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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_736/2022  
 
 
Urteil vom 9. November 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
nebenamtliche Bundesrichterin Lötscher, 
Gerichtsschreiberin Erb. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
SVG-Widerhandlungen; Willkür, rechtliches Gehör, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 1. Abteilung, vom 27. April 2022 (2M 21 11). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ wird vorgeworfen, am 29. Oktober 2019 um ca. 17.30 Uhr mit seinem Personenwagen die Distanz zu einem geparkten Fahrzeug falsch eingeschätzt und eine Streifkollision begangen zu haben. Diesen Unfall habe er unmittelbar bemerkt. Gleichwohl habe er nicht angehalten, sondern sei zu einer rund 11 km entfernten Autobahnraststätte gefahren. Erst um ca. 23.30 Uhr habe er den Unfall der Polizei gemeldet. 
 
B.  
Mit Strafbefehl vom 3. Januar 2020 sprach die Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern A.________ des Nichtbeherrschens des Fahrzeugs, des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall mit Fremdschaden sowie des Führens eines Personenwagens in nicht betriebssicherem und nicht vorschriftsgemässem Zustand schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 800.--. Auf Einsprache von A.________ hin sprach ihn die Staatsanwaltschaft mit neuem Strafbefehl vom 4. September 2020 des Nichtbeherrschens des Fahrzeugs, des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall mit Fremdschaden sowie des Führens eines Personenwagens in nicht vorschriftsgemässem Zustand schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 850.--. Auf seine Einsprache hin sprach das Bezirksgericht Luzern A.________ mit Urteil vom 4. März 2021 des fahrlässigen Nichtbeherrschens des Fahrzeugs sowie des pflichtwidrigen Verhaltens nach einem Unfall mit Fremdschaden schuldig. Vom Vorwurf des Führens eines Personenwagens in nicht vorschriftsgemässem Zustand sprach es ihn frei. Es bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 700.--. 
Das Kantonsgericht Luzern wies die von A.________ dagegen erhobene Berufung mit Urteil vom 27. April 2022 ab. 
 
C.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und er sei freizusprechen. Die Akten seien zur Neuverlegung der kantonalen Kosten an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. A.________ beantragt die aufschiebende Wirkung. 
 
D.  
Mit Verfügung vom 24. Juni 2022 wies die Präsidentin der Strafrechtlichen Abteilung das Gesuch um aufschiebende Wirkung ab. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 9 BV, Art. 10 Abs. 2 StPO und Art. 51 Abs. 3 SVG. Die Vorinstanz habe zu Unrecht darauf verzichtet, den Zeugen B.________ anzuhören, und habe dadurch sein rechtliches Gehör verletzt. Es sei willkürlich, wenn die Vorinstanz davon ausgehe, dass er eine Streifkollision bemerkt habe. Vielmehr habe er nur das Einklappen des rechten Aussenspiegels realisiert. Zudem lege die Vorinstanz Art. 51 Abs. 3 SVG falsch aus und verfalle dabei auch in Willkür. Der Beschwerdeführer habe den Schaden an seinem eigenen Auto, sobald er diesen festgestellt habe, innerhalb von anderthalb Stunden der Polizei gemeldet. Damit habe er "unverzüglich" im Sinne von Art. 51 Abs. 3 SVG gehandelt. Festgestellt habe er den Schaden erst im Parkhaus in U.________. Die Schadensmeldung nach der Rückkehr nach V.________ sei damit "unverzüglich" erfolgt.  
 
1.2. Die Vorinstanz erachtet die Tatbestände des Nichtbeherrschens des Fahrzeugs und des pflichtwidrigen Verhaltens nach einem Unfall mit Fremdschaden als erfüllt. Die erstinstanzliche Sachverhaltsfeststellung sei nicht willkürlich. Die Verfehlung des Beschwerdeführers liege darin, dass er angesichts der gesamten schwierigen Situation, seiner damit erforderlichen erhöhten Sorgfaltspflicht und trotz der Wahrnehmung des auf der rechten Seite geparkten Fahrzeugs nicht rechtzeitig angehalten habe, um die Streifkollision zu verhindern. Zudem sei der Beschwerdeführer nach dem Unfall etwa 11 km bis zu einer Autobahnraststätte weitergefahren, obwohl er früher hätte anhalten können, zumal sich der Unfall in einer Quartierstrasse zugetragen habe. Den Unfall habe er erst rund 6 Stunden später der Polizei gemeldet, was nicht "unverzüglich" im Sinne von Art. 51 SVG sei. Die Fotodokumentation der Polizei zeige grossflächige Schäden am Fahrzeug des Beschwerdeführers. Es sei wenig glaubhaft, dass der Beschwerdeführer den auf Fr. 4'500.-- geschätzten Karrosserieschaden bei der Kontrolle seines Fahrzeugs auf der Autobahnraststätte nicht bemerkt habe. Die Einwände des Beschwerdeführers betreffend die misslichen Wetterumstände, den dichten Feierabendverkehr und seine privaten Pläne änderten daran nichts. Auf die beantragte Einvernahme des Zeugen B.________ könne mangels Relevanz für die vorliegend zu klärenden Fragen verzichtet werden.  
 
1.3.  
 
1.3.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 145 IV 154 E. 1.1; 143 IV 241 E. 2.3.1; 141 IV 317 E. 5.4 mit Hinweisen).  
Willkür bei der Beweiswürdigung liegt vor, wenn diese schlechterdings unhaltbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn das Gericht Sinn und Tragweite eines Beweismittels offensichtlich verkannt, wenn es ohne sachlichen Grund ein wichtiges und entscheidwesentliches Beweismittel unberücksichtigt gelassen oder wenn es auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen unhaltbare Schlussfolgerungen gezogen hat (BGE 140 III 264 E. 2.3 mit Hinweisen). Dass eine andere Würdigung ebenfalls vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht. Erforderlich ist ausserdem, dass der Entscheid nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis willkürlich ist. Die Willkürrüge muss nach Art. 106 Abs. 2 BGG explizit vorgebracht und substanziiert begründet werden. Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; 144 V 50 E. 4.2; 143 IV 500 E. 1.1; je mit Hinweisen). 
Waren ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Hauptverfahrens (Art. 398 Abs. 4 StPO), prüft das Bundesgericht frei, ob die Vorinstanz auf eine gegen das erstinstanzliche Urteil vorgebrachte Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung hin zu Unrecht Willkür verneint hat. Der Beschwerdeführer muss sich bei der Begründung der Rüge, die Vorinstanz habe Willkür zu Unrecht verneint, auch mit den Erwägungen der ersten Instanz auseinandersetzen. Das Bundesgericht nimmt keine eigene Beweiswürdigung vor (Urteil 6B_195/2020 vom 23. Juni 2021 E. 6.2, nicht publiziert in: BGE 147 IV 379, mit Hinweisen). 
 
1.3.2. Im Strafverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 Abs. 1 StPO). Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst die Pflicht der Behörde, alle erheblichen und rechtzeitigen Vorbringen der Parteien zu würdigen und die ihr angebotenen Beweise abzunehmen, wenn diese zur Abklärung des Sachverhalts tauglich erscheinen (BGE 141 I 60 E. 3.3). Über Tatsachen, die unerheblich, offenkundig, der Strafbehörde bekannt oder bereits rechtsgenügend erwiesen sind, wird nicht Beweis geführt (Art. 139 Abs. 2 StPO). Das Gehörsrecht ist nicht verletzt, wenn die Strafbehörden in vorweggenommener (antizipierter) Beweiswürdigung annehmen können, ihre Überzeugung werde durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert (BGE 147 IV 534 E. 2.5.1; 144 II 427 E. 3.1.3; 141 I 60 E. 3.3). Die Rüge unzulässiger antizipierter Beweiswürdigung prüft das Bundesgericht als Tatfrage nur unter dem Aspekt der Willkür (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 147 IV 534 E. 2.5.1; Urteil 6B_636/2020 vom 10. März 2022 E. 2.2.2, nicht publ. in: BGE 148 IV 113; je mit Hinweisen). Diese Rüge bedarf der qualifizierten Begründung im Sinne von Art. 106 Abs. 2 BGG, andernfalls darauf nicht einzutreten ist (oben E. 1.3.1; BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; Urteil 6B_1182/2020 vom 4. Januar 2022 E. 3.2).  
 
1.3.3. Art. 31 Abs. 1 SVG schreibt vor, dass der Lenker das Fahrzeug ständig so beherrschen muss, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Die Bestimmung verlangt, dass der Lenker jederzeit in der Lage ist, auf die jeweils erforderliche Weise auf das Fahrzeug einzuwirken und auf jede Gefahr ohne Zeitverlust zweckmässig zu reagieren (BGE 127 II 302 E. 3c; Urteil 6B_1002/2020 vom 4. Oktober 2021 E. 4.3 mit Hinweis).  
 
1.3.4. Mit Busse wird bestraft, wer bei einem Unfall die ihm vom SVG auferlegten Pflichten verletzt (Art. 92 Abs. 1 SVG). Die Pflichten bei Unfällen sind in Art. 51 SVG geregelt. Ist bei einem Unfall nur Sachschaden entstanden, so hat der Schädiger sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und Namen und Adresse anzugeben. Wenn dies nicht möglich ist, hat er unverzüglich die Polizei zu verständigen (Art. 51 Abs. 3 SVG). Die Pflicht zur Benachrichtigung des Geschädigten gemäss Art. 51 Abs. 3 Satz 1 SVG kommt zum Tragen, wenn dieser nicht als Verkehrsteilnehmer am Unfall mitbeteiligt bzw. nicht bereits auf der Unfallstelle anwesend ist (vgl. BGE 131 IV 36 E. 3.4.1; Urteil 6B_322/2015 vom 26. November 2015 E. 2.2). Die Benachrichtigung im Sinne von Art. 51 Abs. 3 Satz 1 SVG muss nicht nur rechtzeitig erfolgen, sondern auch zuverlässig und vollständig sein. Der Schädiger muss den Geschädigten über den entstandenen Schaden unterrichten und ihm Namen und Adresse unaufgefordert mitteilen (BGE 91 IV 22 E. 1). Die Anzeige hat sofort (unverzüglich) nach dem Unfall zu erfolgen, d.h. so rasch als dies dem Schädiger nach den Umständen zuzumuten ist (BGE 91 IV 22 E. 1; Urteil 6B_626/2018 vom 28. November 2018 E. 1.4). Die Polizei ist gemäss Art. 51 Abs. 3 Satz 2 SVG nur zu verständigen, wenn eine sofortige Benachrichtigung des Geschädigten nicht möglich ist. Zweck von Art. 51 Abs. 3 SVG ist es, in Fällen, in denen sich polizeiliche Erhebungen aufdrängen oder vom Geschädigten verlangt werden (vgl. Art. 56 Abs. 2 VRV), ein rasches Eingreifen der Polizei zu ermöglichen (BGE 91 IV 22 E. 1 S. 23; Urteile 6B_626/2018 vom 28. November 2018 E. 1.4.1; 6S.8/2003 vom 19. März 2003 E. 2).  
 
1.4. Die Rügen des Beschwerdeführers erweisen sich als unbegründet, soweit aufgrund ihrer weitgehend appellatorischen Natur überhaupt auf sie einzutreten ist. Der selbst als Anwalt tätige Beschwerdeführer beschränkt sich im Wesentlichen darauf, seine eigene Sicht der Dinge darzustellen, wobei er sich verschiedentlich im Ton vergreift. Mit den Sachverhaltsfeststellungen der ersten Instanz setzt er sich gar nicht auseinander. Zu Recht schützt die Vorinstanz die erstinstanzliche Sachverhaltsfeststellung als nicht willkürlich (vgl. E. 1.3.1 oben). Der Verzicht auf die Anhörung des Beifahrers des Beschwerdeführers ist angesichts der objektiven Beweislage nicht zu beanstanden (vgl. E. 1.3.2 oben).  
Was der Beschwerdeführer als "durch das Milchglas" ersichtliche Willkür rügt (Beschwerde S. 8, 11, 13, 16), erweist sich als durchwegs sorgfältige und überzeugende Sachverhaltsfeststellung. Insbesondere verfällt die Vorinstanz nicht in Willkür, wenn sie davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer die Streifkollision bemerkte und es nicht glaubhaft sei, wenn dieser ausführe, den sich über zwei Türen ziehenden Streifschaden an seinem eigenen Fahrzeug, welcher von der V.________-Polizei auf Fr. 4'500.-- geschätzt wurde, beim ersten Aussteigen nicht gesehen zu haben. Nicht zu beanstanden ist dabei auch die Erwägung der Vorinstanz, wonach realitätsfremd anmute, dass der Beschwerdeführer erst nach rund 11 km an der Autobahnraststätte W.________ erstmals habe anhalten können. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, verfängt nicht. Erstellt ist auch, dass der Beschwerdeführer die Polizei erst rund sechs Stunden nach der Streifkollision informiert hat. Damit gibt auch die vorinstanzliche Auslegung von Art. 51 Abs. 3 SVG zu keiner Kritik Anlass. Der Vorinstanz ist darin zu folgen, dass die Meldung sechs Stunden nach dem Unfall offensichtlich zu spät stattgefunden hat und nicht mehr "unverzüglich" erfolgt ist. Im Übrigen begründet der Beschwerdeführer auch nicht, weshalb es ihm nicht möglich gewesen sein sollte, die Polizei sofort nach dem durch ihn behaupteten späteren Entdecken des Schadens im Parkhaus in U.________ zu verständigen, sondern erst eineinhalb Stunden später. Er belässt es vielmehr dabei vorzubringen, er habe es als sinnlos erachtet, die Schadensmeldung der U.________-Polizei zu machen, weshalb er nach V.________ zurückgefahren sei. Damit erweist sich seine Willkürrüge bezüglich des Zeitpunkts des Entdeckens des Schadens nicht nur als unbegründet, sondern zusätzlich auch als nicht entscheidrelevant. Zusammenfassend geht die Vorinstanz zu Recht davon aus, dass der Beschwerdeführer sich des Nichtbeherrschens des Fahrzeugs schuldig gemacht hat und dass er seinen Pflichten nach einem Unfall mit Sachschaden nicht bzw. nicht rechtzeitig nachgekommen ist. Der Schuldspruch verstösst nicht gegen Bundesrecht. 
 
2.  
Der Beschwerdeführer begründet seinen Antrag betreffend die Rückweisung der Akten an die Vorinstanz zur Neuverlegung der vorinstanzlichen Kosten nicht. Es ist darauf nicht weiter einzugehen (Art. 42 Abs. 2 BGG). 
 
3.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 9. November 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Erb