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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_259/2022  
 
 
Urteil vom 23. Juni 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Müller, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dominic Nellen, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Erkennungsdienstliche Erfassung, 
WSA-Abnahme, Erstellung DNA-Profil, 
 
Beschwerde gegen den Beschuss des Obergerichts 
des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, 
vom 26. April 2022 (BK 22 14). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen Sachbeschädigung durch Sprayereien. Sie wirft ihm im Wesentlichen vor, in der Nacht vom 26. August 2021 in der Stadt Bern zwei "Tags" ("...") gesprüht zu haben. Am 28. Dezember 2021 ordnete sie seine erkennungsdienstliche Erfassung und die Abnahme eines Wangenschleimhautabstrichs (WSA) sowie die Erstellung seines DNA-Profils an. 
 
B.  
Dagegen erhob A.________ Beschwerde bei der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Bern. Diese stellte mit Beschluss vom 26. April 2022 fest, dass sein rechtliches Gehör verletzt wurde und wies die Beschwerde im Übrigen ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ vor Bundesgericht, den Beschluss des Obergerichts vom 26. April 2022 aufzuheben und von seiner erkennungsdienstlichen Erfassung und der Abnahme eines Wangenschleimhautabstrichs sowie der Erstellung eines DNA-Profils abzusehen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Staatsanwaltschaft oder (sub-) eventualiter an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung erkannte der Be-schwerde mit Verfügung vom 23. Juni 2022 die aufschiebende Wirkung zu. 
Die Vorinstanz hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer strafrechtlichen Angelegenheit, gegen den die Beschwerde in Strafsachen grundsätzlich offensteht (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG). Die strittigen Zwangsmassnahmen dienen nicht der Aufklärung der Straftaten, deren der Beschwerdeführer im laufenden Strafverfahren verdächtigt wird. Vielmehr sind sie mit Blick auf allfällige andere - bereits begangene oder künftige - Delikte angeordnet worden. Ihnen kommt somit eine über das Strafverfahren hinausgehende eigenständige Bedeutung zu. Der vorinstanzliche Entscheid ist deshalb praxisgemäss als Endentscheid zu behandeln, der nach Art. 90 BGG anfechtbar ist (Urteile 1B_217/2022 vom 15. Mai 2023 E. 1; 1B_508/2022 vom 16. Dezember 2022 E. 1; 1B_171/2021 vom 6. Juli 2021 E. 1; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und hat als Adressat der Zwangsmassnahmenanordnung ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids. Damit ist er nach Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 148 IV 409 E. 2.2; 147 IV 73 E. 4.1.2; 145 IV 154 E. 1.1). 
 
3.  
Zur Aufklärung eines Verbrechens oder eines Vergehens kann von der beschuldigten Person eine Probe genommen und ein DNA-Profil erstellt werden (Art. 255 Abs. 1 lit. a StPO). Ein solches Vorgehen ist nicht nur möglich zur Aufklärung bereits begangener und den Strafverfolgungsbehörden bekannter Delikte. Wie aus Art. 259 StPO in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 lit. a DNA-Profil-Gesetz klarer hervorgeht, soll die Erstellung eines DNA-Profils vielmehr auch erlauben, Täterinnen und Täter von Delikten zu identifizieren, die den Strafverfolgungsbehörden noch unbekannt sind. Dabei kann es sich um vergangene oder künftige Delikte handeln. Das DNA-Profil kann so Irrtümer bei der Identifikation einer Person und die Verdächtigung unschuldiger Personen verhindern. Es kann auch präventiv wirken und damit zum Schutz Dritter beitragen. Auch hinsichtlich derartiger Straftaten bildet Art. 255 Abs. 1 lit. a StPO eine gesetzliche Grundlage für die DNA-Probenahme und Profilerstellung (zum Ganzen: BGE 147 I 372 E. 2.1; 145 IV 263 E. 3.3; je mit Hinweisen). Art. 255 StPO ermöglicht aber nicht bei jedem hinreichenden Tatverdacht die routinemässige Entnahme und Analyse von DNA-Proben (BGE 147 I 372 E. 2.1; 145 IV 263 E. 3.4; je mit Hinweisen). 
Das zur DNA-Probenahme und -Profilerstellung Ausgeführte gilt gleichermassen für die erkennungsdienstliche Erfassung gemäss Art. 260 Abs. 1 StPO, bei der Körpermerkmale einer Person festgestellt und Abdrücke von Körperteilen genommen werden; dies jedoch mit dem Unterschied, dass die erkennungsdienstliche Erfassung auch für Übertretungen angeordnet werden kann. Art. 260 Abs. 1 StPO erlaubt indessen ebensowenig wie Art. 255 Abs. 1 StPO eine routinemässige erkennungsdienstliche Erfassung (BGE 147 I 372 E. 2.1 mit Hinweisen). 
Erkennungsdienstliche Massnahmen gemäss Art. 260 StPO und die Probenahme sowie die Erstellung eines DNA-Profils gemäss Art. 255 StPO können das Recht auf persönliche Freiheit bzw. körperliche Integrität (Art. 10 Abs. 2 BV) und auf informationelle Selbstbestimmung berühren (Art. 13 Abs. 2 BV und Art. 8 EMRK; BGE 147 I 372 E. 2.2 ff.; 145 IV 263 E. 3.4; je mit Hinweisen). Einschränkungen von Grundrechten bedürfen gemäss Art. 36 Abs. 1, 2 und 3 BV einer gesetzlichen Grundlage und müssen durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein. Diese Voraussetzungen werden in Art. 197 Abs. 1 StPO präzisiert. Danach können Zwangsmassnahmen nur ergriffen werden, wenn ein hinreichender Tatverdacht vorliegt (lit. b), die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können (lit. c) und die Bedeutung der Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigt (lit. d). 
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz hält im angefochtenen Entscheid fest, sowohl die Anordnung der erkennungsdienstlichen Erfassung als auch die DNA-Probenahme und -Profilerstellung seien zwar für die Aufklärung der Anlasstaten nicht nötig, liessen sich aber im Hinblick auf die Aufklärung weiterer Delikte rechtfertigen. Die Vorinstanz erachtet dabei die Angaben der Kantonspolizei Bern, wonach das "Tag" "..." bereits etliche Mal im Raum Bern angebracht worden sei, für glaubwürdig. Sie erwägt, e s könne davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer für die Sprayereien dieser "Tags" zumindest mitverantwortlich sei. Bei solchen Sprayereien handle es sich notorisch nicht um Einzeltaten. Ein "Sprayer" überlege sich in der Regel nicht, welchen Schaden er anrichten werde und nehme damit in Kauf, grossen Schaden zu verursachen. Ungeachtet des im vorliegenden Verfahren verursachten Sachschadens - der von der Generalstaatsanwaltschaft mit Fr. 4'600.-- beziffert werde und selbst bei tieferer Bezifferung keine "Lappalie" mehr sei - müsse konkret befürchtet werden, dass der Beschwerdeführer künftig auch einen weitaus grösseren Schaden verursachen werde. Die verfügten Zwangsmassnahmen erwiesen sich bei dieser Sachlage als verhältnismässig.  
 
4.2. Der Beschwerdeführer bestreitet dagegen die Verhältnismässigkeit der verfügten Zwangsmassnahmen und rügt eine Verletzung von Art. 197, 255 und 260 StPO sowie Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 BV und Art. 8 EMRK. Er macht dabei geltend, für die Anordnung der fraglichen Zwangsmassnahmen fehle es an der erforderlichen Deliktsschwere. Es handle sich bei den ihm vorgeworfenen Sachbeschädigungen lediglich um geringfügige Vermögensdelikte. Der angebliche Schaden einer mit "..." besprühten Stützmauer erscheine mit Fr. 2'600.-- insbesondere angesichts des sehr schlechten Zustands der Mauer massiv überhöht. Die Vorinstanz sei zudem in Willkür verfallen, als sie den Schaden an einer mit "..." besprühten mobilen Baustellensichtschutzwand mit Fr. 2'000.-- beziffert habe. Der Beschwerdeführer wehrt sich weiter gegen die Auffassung der Vorinstanz, wonach es sich bei Sprayereien notorisch nicht um Einzeltaten handle. Er argumentiert, mit dieser Begründung könnten solche Zwangsmassnahmen theoretisch bei jedem Verdacht auf Sachbeschädigung durch Sprayereien routinemässig angeordnet werden. Schliesslich weist er noch darauf hin, dass er nicht vorbestraft sei.  
 
4.3. Nach der Rechtsprechung sind die erkennungsdienstliche Erfassung und Erstellung eines DNA-Profils, soweit diese nicht der Aufklärung der Straftaten eines laufenden Strafverfahrens dienen, nur dann verhältnismässig, wenn erhebliche und konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die beschuldigte Person in andere - auch künftige - Delikte verwickelt sein könnte. Es muss sich zudem um Delikte von einer gewissen Schwere handeln (vgl. BGE 147 I 372 E. 4.2; 145 IV 263 E. 3.4; je mit Hinweisen). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die beschuldigte Person vorbestraft ist; trifft dies nicht zu, schliesst das die erkennungsdienstliche Erfassung oder Erstellung des DNA-Profils jedoch nicht aus, sondern es fliesst als eines von vielen Kriterien in die Gesamtabwägung ein und ist entsprechend zu gewichten (BGE 145 IV 263 E. 3.4 mit Hinweisen; Urteile 1B_230/2022 vom 7. September 2022 E. 2.2; 1B_171/2021 vom 6. Juli 2021 E. 4.1). Bei der Beurteilung der erforderlichen Deliktsschwere kommt es weder einzig auf die Ausgestaltung als Antrags- bzw. Offizialdelikt noch auf die abstrakte Strafdrohung an. Vielmehr sind das betroffene Rechtsgut und der konkrete Kontext miteinzubeziehen. Eine präventive erkennungsdienstliche Erfassung oder Erstellung eines DNA-Profils erweist sich insbesondere dann als verhältnismässig, wenn die besonders schützenswerte körperliche bzw. sexuelle Integrität von Personen bzw. unter Umständen auch das Vermögen (Raubüberfälle, Einbruchdiebstähle) bedroht ist. Es müssen mithin ernsthafte Gefahren für wesentliche Rechtsgüter drohen (Urteil 1B_171/2021 vom 6. Juli 2021 E. 4.3 mit Hinweisen).  
 
4.4. Die Beschwerde erweist sich als begründet: Der Beschwerdeführer ist nicht vorbestraft und die untersuchten Anlasstaten tangieren keine besonders schützenswerten Rechtsgüter (wie etwa die körperliche Integrität), sondern einzig das Vermögen. Zwar können Sprayereien potentiell einen hohen Sachschaden verursachen und damit die erforderliche Deliktsschwere erfüllen; im vorliegenden Fall soll sich der Schaden nach Angaben der Staatsanwaltschaft aber auf weniger als Fr. 5'000.-- belaufen. Zur Schadenshöhe der anderen "Tags", für die der Beschwerdeführer angeblich zumindest mitverantwortlich sein soll, finden sich keinerlei Angaben im angefochtenen Entscheid. Die dem Beschwerdeführer konkret vorgeworfenen Sachbeschädigungen können bei dieser Sachlage nicht als Delikte "einer gewissen Schwere" qualifiziert werden. Da die "präventive" erkennungsdienstliche Erfassung, DNA-Probenahme und DNA-Profilerstellung ohnehin unverhältnismässig erscheinen, kann offenbleiben, ob die Vorinstanz bei der Feststellung der Schadenshöhe in Willkür verfallen ist.  
 
5.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid, welcher die Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 28. Dezember 2021 betreffend Anordnung der erkennungsdienstlichen Erfassung, DNA-Probenahme sowie Erstellung eines DNA-Profils geschützt hat, ist aufzuheben. 
Allfällig bereits abgenommene Fingerabdrücke sind zu vernichten und der Eintrag in der Fingerabdruck-Datenbank (AFIS) ist zu löschen. Weiter sind allfällige bereits abgenommene DNA-Proben zu vernichten. Sofern ein DNA-Profilbereits erstellt wurde, ist dieses sowie dessen Eintrag in der DNA-Datenbank (CODIS) ebenfalls zu löschen (vgl. Urteil 1B_285/2020 vom 22. April 2021 E. 5, nicht publ. in BGE 147 I 372). 
Die Vorinstanz wird über die Kosten- und Entschädigungsfolgen ihres Verfahrens neu zu befinden haben (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG). 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Bern hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers reicht eine Honorarnote über Fr. 2'536.65 ein; diese gibt zu keinen Bemerkungen Anlass. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Bern vom 26. April 2022 wird aufgehoben. 
 
2.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des vorinstanzlichen Verfahrens an die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Bern zurückgewiesen. 
 
3.  
 
3.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
3.2. Der Kanton Bern hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Dominic Nellen, mit Fr. 2'536.65 zu entschädigen.  
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Bern-Mittelland, und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. Juni 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern