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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_344/2022, 1C_656/2022  
 
 
Urteil vom 2. Juni 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Haag, Müller, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Hänni. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.A.________, 
vertreten durch B.A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Schroff, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1C_344/2022 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Maurerstrasse 2, 8510 Frauenfeld. 
 
1C_656/2022 
Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau, Generalsekretariat, Regierungsgebäude, 8510 Frauenfeld. 
 
Gegenstand 
Forderung OHG, 
 
Beschwerden gegen die Entscheide des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 18. Januar 2022 (SBR.2021.72) und des Verwaltungsgerichts 
des Kantons Thurgau vom 9. November 2022 (VG.2022.67/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 31. Mai 2019 erhob die Staatsanwaltschaft Bischofszell Anklage beim Bezirksgericht Weinfelden gegen C.________ wegen sexuellen Handlungen mit Kindern, Pornografie und Tätlichkeiten unter anderem zum Nachteil von A.A.________. Der Rechtsvertreter von A.A.________ hatte bereits im Vorfeld der Anklageerhebung subsidiär Forderungen aus dem Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHG; SR 312.5) gestellt. Das Verfahren betreffend Forderung aus OHG wurde mit verfahrensleitender Verfügung vom 28. November 2019 vom Strafverfahren gegen C.________ abgetrennt und bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss sistiert. 
Mit Urteil vom 9. Dezember 2019 wurde C.________ unter anderem der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern zum Nachteil von A.A.________ schuldig gesprochen. Dieser wurde eine Genugtuung von Fr. 15'000.-- zugesprochen. 
 
B.  
 
B.a. Nach Eintritt der Rechtskraft des strafrechtlichen Urteils informierte das Bezirksgericht Weinfelden die Parteien mit Schreiben vom 2. Juni 2021 über die Weiterführung des OHG-Verfahrens. Mit Entscheid vom 22. September 2021 sprach es A.A.________ eine Genugtuung aus OHG von Fr. 15'000.-- zu. A.A.________s Antrag auf Entschädigung ihres Rechtsvertreters für das Strafverfahren wies es ab.  
 
B.b. Dagegen erhob A.A.________ Beschwerde beim Obergericht des Kantons Thurgau. Dieses nahm die Beschwerde als Berufung entgegen und erkannte mit Entscheid vom 18. Januar 2022: "Die Berufung ist unbegründet" (Ziff. 1).  
 
B.c. Gegen diesen Entscheid erhebt A.A.________ Beschwerde beim Bundesgericht und beantragt, Ziff. 1 des angefochtenen Entscheids sei aufzuheben und es sei ihr für die Opfervertretung im erwähnten Strafverfahren eine Entschädigung von Fr. 12'294.50 aus Opferhilfe zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen (Verfahren 1C_344/2022).  
Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht beantragt die Abweisung der Beschwerde unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid. 
 
C.  
 
C.a. Nach dem Entscheid des Bezirksgerichts Weinfelden vom 22. September 2021 (vgl. oben B.a) reichte A.A.________ am 11. Oktober 2021, parallel zum unter B beschriebenen Verfahren, beim Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau einen Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten in der Höhe von Fr. 12'294.50 ein. Mit Entscheid vom 25. Mai 2022 wies das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau den Antrag ab.  
 
C.b. Die dagegen von A.A.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau erhobene Beschwerde wies dieses mit Entscheid vom 9. November 2022 ab.  
 
C.c. Gegen diesen Entscheid erhebt A.A.________ Beschwerde beim Bundesgericht und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei ihr für die Opfervertretung im erwähnten Strafverfahren eine Entschädigung von Fr 12'294.50 aus Opferhilfe zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen (Verfahren 1C_ 656/2022). Sie stellt zudem den Antrag, die beiden Verfahren seien zu vereinigen.  
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau beantragt die Abweisung der Beschwerde unter Verweis auf den angefochtenen Entscheid. Das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau beantragt ebenfalls die Abweisung der Beschwerde und verweist auf seinen Entscheid vom 22. Mai 2022. Das Bundesamt für Justiz verzichtete auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit den beiden angefochtenen Urteilen liegen zwei Entscheide von zwei unterschiedlichen kantonalen letztinstanzlichen Gerichten zum selben Sachverhalt und zum gleichen rechtlichen Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten im Rahmen der Opferhilfe, gestellt durch die gleiche Person, die Beschwerdeführerin, vor. Aufgrund von deren engen sachlichen Nähe erscheint eine Vereinigung der Verfahren 1C_344/2022 und 1C_656/2022 als geboten (Art. 71 BGG i.V.m. Art. 24 BZP [SR 273]). 
 
2.  
Die angefochtenen Entscheide betreffen beantragte finanzielle Leistungen nach dem OHG und damit eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit (Art. 82 lit. a BGG; vgl. Urteil 1C_521/2020 vom 4. Oktober 2021 E. 1.1; 1C_420/2010 vom 25. Januar 2011 E. 1 mit Hinweis, nicht publ. in BGE 137 II 122). Ein Ausschlussgrund nach Art. 83 BGG besteht nicht. Die Beschwerdeführerin hat an den vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und hat ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der angefochtenen Entscheide, weshalb sie zur Beschwerde berechtigt ist (Art. 89 Abs. 1 BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerden ist einzutreten. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin erhebt verschiedene Rügen. Im Folgenden wird zuerst die Frage der Zuständigkeit behandelt (E. 4-E. 8) und anschliessend die Frage, ob die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf Übernahme ihrer Anwaltskosten hat (E. 9-E. 13). 
Verfahren 1C_344/2022 
 
4.  
Nach Eintritt der Rechtskraft des strafrechtlichen Urteils nahm das Bezirksgericht Weinfelden das OHG-Verfahren wieder auf und fällte ein Urteil. Während es der Beschwerdeführerin eine Genugtuung aus OHG von Fr. 15'000.-- zusprach, wies es den Antrag auf Entschädigung ihres Rechtsvertreters ab. Zur Begründung führte es unter anderem aus, Anwaltskosten seien als Leistungen im Sinne von Art. 13 OHG bzw. Art. 14 OHG zu qualifizieren, welche gemäss § 53 und § 54 des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 17. Juni 2009 über die Zivil- und Strafrechtspflege (ZSRG/TG; RB 271.1) nicht in die Entscheidungskompetenz des Bezirksgerichts fallen würden. Das Bezirksgericht äusserte sich ausserdem zur Begründetheit der Forderung. 
Das Obergericht führt in seinem Urteil aus, das Bezirksgericht Weinfelden habe die Forderung zu Recht abgewiesen, da es sich bei den Anwaltskosten nicht um einen entschädigungsfähigen Schaden nach Art. 19 OHG, sondern um längerfristige Hilfe im Sinne von Art. 13 Abs. 2 OHG handle. Für die Beurteilung von Begehren um längerfristige Hilfe sei nicht das Bezirksgericht Weinfelden, sondern das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau zuständig. Die Frage, ob das Bezirksgericht einen Nichteintretensentscheid hätte fällen müssen, könne offen gelassen werden, da aus dem erstinstanzlichen Entscheid hervorgehe, dass sich das Bezirksgericht nicht als zuständig erachtet habe. Im Dispositiv hielt das Obergericht fest, die Berufung erweise sich als "unbegründet". 
Nach Ansicht der Beschwerdeführerin verletzt der Umstand, dass ein Gericht, das sich als unzuständig erklärt, ein Sachurteil fällt, sowohl Art. 29 BV als auch Art. 9 BV
 
5.  
Es ist zunächst die Frage zu klären, ob die Anwaltskosten des Strafverfahrens als längerfristige Hilfe im Sinne von Art. 13 Abs. 2 OHG oder als Entschädigung im Sinne von Art. 19 OHG zu qualifizieren sind. 
 
5.1. Gemäss Art. 13 Abs. 1 OHG leisten die Opferhilfeberatungsstellen dem Opfer und seinen Angehörigen sofort Hilfe für die dringendsten Bedürfnisse, die als Folge der Straftat entstehen (Soforthilfe). Nach Abs. 2 desselben Artikels leisten sie dem Opfer und dessen Angehörigen soweit nötig zusätzliche Hilfe, bis sich der gesundheitliche Zustand der betroffenen Person stabilisiert hat und bis die übrigen Folgen der Straftat möglichst beseitigt oder ausgeglichen sind (längerfristige Hilfe). Die Beratungsstellen können die Soforthilfe und die längerfristige Hilfe durch Dritte erbringen lassen (Art. 13 Abs. 3 OHG).  
Hingegen haben das Opfer und seine Angehörigen nach Art. 19 Abs. 1 OHG Anspruch auf eine Entschädigung für den erlittenen Schaden infolge Beeinträchtigung oder Tod des Opfers. 
Gemäss Art. 5 der Verordnung vom 27. Februar 2008 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHV; RS 312.51) können Anwaltskosten ausschliesslich als Soforthilfe oder längerfristige Hilfe geltend gemacht werden. 
 
5.2. Das Bundesgericht hat in BGE 131 II 121, d.h. vor Inkrafttreten der Totalrevision des Opferhilfegesetzes, festgehalten, dass Anwaltskosten generell als Hilfeleistungen zu qualifizieren sind. Es hat aber die subsidiäre Forderung, die Anwaltskosten als Entschädigung abzugelten, nicht ausgeschlossen bzw. bejaht (E. 2.4; vgl. PETER GOMM in: Kommentar Opferhilfegesetz, 4. Auflage, 2020, N. 24 ad Art. 19 OHG). Unter dem alten Opferhilfegesetz bestand also die Möglichkeit, Anwaltskosten sowohl als Hilfeleistung gemäss OHG wie auch als Entschädigung gemäss OHG geltend zu machen.  
Am 1. Januar 2009 sind das totalrevidierte Opferhilfegesetz und die Opferhilfeverordnung in Kraft getreten. Art. 5 OHV sieht seither explizit vor, dass Anwaltskosten ausschliesslich als Soforthilfe oder längerfristige Hilfe geltend gemacht werden können. 
Dies stimmt mit der Botschaft zum totalrevidierten Opferhilfegesetz überein, wo der Bundesrat ausführt, die längerfristige Hilfe gemäss Art. 13 OHG diene dazu, die Folgen der Straftat zu beseitigen oder wenigstens zu mildern, und umfasse unter anderem die juristische Unterstützung (Anwalts- und Verfahrenskosten) in Verfahren, die Folge der Straftat seien (Botschaft vom 9. November 2005 zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten; BBl 2005 7211; nachfolgend: Botschaft OHG). 
Schliesslich führt auch die Schweizerische Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz (SVK-OHG) in ihrer Fachtechnischen Empfehlung vom 22. Oktober 2019 betreffend Übernahme von Anwaltskosten (nachfolgend: Empfehlung SVK-OHG betreffend Anwaltskosten) aus, dass die Anwaltskosten entweder als Soforthilfe oder als längerfristige Hilfe geltend gemacht werden können, und stützen sich dabei auf die Art. 13, 14 und 16 OHG sowie auf Art. 5 OHV
Vor diesem Hintergrund besteht kein Zweifel daran, dass Anwaltskosten ausschliesslich als Soforthilfe oder als längerfristige Hilfe im Sinne von Art. 13 OHG geltend gemacht werden können. Die gegenteilige Argumentation der Beschwerdeführerin ist unbegründet. 
 
6.  
Die Beschwerdeführerin macht weiter geltend, die Zuständigkeitsordnung des Kantons Thurgau im Bereich des OHG sei willkürlich (Art. 9 BV) und verletze den Vorrang von Bundesrecht (Art. 49 BV). 
 
6.1. Der Vollzug des OHG obliegt - mit Ausnahme der in Art. 31 ff. OHG umschriebenen Aufgaben - den Kantonen (Botschaft OHG, S. 7234). Letztere bestimmen insbesondere die für den Vollzug zuständigen Behörden (PETER GOMM, in: Kommentar Opferhilfegesetz, 4. Auflage, 2020, N. 7 ad Art. 29 OHG). Der Kanton Thurgau hat die Zuständigkeiten im Zusammenhang mit dem OHG im ZSRG/TG geregelt. Sie wurden per 1. Januar 2022 revidiert. Das erstinstanzliche Urteil erfolgte am 22. September 2021, weshalb vorliegend noch die alte Version des ZSRG/TG zur Anwendung gelangt.  
Nach § 53 Abs. 1 ZSRG/TG beurteilt das zuständige Strafgericht Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche gemäss Art. 19 bis 23 OHG. Hingegen beurteilt nach § 54 Abs. 1 ZSRG/TG das zuständige Departement Begehren um Soforthilfe und längerfristige Hilfe gemäss Art. 13 OHG und entscheidet über die Geltendmachung von Rückgriffsforderungen gemäss Art. 7 OHG
 
6.2. Wie ausgeführt, sind die Kantone betreffend die Organisation der OHG-Verfahren frei. Die Zuständigkeitsordnung des Kantons Thurgau verletzt somit in keiner Weise den Vorrang von Bundesrecht (Art. 49 BV). Die Zuständigkeit des Departements für die Beurteilung von Begehren um Soforthilfe und längerfristige Hilfe gemäss Art. 13 OHG ist auch nicht willkürlich; vielmehr stellt die Zuständigkeit einer Verwaltungsbehörde bzw. eines beliehenen Privaten für die Beurteilung eines öffentlich-rechtlichen Anspruchs im interkantonalen Vergleich den Regelfall dar (vgl. z.B. § 8 ff. des Einführungsgesetzes des Kantons Zürichs zum Opferhilfegesetz vom 25. Juni 1995 [341]; Art. 8 des Einführungsgesetzes des Kantons Bern zum Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 2. September 2009 [RS/BE 326.1]; Art. 9 ff. Loi d'application du canton de Vaud de la loi fédérale du 23 mars 2007 sur l'aide aux victimes d'infractions vom 24. Februar 2009 [RS/VD 312.41]; § 3 Einführungsgesetz des Kantons Basel-Stadt zum Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 22. April 1993 [RS/BS 257.900]; Art. 6 ff. Loi d'appplication du canton du Valais de la loi fédérale sur l'aide aux victimes d'infractions vom 10. April 2008 [RS/VS 312.5]).  
 
7.  
Die Beschwerdeführerin macht sodann eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV) geltend: Sie meint, das Bezirksgericht hätte mangels Zuständigkeit kein Sachurteil fällen und das Obergericht hätte das Urteil des Bezirksgerichts nicht schützen dürfen. 
 
7.1. Nach Art. 29 und 30 BV hat jede Person Anspruch auf ein faires Verfahren vor Verwaltungs- und Gerichtsbehörden. Dieser Anspruch beinhaltet unter anderem das Recht auf die Beurteilung durch die zuständige Behörde (vgl. den Wortlaut von Art. 30 BV und MOOR/POLTIER, Droit administratif. Volume II: Les actes administratifs et leur contrôle, 3. Aufl. 2011, S. 267, zu Art. 29 BV).  
Nach Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu wer-den. 
 
7.2. Vorliegend hat das Bezirksgericht Weinfelden das gegen C.________ geführte Strafverfahren mit Urteil vom 9. Dezember 2019 abgeschlossen. Als zuständiges Strafgericht war es gemäss § 53 Abs. 1 ZSRG/TG auch für die Beurteilung des Genugtuungsanspruchs nach OHG der Beschwerdeführerin zuständig.  
Hingegen war das Bezirksgericht Weinfelden nicht zuständig für die Beurteilung des Begehrens auf Übernahme der Anwaltskosten gemäss Art. 13 OHG der Beschwerdeführerin. Obwohl es dies selbst im Urteil so anmerkte, hat es sich materiell zu diesen Ansprüchen geäussert und den Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten abgewiesen. Mit anderen Worten hat es diesbezüglich ein Sachurteil gefällt, obwohl es nicht dafür zuständig war. Dies verstösst nicht nur gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 29 und 30 BV), sondern ist auch willkürlich. Indem das Obergericht den Entscheid des Bezirksgerichts Weinfelden vom 22. September 2021 insoweit nicht aufgehoben hat, verletzte auch es diese verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien. 
Die Frage, ob der Entscheid des Bezirksgerichts Weinfelden vom 22. September 2021 betreffend Übernahme der Anwaltskosten sogar nichtig ist, kann offenbleiben, da dieser mit dem angefochtenen Urteil so oder so (teilweise) aufgehoben wird. 
 
8.  
Zusammengefasst ist die Beschwerde im Verfahren 1C_344/2022 gutzuheissen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 18. Januar 2022 aufzuheben. 
Verfahren 1C_656/2022 
 
9.  
Im zweiten Verfahren - zunächst vor dem zuständigen Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau und dann vor dem Verwaltungsgericht - ging es um die Begründetheit des Gesuchs um Übernahme der Anwaltskosten. 
Das Verwaltungsgericht erachtete das Gesuch sowohl als verspätet wie auch als unbegründet, aufgrund der fehlenden Subsidiarität. Die Beschwerdeführerin bestreitet dies. 
 
10.  
Es ist zunächst zu klären, ob das strittige Gesuch der Beschwerdeführerin verspätet war. 
 
10.1. Das Verwaltungsgericht führt dazu aus, das Gesuch um Übernahme der Anwaltskosten sei soweit möglich vor Anfallen der Anwaltskosten zu stellen. Das Opfer habe sich an die opferrechtlichen Verfahren zu halten, um sicherzustellen, dass die Beratungsstelle die Kontrolle über die Berechtigung und den Umfang behalte. Wer diese Obliegenheit nicht erfülle, verliere den Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten. Vorliegend habe der Anwalt der Beschwerdeführerin erstmals am 11. Oktober 2021 beim zuständigen Departement um Leistungen aus OHG ersucht. Das Gesuch sei massiv verspätet. Zwar habe der Anwalt bereits am 3. März 2017 bei der Generalstaatsanwaltschaft um die Befreiung von Verfahrenskosten und einen "unentgeltlichen Opfervertreter" ersucht. Dieses Gesuch sei aber bei einer nicht zuständigen Behörde - der Generalstaatsanwaltschaft - eingereicht worden, die überdies nicht verpflichtet gewesen sei, nach § 5 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Thurgau über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Februar 1981 (VRG/TG; RB 170.1) die Eingabe an die zuständige Behörde weiterzuleiten.  
 
10.2. Die Beschwerdeführerin hält dagegen, das Verwaltungsgericht verstosse gegen Art. 8 f., 29 Abs. 2 und 49 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 2 lit. g, Art. 4, Art. 6, Art. 14, Art. 16, Art. 19, Art. 37, Art. 38 OHG sowie Art. 3 und 5 OHV, indem es behaupte, das Gesuch sei verspätet. Gemäss der alten Fassung von § 52 ZSRG/TG sei im Zeitpunkt der Gesuchstellung im Jahr 2017 die Generalstaatsanwaltschaft zuständig gewesen. Das Verwaltungsgericht führe zudem nicht aus, wer die Ansprüche aus Art. 24-33 OHG anstelle der Generalstaatsanwaltschaft hätte behandeln sollen; die Entscheidbefugnis des Departements für Justiz und Sicherheit sei erst mit der Revision im Jahr 2022 in Kraft getreten. Das Verwaltungsgericht erwähne in diesem Zusammenhang ausserdem die Beratungsstellen. Die alte, hier anwendbare Fassung des ZSRG/TG habe jedoch weder Bestimmungen zu den Beratungsstellen selbst noch zu deren Entscheidbefugnis enthalten. Selbst wenn die Generalstaatsanwaltschaft nicht zuständig gewesen wäre, hätte sie gemäss § 5 VRG/TG das Gesuch an die zuständige Behörde weiterleiten müssen, da die Generalstaatsanwaltschaft als Behörde im Sinne des VRG/TG zu qualifizieren sei. So oder so sei allein der materielle Anspruch auf Entschädigung aus OHG entscheidend. Schliesslich verstosse die Zuständigkeitsregelung des thurgauischen Gesetzgebers gegen den Grundsatz des Vorrangs von Bundesrecht (Art. 49 BV), da sie zur Folge habe, dass ein materiell begründeter Anspruch abgewiesen werde.  
 
10.3. Wenn die juristische Hilfe im Sinne von Art. 14 Abs. 1 OHG durch eine Drittperson erbracht wurde, können die dadurch angefallenen Anwaltskosten, wie oben ausgeführt, entweder als Soforthilfe oder als längerfristige Hilfe geltend gemacht werden (vgl. oben E. 5; Art. 13 OHG und Art. 5 OHV). Art. 16 OHG i.V.m. Art. 6 OHG regelt den Umfang des Anspruchs auf Kostenbeiträge für längerfristige Hilfe unter Berücksichtigung des Einkommens des Opfers bzw. seiner Angehörigen.  
Art. 15 Abs. 2 OHG sieht überdies vor, dass die Leistungen der Beratungsstellen unabhängig vom Zeitpunkt der Begehung der Straftat in Anspruch genommen werden können. Im Gegensatz zu Entschädigungs- und Genugtuungsansprüchen, die nach Art. 25 OHG einer Verwirkungsfrist unterliegen, verwirkt der Anspruch auf Hilfe der Beratungsstellen somit nicht (Botschaft OHG, S. 7213; ANOUCK ZEHNTNER in: Kommentar Opferhilfegesetz, 4. Auflage, 2020, N. 2 ad Art. 15 OHG). 
In Übereinstimmung mit Art. 15 Abs. 2 OHG wird in der Botschaft zum OHG betreffend längerfristige Hilfe durch Dritte ausserdem ausgeführt, dass es nicht nötig sei, das Beitragsgesuch zu stellen, bevor die Hilfe durch die externe Fachperson beansprucht werde. Auch nachträglich gestellte Gesuche um Kostenübernahmen seien zu bewilligen, wenn die Voraussetzungen erfüllt seien (Botschaft OHG, S. 7214). 
Schliesslich hat das Bundesgericht in BGE 131 II 121, in Anwendung des alten OHG, festgehalten, ein sorgfältiges Opfer sollte sich grundsätzlich unmittelbar nach Erhalt eines negativen Entscheids über die unentgeltliche Rechtspflege an die Beratungsstelle wenden, damit die Frage der Übernahme der Anwaltskosten im Voraus geregelt werden könne. Dies erlaube der Behörde eine gewisse Kontrolle über die Höhe der anfallenden Anwalts- und Gerichtskosten zu behalten. Der Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten aus OHG verwirke jedoch nicht, wenn das Opfer dies nicht tue. Das Opfer gehe höchstens das Risiko ein, dass die Opferhilfe a posteriori nicht die gesamten angefallenen Anwaltskosten übernehme (E. 2.4.3; vgl. auch BGE 133 II 361). Die SVK-OHG hat diese Rechtsprechung in ihrer Empfehlung betreffend Anwaltskosten übernommen (Empfehlung SVK-OHG, Ziff. 7). 
 
10.4. Vorliegend ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin am 11. Oktober 2021 beim Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau einen Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten gestellt hat. Da der Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten aus OHG wie soeben ausgeführt nicht verwirkt, war dieses Gesuch entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht verspätet.  
Bei diesem Zwischenfazit erübrigt es sich, der Frage nachzugehen, ob die Generalstaatsanwaltschaft als Behörde im Sinne vom VRG/TG zu gelten hat oder nicht und ob sie das Gesuch an die zuständige Behörde hätte weiterleiten müssen. 
 
11.  
Die Beschwerdeführerin macht sodann geltend, das Verwaltungsgericht habe ihr Gesuch um Übernahme der Anwaltskosten zu Unrecht abgewiesen bzw. nicht richtig abgeklärt. 
 
11.1. Das Verwaltungsgericht führte in seinem Urteil aus, die Leistungen aus OHG seien im Vergleich zur unentgeltlichen Rechtspflege subsidiär. Die Beschwerdeführerin habe jedoch kein Gesuch um amtliche Opfervertretung gestellt. Zwar habe sie am 3. März 2017 bei der Generalstaatsanwaltschaft einen Antrag auf Befreiung von Verfahrenskosten sowie die Bewilligung eines unentgeltlichen Opfervertreters gestellt. Es sei jedoch weder behauptet noch dargetan, dass der Opfervertreter auf ein Schreiben vom 15. Januar 2019 der Generalstaatsanwaltschaft geantwortet habe, in welchem diese ihn um Mitteilung gebeten habe, ob er am Gesuch festhalten wolle, andernfalls das Verfahren abgelegt werde. Der Opfervertreter habe sich nicht gegen die Abschreibung des Gesuchs gewehrt und auch keinen Entscheid über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege oder die Abschreibung des Verfahrens verlangt. Ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wäre jedoch vorliegend nicht aussichtslos gewesen: das jährliche steuerbare Einkommen der Eltern der Beschwerdeführerin habe in den Jahren 2018, 2019 und 2020 maximal Fr. 32'800.-- betragen und in ihrem Haushalt hätten fünf Kinder (inkl. der Beschwerdeführerin) gelebt. Zudem werde für die Berechnung der unentgeltlichen Rechtspflege im Strafverfahren auf den Grundbetrag ein Zuschlag von 25 % gewährt. Da weder glaubhaft gemacht noch belegt worden sei, dass ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege aussichtslos gewesen wäre, sei der Anspruch auf Hilfe aus OHG aufgrund von dessen Subsidiarität erloschen. Schliesslich habe die Beschwerdeführerin auch nicht glaubhaft dargelegt, dass die Parteientschädigung beim Beschuldigten nicht einbringlich sei.  
 
11.2. Der Vertreter der Beschwerdeführerin macht nicht mehr geltend, er habe ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt. Er führt jedoch aus, es ergebe sich weder aus dem OHG noch aus dem ZSRG/TG noch aus der StPO, dass die finanzielle Hilfe aus OHG subsidiär sei zur unentgeltlichen Rechtspflege.  
Zudem wäre ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege vorliegend aufgrund fehlender Mittellosigkeit der Eltern aussichtslos gewesen. Die anrechenbaren Einnahmen des Vaters und der Stiefmutter würden bei Fr. 83'445.60 liegen. Trotz fehlender Mittellosigkeit sei jedoch der Höchstbetrag nach Art. 6 OHG nicht erreicht, weshalb ein Anspruch auf Kostenübernahme bestehe. 
Der Vorwurf, die Beschwerdeführerin habe die Uneinbringlichkeit der Parteikosten beim verurteilten Täter nicht glaubhaft gemacht, sei ausserdem irrelevant, da die Ansprüche gegen Täter gemäss Art. 7 OHG auf den Kanton übergehen würden. Es sei unverhältnismässig, von der Beschwerdeführerin zu verlangen, die Uneinbringlichkeit zu beweisen, zumal das Departement die Informationen zur finanziellen Lage des Täters bei der kantonalen Finanzverwaltung einholen könne. Indem das Verwaltungsgericht den materiellen Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten verneint habe, habe es Art. 8 f. und 29 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 2 lit. g, Art. 4, Art. 6, Art. 7, Art. 14, Art. 16, Art. 19, Art. 37, Art. 38 OHG sowie Art. 3 und 5 OHV verletzt. 
 
12.  
 
12.1. Gemäss der unter dem alten OHG entwickelten Rechtsprechung waren die Leistungen aus OHG subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege (BGE 131 II 121 E. 2.3; 121 II 209 E. 3b; Urteil 1C_26/2008 vom 18. Juni 2008 E. 4; siehe auch MAZZUCCHELLI/POSTIZZI in: Basler Kommentar StPO, 2. Auflage, 2014, N. 19 zu Art. 136; HARARI/CORMINBOEUF HARARI in: Commentaire romand CPP, 2. Aufl., 2019, N. 39 zu Art. 136). Stand dem Opfer nach dem kantonalen Verfahrensrecht ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu, bestand grundsätzlich kein Bedarf mehr für die Übernahme der Anwaltskosten durch die Opferhilfestelle (Urteil 1C_26/2008 vom 18. Juni 2008 E. 4). In BGE 121 II 209 wurde diese Subsidiarität unter Hinweis auf die Materialien damit begründet, dass der Bundesgesetzgeber mit dem OHG, insbesondere betreffend die unentgeltliche Rechtspflege, nicht in die Zuständigkeit der Kantone im Bereich des Strafprozesses eingreifen wollte (E. 3b).  
Die Rechtslage hat sich seit der Entwicklung dieser Rechtsprechung jedoch beträchtlich verändert. Zum einen ist die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafprozessrechts seit der Annahme des Bundesbeschlusses über die Reform der Justiz am 12. März 2000 eine Bundeskompetenz (Art. 123 Abs. 1 BV). So hat am 1. Januar 2011 die Schweizerische Strafprozessordnung die kantonalen Strafprozessordnungen abgelöst. Zum anderen ist am 1. Januar 2009 die Totalrevision des OHG in Kraft getreten. Zumal das Bundesgericht die Subsidiarität der Leistungen aus OHG im Vergleich zur unentgeltlichen Rechtspflege hauptsächlich mit der - mittlerweile weggefallenen - kantonalen Zuständigkeit im Bereich des Strafprozessrechts begründete, rechtfertigt es sich, das Verhältnis der beiden Rechtsinstitute zu überprüfen. Dazu ist Art. 4 OHG auszulegen. 
 
12.2. Gemäss Art. 4 Abs. 1 OHG werden Leistungen der Opferhilfe nur endgültig gewährt, wenn der Täter oder die Täterin oder eine andere verpflichtete Person oder Institution keine oder keine genügende Leistung erbringt. Wer Kostenbeiträge für die längerfristige Hilfe Dritter, eine Entschädigung oder eine Genugtuung beansprucht, muss glaubhaft machen, dass die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt sind, es sei denn, es sei ihm oder ihr angesichts der besonderen Umstände nicht zumutbar, sich um Leistungen Dritter zu bemühen (Art. 4 Abs. 2 OHG).  
Art. 4 Abs. 1 OHG legt in allgemeiner Weise die Subsidiarität der Opferhilfe im Verhältnis zu anderen verpflichteten Personen und Institutionen fest, insbesondere dem ausdrücklich genannten Täter bzw. der Täterin. Das Institut der unentgeltlichen Rechtspflege wird hingegen nicht ausdrücklich erwähnt. Es stellt sich also die Frage, ob der Kanton, wenn er in einem Strafverfahren unentgeltliche Rechtspflege leistet, im Verhältnis zum Staat, wenn er Opferhilfe leistet, als eine "andere verpflichtete Person oder Institution" ("un autre débiteur" / "un'altra persona o istituzione debitrice") zu gelten hat. Da die Kantone sowohl für die unentgeltliche Rechtspflege wie auch betreffend Leistungen der Opferhilfe Schuldnerinnen sind (vgl. Botschaft OHG, S. 7239), ist dies zu verneinen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass keine "andere" - sondern die gleiche - verpflichtete Person bzw. Körperschaft zur Zahlung verpflichtet ist. Dieser Schluss bestätigt sich bei Berücksichtigung der übrigen Auslegungsmethoden, wie nachfolgend zu zeigen ist. 
 
12.3. In der Botschaft zum OHG wird zu Art. 4 ausgeführt, die Opferhilfe mildere allenfalls ungenügende Leistungen der primär Leistungspflichtigen und wolle verhindern, dass die betroffenen Personen Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssten (Botschaft OHG, S. 7205). Neben dem Täter oder der Täterin erwähnt die Botschaft als primär Leistungspflichtige ausdrücklich Sozial- und Privatversicherungen und ausländische Staaten (Botschaft OHG, S. 7205 und S. 7206). Der Kanton, der in einem Strafverfahren unentgeltliche Rechtspflege leistet, wird nicht erwähnt. Auch in der Parlamentsdebatte wurde der Kanton, der in einem Strafverfahren unentgeltliche Rechtspflege leistet, nicht als primär Leistungspflichtiger im Sinne von Art. 4 Abs. 1 OHG bezeichnet. Hingegen wurde mehrmals betont, dass die Opferhilfe dann gewährt werde, wenn die primär Leistungspflichtigen, "d.h. der Straftäter, die Straftäterin oder ihre Versicherungen nicht oder nicht ausreichend bezahlen" (Votum Ständerat Wicki, AB 2007 162 [Erste Sitzung des Ständerats vom 14. März 2007]; vgl. auch Votum Bundesrat Blocher, AB 2006 N. 1084 [Erste Sitzung des Nationalrats vom 22. Juni 2006]). Aufgrund der Gesetzesmaterialien zu Art. 4 OHG ist somit nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Opferhilfe als subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege einstufen wollte.  
Das Verhältnis des Opferhilferechts zum Institut der unentgeltlichen Rechtspflege wird in der Botschaft hingegen im Abschnitt zur Befreiung von Verfahrenskosten thematisiert. Der Bundesrat hält fest, die Opfer hätten die vom OHG vorgesehenen Kostenbeiträge für juristische Hilfe nicht nötig, soweit Art. 29 Abs. 3 BV oder die unentgeltliche Rechtspflege nach kantonalem Recht zur Anwendung gelange. Er verweist weiter auf die unter dem alten Recht ergangene, oben erwähnte Rechtsprechung zur Subsidiarität (Botschaft OHG, S. 7234). Der Bundesrat bezog sich hier also ausdrücklich auf die Rechtslage vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung und die damalige Kompetenzaufteilung im Bereich des Strafprozessrechts, weshalb sich daraus für die heutige Situation nichts ableiten lässt. Die Parlamentsdebatte zu Art. 30 OHG ist auch nicht aufschlussreich. 
Insgesamt ergibt sich aus der historischen Auslegung der Bestimmung keine eindeutige Antwort auf die zu beantwortende Frage. 
 
12.4. Aus systematischer Hinsicht ist zu bemerken, dass mit dem neuen OHG die Regelung in Art. 30 Abs. 3 OHG eingeführt wurde, wonach das Opfer und seine Angehörigen die Kosten für einen unentgeltlichen Rechtsbeistand nicht zurückerstatten müssen. Die unter dem alten Recht bestehende Schlechterstellung der Opfer, die unentgeltliche Rechtspflege erhielten und diese wieder zurückerstatten mussten, wenn sie zu neuem Vermögen kamen, wurde somit behoben (BGE 141 IV 262 E. 2.5; Botschaft OHG, S. 7234). Es spielt nunmehr keine Rolle mehr, ob das Opfer unentgeltliche Rechtspflege bezogen hat oder die Anwaltskosten unter dem Titel der längerfristigen Hilfe von der Opferhilfe übernommen wurden: es muss die staatliche Hilfe weder im ersten noch im zweiten Fall zurückerstatten. In BGE 141 IV 262 hat das Bundesgericht überdies festgehalten, dass Art. 30 Abs. 3 OHG auch unter der neuen Strafprozessordnung gilt, und bestätigt, dass der Gesetzgeber die erwähnte Ungleichbehandlung der Opfer mit dem neuen Recht nicht wieder einführen wollte. Es stützte sich dabei insbesondere auf die in Art. 8 BV verankerte Rechtsgleichheit (E. 3.3.3).  
Wäre der opferhilferechtliche Anspruch weiterhin subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege, wären die Opfer in sehr bescheidenen finanziellen Verhältnissen betreffend Geltendmachung des Anspruchs jedoch weiterhin schlechter gestellt als jene Opfer, die zwar nicht mittellos im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV sind, jedoch die Voraussetzungen für die Opferhilfe im Sinne von Art. 6 und Art. 16 OHG erfüllen. Tatsächlich müssten erstere ihren Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Strafverfahren unverzüglich geltend machen, ansonsten sie ihn aufgrund der Subsidiarität verlieren würden - und dies, obwohl das Recht selbst nicht verwirkt (vgl. oben E. 10.3). Das Zeitfenster, in dem diese - finanziell sehr schlecht gestellte - Kategorie von Opfern den Anspruch auf Übernahme der Kosten durch die unentgeltliche Rechtspflege geltend machen müssten, wäre relativ kurz. Hingegen könnten die finanziell etwas besser gestellten Opfer noch lange über das Strafverfahren hinaus den Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten geltend machen.  
In Übereinstimmung mit Art. 8 BV und der Regelung in Art. 30 Abs. 3 OHG, die auf die Gleichstellung aller Opfer abzielt, die staatliche Hilfe für das Strafverfahren beanspruchen können, müssen die Opfer auch bezüglich der Geltendmachung des Anspruchs auf staatliche Hilfe gleichgestellt werden. Die systematische Auslegung der Bestimmung spricht somit gegen eine Subsidiarität der Opferhilfegesetzgebung zur unentgeltlichen Rechtspflege. 
Anzufügen bleibt, dass die Gleichstellung der Opfer, die unentgeltliche Rechtspflege beantragen, im Vergleich zu jenen, die bei der Opferhilfe einen Antrag um Übernahme der im Strafverfahren angefallenen Anwaltskosten stellen, auch bezüglich der effektiven Entschädigung gewährleistet ist. Die von der Opferhilfe zu leistende anwaltliche Entschädigung entspricht gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich nämlich jenem Betrag, der in Anwendung des Tarifes über die unentgeltliche Rechtspflege zugesprochen worden wäre (BGE 131 II 121 E. 2.4.3). Bezüglich der Berechnung des Honorars ist somit unerheblich, ob das Opfer die unentgeltliche Rechtspflege beantragt oder seinen Anspruch auf Übernahme der im Strafverfahren angefallenen Anwaltskosten aus OHG geltend macht: es erhält in beiden Fällen in der Regel die gleiche Entschädigung. 
 
12.5. Schliesslich ist für die Ermittlung des Sinns und Zwecks der Subsidiarität der Leistungen der Opferhilfe erneut die Botschaft zum OHG heranzuziehen, wonach die Opferhilfegesetzgebung verhindern will, dass die betroffenen Personen Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, wenn die primär Leistungspflichtigen (Täter, Täterin, Sozial- und Privatversicherungen) nicht oder nicht genügende Leistungen erbringen (Botschaft OHG, S. 7205). Die Schlechterstellung der mittellosen Opfer bezüglich der Geltendmachung des Anspruchs auf Übernahme der Anwaltskosten könnte aber genau dies zur Folge haben: Haben sie - aus irgendeinem Grund - die unentgeltliche Rechtspflege im Strafverfahren nicht beantragt, könnten sie ihren Anspruch später nicht mehr geltend machen und müssten die Anwaltskosten selbst tragen. Je nach Höhe dieser Schuld wäre das Risiko, dass diese Opfer schlussendlich Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, beträchtlich.  
In diesem Sinne kann auch auf den Abschnitt der Botschaft bezüglich längerfristiger Hilfe verwiesen werden: Diese dient dazu, die Folgen der Straftat zu beseitigen oder wenigstens zu mildern (Botschaft OHG, S. 7211). Dieser Zweck kann nicht durchwegs erreicht werden, wenn die finanziell besonders schlecht gestellten Opfer den Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten verlieren, sofern sie keine unentgeltliche Rechtspflege beantragt haben. Im Gegenteil hätte diese Subsidiarität zur Folge, dass die Straftat die Opfer in noch grössere finanzielle Schwierigkeiten führt. Die Subsidiarität der Opferhilfe im Verhältnis zum Institut der unentgeltlichen Rechtspflege widerspricht somit auch der teleologischen Auslegung der Bestimmung. 
 
12.6. Zusammenfassend ergibt die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 OHG, dass die Subsidiarität der Opferhilfe im Verhältnis zur unentgeltlichen Rechtspflege nicht greift. Ein Opfer, das Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat, diesen aber im Strafverfahren nicht geltend macht, kann somit auch nachträglich noch bei der Opferhilfestelle den Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten stellen. Es wird somit diesbezüglich jenen Opfern gleichgestellt, die nicht mittellos im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV sind, aber die Voraussetzungen für die Opferhilfe im Sinne von Art. 6 und Art. 16 OHG erfüllen.  
Diese Präzisierung der Rechtsprechung betreffend Subsidiarität ändert nichts an der Rechtsprechung des Bundesgerichts in BGE 131 II 121: Ein sorgfältiges Opfer sollte sich weiterhin so früh wie möglich an die Beratungsstelle wenden, damit die Frage der Übernahme der Anwaltskosten soweit möglich im Voraus geregelt werden kann. Andernfalls besteht das Risiko, dass die Opferhilfe die angefallenen Anwaltskosten a posteriori nicht umfassend übernimmt (vgl. oben E. 10.3). 
 
13.  
Angewendet auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass der Beschwerdeführerin nicht entgegengehalten werden kann, sie habe die unentgeltliche Rechtspflege im Strafverfahren nicht beantragt. Der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Übernahme der Anwaltskosten aus der Opferhilfegesetzgebung ist weder verwirkt noch subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege. Des Weiteren hat die Beschwerdeführerin zumindest glaubhaft gemacht, dass die Parteientschädigung beim Täter nicht einbringlich ist; dies reicht gemäss Art. 4 Abs. 2 OHG aus. Das Verwaltungsgericht hat die Forderung somit materiell zu prüfen. 
Die Beschwerde im Verfahren 1C_656/2022 ist somit ebenfalls gutzuheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. November 2022 aufzuheben. Die Sache ist an das Verwaltungsgericht zur Neubeurteilung zurückzuweisen; dieses hat insbesondere abzuklären, ob die geltend gemachte Vertretung notwendig, geeignet und angemessen war (vgl. u.a. Urteil 1C_612/2015 vom 17. Mai 2016 E. 2.3). 
Zusammenfassung 
 
14.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde im Verfahren 1C_344/2022 gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Beschwerde im Verfahren 1C_656/2022 ist ebenfalls gutzuheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. November 2022 ist aufzuheben. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Thurgau hat der Beschwerdeführerin eine Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Verfahren 1C_344/2022 und 1C_656/2022 werden vereinigt. 
 
2.  
Die Beschwerde im Verfahren 1C_344/2022 wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 18. Januar 2022 und der Entscheid des Bezirksgerichts Weinfelden vom 22. September, soweit dieser die Übernahme der Anwaltskosten betrifft, werden aufgehoben. 
 
3.  
Die Beschwerde im Verfahren 1C_656/2022 wird gutgeheissen und das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 9. November 2022 wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zur Neubeurteilung zurückgewiesen. 
 
4.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
5.  
Der Kanton Thurgau hat der Beschwerdeführerin eine Entschädigung von Fr. 4'000.-- zu bezahlen. 
 
6.  
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, dem Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau, dem Obergericht des Kantons Thurgau, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Justiz, Fachbereich Rechtssetzungsprojekte II, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 2. Juni 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Hänni