; je mit Hinweisen).  
 
2.3.  
 
2.3.1. Der Beschwerdeführer wurde am 26. August 2021 vom Obergericht des Kantons Zürich wegen mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern, mehrfacher Pornografie, Gewaltdarstellung sowie Tierquälerei zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, wobei der Vollzug der Freiheitsstrafe zugunsten einer stationären Massnahme aufgeschoben wurde. Die stationäre Massnahme wurde in der Folge mehrfach verlängert; zuletzt durch die Vorinstanz mit Beschluss vom 9. Juli 2019, nachdem das erstinstanzliche Gericht im damaligen nachträglichen Verfahren gemäss Art. 363 ff. StPO den Antrag der kantonalen Bewährungs- und Vollzugsdienste auf Verwahrung des Beschwerdeführers noch gutgeheissen hatte.  
Wenn der Beschwerdegegner bereits im letzten Nachverfahren dem erstinstanzlichen Spruchkörper angehörte und im nun aktuellen (erstinstanzlichen) Nachverfahren erneut als Sachrichter mitwirken soll, liegt mit der Vorinstanz keine Vorbefassung, sondern eine Mehrfachbefassung vor, welche unter dem Aspekt von Art. 56 lit. f StPO zu prüfen ist. 
 
2.3.2. Die kantonalen Bewährungs- und Vollzugsdienste beantragen im hängigen Nachverfahren erneut die Verwahrung des Beschwerdeführers gestützt auf Art. 62c Abs. 4 StGB, nachdem sie mit Verfügung vom 3. November 2022 die stationäre Massnahme nach Art. 62c Abs. 1 lit. a StGB aufgehoben haben. Im Vergleich zum letzten Nachverfahren liegt im aktuellen Verfahren ein neues, von einem anderen Sachverständigen erstelltes psychiatrisches Gutachten über den Beschwerdeführer vor. Wie der Beschwerdegegner in seiner Stellungnahme grundsätzlich zu Recht erwähnt, unterscheidet sich der zu beurteilende Sachverhalt zumindest insofern, als dass das (selbe) Gericht dieses Gutachten im Hinblick auf die Frage der Aussichtslosigkeit der stationären Massnahme und einer allfälligen Verwahrung zu prüfen hat (vgl. Art. 64 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 56 Abs. 3 und 4 StGB). Weiter gilt es zu berücksichtigen, dass die Erstinstanz im vormaligen Nachverfahren in Nachachtung der zahlreichen erfolglosen Behandlungsversuche und der Verweigerungshaltung des Beschwerdeführers betreffend seine Therapie eine ambulante bzw. die Fortführung der stationären Massnahme als aussichtslos erachtete. Diese Auffassung wurde im anschliessenden Rechtsmittelverfahren insofern korrigiert, als dass die Vorinstanz von einer grundsätzlich hinreichenden Therapiebereitschaft des Beschwerdeführers ausging und deshalb eine erneute stationäre Massnahme anordnete (angefochtener Beschluss S. 5 f.).  
Inwiefern dem Beschwerdegegner vor diesem Hintergrund mangelnde Neutralität oder gar eine krasse Amtspflichtverletzung vorzuwerfen wäre, ist weder dargetan noch ersichtlich: Entscheidungen, welche sich im Nachhinein als falsch herausgestellt haben, vermögen jedenfalls nicht per se einen objektiven Verdacht der Voreingenommenheit zu begründen (vgl. E. 2.2.2 hiervor). Die Garantie des unabhängigen und unparteiischen Richters verlangt auch nicht den Ausstand eines Richters aus dem blossen Grund, dass dieser in einem früheren Verfahren - ja sogar im gleichen Verfahren - zu Ungunsten des Betroffenen entschieden hat (BGE 143 IV 69 E. 3.1; 129 III 445 E. 4.2.2.2; 114 Ia 278 E. 1). Die Vorinstanz weist zu Recht auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Ausstand im Rückweisungsverfahren hin, wonach grundsätzlich keine unzulässige Mehrfachbefassung bei einer Gerichtsperson vorliegt, die an dem durch die Rechtsmittelinstanz aufgehobenen Entscheid beteiligt war und nach Rückweisung der Sache an der Neubeurteilung mitwirkt (vgl. BGE 143 IV 69 E. 3.1; 138 IV 142 E. 2.4; 116 Ia 28 E. 2a). Die am Entscheid beteiligten Richter der unteren Instanz stehen nicht von vorneherein unter dem Anschein der Befangenheit. Dafür bedarf es besonderer Umstände, namentlich konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die frühere Befassung mit einer Strafsache bereits zur festen richterlichen Gewissheit über den Schuldpunkt geführt hat (Urteil 1B_460/2018 vom 20. November 2018 E. 3.2 mit Hinweisen). Anders gesagt darf der Vorderrichter durch seine Haltung und seine vorangegangenen Äusserungen nicht klar zum Ausdruck gebracht haben, dass er nicht fähig sein würde, seinen Standpunkt zu überdenken und sich der Angelegenheit unter Abstand zu seiner vorgängig geäusserten Meinung wieder zu widmen (BGE 138 IV 142 E. 2.3). Dieser Grundsatz hat erst recht für die vorliegende Konstellation zu gelten, wo der Sachverhalt wie erwähnt gestützt auf das neuste Gutachten, aber auch den Therapieverlauf des Beschwerdeführers in den letzten Jahren neu zu beurteilen sein wird. Dass die rechtlichen Fragestellungen unverändert sind, vermag daran nichts zu ändern, zumal nach dem Gesagten keine Umstände ersichtlich sind, die zumindest objektiv den Anschein der Befangenheit des Beschwerdegegners rechtfertigen würden. Die Vorinstanz konnte das Ausstandsgesuch des Beschwerdeführers somit ohne Verletzung von Bundes- oder Konventionsrecht abweisen. 
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen. Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Stephan Bernard, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirksgericht Zürich, 3. Abteilung, und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 19. Juli 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Stadler