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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_479/2023  
 
 
Urteil vom 11. Oktober 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Businger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Eidgenössische Steuerverwaltung, Wehrpflichtersatzabgabe, Eigerstrasse 65, 3003 Bern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Simon Häfeli, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Wehrpflichtersatzabgabe, Ersatzjahr 2018, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug, Abgaberechtliche Kammer, vom 10. Juli 2023 (A 2022 8). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________, geb. 1984, wanderte 1995 in die Schweiz ein. Er wurde 2015 im Alter von 31 Jahren eingebürgert. Nach der Änderung des Bundesgesetzes vom 12. Juni 1959 über die Wehrpflichtersatzabgabe (WPEG; SR 661) per 1. Januar 2019 veranlagte ihn das Amt für Zivilschutz und Militär des Kantons Zug für die Ersatzjahre 2018 und 2019; die entsprechenden Veranlagungsverfügungen erwuchsen unangefochten in Rechtskraft. 
 
B.  
Mit Verfügung vom 22. Oktober 2021 erhob das Amt für Zivilschutz und Militär die Wehrpflichtersatzabgabe für das Jahr 2020, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 4. März 2022. Dagegen wandte sich A.________ an das Verwaltungsgericht des Kantons Zug und stellte dabei auch die Abgabepflicht für die Ersatzjahre 2018 und 2019 infrage. Das Verwaltungsgericht bestätigte mit Urteil vom 10. Juli 2023 die Abgabepflicht für die Ersatzjahre 2019 und 2020, hiess die Beschwerde aber hinsichtlich des Ersatzjahres 2018 gut und ordnete die Rückerstattung der geleisteten Abgabe an. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 9. August 2023 beantragt die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) dem Bundesgericht, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und die rechtskräftige Verfügung des Amts für Zivilschutz und Militär des Kantons Zug betreffend das Ersatzjahr 2018 bzw. der Einspracheentscheid vom 4. März 2022 seien zu bestätigen. 
Das Verwaltungsgericht und A.________ schliessen auf Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein Endentscheid einer letzten kantonalen Instanz in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Art. 90 BGG) und die Beschwerde wurde form- und fristgerecht erhoben (Art. 42 und Art. 100 Abs. 1 BGG). Die ESTV ist als Aufsichtsbehörde über die Erhebung der Ersatzabgabe zur Beschwerde legitimiert (Art. 89 Abs. 2 lit. a BGG i.V.m. Art. 12 Abs. 2 lit. b der Verordnung vom 30. August 1995 über die Wehrpflichtersatzabgabe [WPEV; SR 661.1]). Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
Streitig ist, ob die Vorinstanz das bereits rechtskräftig veranlagte Ersatzjahr 2018 zu Recht revidiert hat. Dagegen liegen die Ersatzjahre 2019 und 2020 nicht mehr im Streit. 
 
2.1. Nach Art. 40 Abs. 1 WPEV zieht die Veranlagungsbehörde oder die Rekursinstanz eine rechtskräftige Verfügung oder einen rechtskräftigen Entscheid von Amtes wegen oder auf Begehren eines Betroffenen in Revision, wenn neue erhebliche Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht werden (lit. a), die Behörde aktenkundige erhebliche Tatsachen oder bestimmte Begehren übersehen hat (lit. b) oder die Behörde wesentliche Verfahrensgrundsätze, insbesondere das Recht auf Akteneinsicht oder auf rechtliches Gehör, verletzt hat (lit. c). Die Revision ist ausgeschlossen, wenn der Antragsteller als Revisionsgrund vorbringt, was er bei der ihm zumutbaren Sorgfalt schon im ordentlichen Verfahren hätte geltend machen können (Art. 40 Abs. 2 WPEV).  
Die Regelung von Art. 40 WPEV entspricht derjenigen bei der direkten Bundessteuer (Art. 147 Abs. 1 und 2 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer [DBG; SR 642.11]), weshalb bei ihrer Auslegung auf die Rechtsprechung und Lehre zur direkten Bundessteuer abgestellt werden kann (Urteil 2C_212/2016 vom 6. September 2016 E. 5.2). 
 
2.2. Die Vorinstanz erwog, die Erhebung der Ersatzabgabe für das Jahr 2018 habe gegen das Rückwirkungsverbot und Legalitätsprinzip verstossen. Das Amt für Zivilschutz und Militär habe wesentliche Verfahrensgrundsätze missachtet; ein Revisionsgrund sei klar gegeben. Es könne dem Beschwerdeführer nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er dies bereits im ordentlichen Verfahren hätte geltend machen müssen. Er bringe zudem glaubhaft vor, dass er die Abgabe in der irrtümlichen Annahme geleistet habe, sie sei geschuldet. Es gehe nicht darum, dass aufgrund einer neuen rechtlichen Würdigung eines Sachverhalts um Revision einer rechtskräftigen Verfügung ersucht werde. Vielmehr sei die Verfügung für das Ersatzjahr 2018 von Beginn an ohne gesetzliche Grundlage, unter Verletzung wesentlicher Verfahrensgrundsätze, erlassen worden (E. 5.1 des angefochtenen Urteils).  
 
2.3.  
 
2.3.1. Als "wesentliche Verfahrensgrundsätze" nach Art. 40 Abs. 1 lit. c WPEV (bzw. Art. 147 Abs. 1 lit. b DBG) kommen prozessuale Vorschriften und Prinzipien infrage, welche die korrekte Verfahrensführung garantieren (Urteil 2C_768/2022 vom 23. Dezember 2022 E. 3). Neben dem in Art. 40 Abs. 1 lit. c WPEV genannten Recht auf Akteneinsicht oder rechtliches Gehör fällt etwa die Verletzung von Ausstandspflichten darunter (vgl. MARTIN E. LOOSER, in: Martin Zweifel/ Michael Beusch [Hrsg.], Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, DBG, 4. Aufl. 2022, N. 16a zu Art. 147 DBG). Dagegen berechtigt die falsche Anwendung des materiellen Rechts nicht zu einer Revision (BGE 98 Ia 568 E. 5b; Urteil 2C_768/2022 vom 23. Dezember 2022 E. 3 m.H.).  
 
2.3.2. Das Rückwirkungsverbot (vgl. zum Inhalt BGE 146 V 364 E. 7.1; 144 I 81 E. 4.1) stellt ein prozessuales Prinzip dar, soweit es um die (rückwirkende) Anwendung von verfahrensrechtlichen Vorschriften geht. Davon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein. Das Amt für Zivilschutz und Militär hat nach Auffassung der Vorinstanz zu Unrecht materielle Bestimmungen - konkret Art. 3 WPEG betreffend Beginn und Dauer der Ersatzpflicht - rückwirkend zur Anwendung gebracht (vgl. E. 4.2.3 des angefochtenen Urteils). Damit geht es um die Verletzung des Rückwirkungsverbots bzw. Legalitätsprinzips im Rahmen der materiellen Beurteilung. Wie die ESTV zu Recht vorbringt, liegt damit nicht die Verletzung eines verfahrensrechtlichen Grundsatzes, sondern bloss eine falsche Anwendung des materiellen Rechts vor, die wie erwähnt nicht zu einer Revision berechtigt. Der Revisionsgrund nach Art. 40 Abs. 1 lit. c WPEV liegt damit nicht vor.  
 
2.4. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners liegt auch keine "wesentlich geänderte Tatsache" vor. Die bundesgerichtlichen Präjudizien zur Rückwirkung von Art. 3 WPEG (Urteile 2C_1005/2021 vom 27. April 2022; 2C_339/2021 vom 4. Mai 2022) haben offensichtlich nicht die dem Fall des Beschwerdegegners zugrunde liegenden Tatsachen nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens nachträglich geändert. Die zitierten Urteile haben nicht den Charakter neuer erheblicher Tatsachen oder Beweismittel i.S.v. Art. 40 Abs. 1 lit. a WPEV. Vielmehr hat das Bundesgericht die bei ihm angefochtenen Fälle rechtlich anders gewürdigt, als es das Amt für Zivilschutz und Militär im Falle des Beschwerdegegners getan hat. Es wäre dem Beschwerdegegner freigestanden, die Veranlagung für das Ersatzjahr 2018 bis vor Bundesgericht anzufechten und selber einen höchstgerichtlichen Entscheid zu erwirken. Nachdem er dies nicht getan und die Veranlagung akzeptiert hat, kann er das Präjudiz des Bundesgerichts nicht zum Anlass einer Revision nehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Beschwerdegegner als juristischer Laie die Verletzung des Rückwirkungsverbots hätte erkennen können.  
Soweit der Beschwerdegegner vorbringt, die Veranlagung für das Ersatzjahr 2018 sei nichtig, ist darauf hinzuweisen, dass inhaltliche Mängel eines Entscheids nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit führen und als Nichtigkeitsgründe vorab die funktionelle oder sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht kommen (BGE 147 III 226 E. 3.1.2; Urteil 9C_656/2022 vom 24. März 2023 E. 2.1.1). Die hier gerügte Verletzung des Rückwirkungsverbots bzw. Legalitätsprinzips im Abgaberecht genügt nicht. 
 
2.5. Zusammenfassend hat die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, indem sie den Revisionsgrund nach Art. 40 Abs. 1 lit. c WPEV bejaht hat. Das angefochtene Urteil ist hinsichtlich des Ersatzjahres 2018 aufzuheben, womit es bei der rechtskräftigen Veranlagung bleibt und eine Rückerstattung ausser Betracht fällt.  
 
3.  
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht geschuldet (Art. 68 Abs. 3 BGG). Die Sache ist zur Neuverlegung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 68 Abs. 5 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 10. Juli 2023 wird in Bezug auf das Ersatzjahr 2018 aufgehoben. 
 
2.  
Die Sache wird zur Neuverlegung des Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Abgaberechtliche Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 11. Oktober 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Businger