Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_519/2022  
 
 
Urteil vom 15. März 2024  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Haag, Müller, Merz, 
Gerichtsschreiber Dold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwältin Miriam Huwyler Schelbert, 
 
gegen  
 
Regierungsrat des Kantons Uri, 
Rathausplatz 1, 6460 Altdorf. 
 
Gegenstand 
Wegweisungs- und Fernhalteverfügung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts 
des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, 
vom 26. August 2022 (OG V 22 20). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der Verein B.________ beabsichtigte, am 10. April 2021 in Altdorf eine Kundgebung gegen die Massnahmen des Bundes und des Kantons Uri zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie durchzuführen. Die Kundgebung wurde nicht bewilligt. Die Kantonspolizei Uri erfuhr in der Folge, dass in den sozialen Medien für den gleichen Tag zu einem gegen die Corona-Massnahmen gerichteten "Spaziergang" in Altdorf und Schattdorf aufgerufen wurde. Sie gab deshalb über die Medien bekannt, dass sie seit geraumer Zeit Aktivitäten rund um eine nicht bewilligte Demonstration beobachte und am 10. April 2021 präsent sein werde, wobei ihre Arbeit in und rund um Altdorf spürbar sein werde. 
Am 10. April 2021 hielt die Kantonspolizei den im Kanton Schwyz wohnhaften A.________ im Rahmen einer Personenkontrolle auf der Giessenstrasse in Altdorf an. Wegen des Verdachts auf Teilnahme an einer nicht bewilligten Demonstration erliess sie gegen ihn an Ort und Stelle eine Wegweisungs- und Fernhalteverfügung. Konkret verbot sie ihm, sich vom 10. April 2021 um 13:40 Uhr bis am 11. April 2021 um 23:59 Uhr im Gebiet des Kantons Uri aufzuhalten. 
Eine von A.________ gegen die Wegweisungs- und Fernhalteverfügung gerichtete Verwaltungsbeschwerde wies der Regierungsrat des Kantons Uri mit Beschluss vom 31. Mai 2022 ab. Die von ihm in der Folge erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Uri mit Entscheid vom 26. August 2022 ebenfalls ab. 
 
B.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht vom 28. September 2022 beantragt A.________ die Aufhebung des Entscheids des Obergerichts und der polizeilichen Wegweisungs- und Fernhalteverfügung.  
Das Obergericht und der Regierungsrat haben auf eine Stellungnahme verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 86 Abs. 1 lit. d, Art. 90 BGG). Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG zur Verfügung. 
Gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde legitimiert, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit dazu erhalten hat (lit. a), durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist (lit. b) und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat (lit. c). Das erforderliche schutzwürdige Interesse muss nicht nur bei der Beschwerdeeinreichung, sondern auch noch im Zeitpunkt der Urteilsfällung aktuell und praktisch sein. Zwar gilt die vom Beschwerdeführer beanstandete Wegweisungs- und Fernhaltemassnahme längst nicht mehr, dauerte sie doch lediglich vom 10. bis zum 11. April 2021. Das Bundesgericht verzichtet jedoch ausnahmsweise auf das Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses, wenn sich die aufgeworfenen Fragen unter gleichen oder ähnlichen Umständen jederzeit wieder stellen können, eine rechtzeitige Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre und die Beantwortung wegen deren grundsätzlicher Bedeutung im öffentlichen Interesse liegt (BGE 149 V 49 E. 5.1; 142 I 135 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). Dies trifft hier zu (vgl. Urteil 1C_134/2022 vom 14. September 2022 E. 1.1). 
Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung. Er habe am 10. April 2021 mit seinem Auto nach Isleten fahren wollen, um dort den Surfern zuzuschauen. Der Verdacht, dass er sich an einer unbewilligten Demonstration habe beteiligen wollen, stütze sich letztlich einzig darauf, dass er mit einem ausserkantonalen Nummernschild unterwegs gewesen sei. Der Vorwurf des Obergerichts, seine Aussagen zu seinen Plänen an jenem Tag seien oberflächlich und formelhaft gewesen, komme einer willkürlichen Umkehrung der Beweislast gleich. Zudem sei auch Art. 22 des Polizeigesetzes des Kantons Uri vom 30. November 2008 (PolG; RB 3.8111) willkürlich angewendet worden. Danach beziehe sich die Wegweisung und Fernhaltung auf "bestimmte" Orte, Gebiete, Objekte oder Grundstücke. Gegen ihn sei die Massnahme dagegen für den ganzen Kanton angeordnet worden. Damit sei die Kantonspolizei in örtlicher Hinsicht über das Erforderliche hinausgegangen. Das selbe gelte für die zeitliche Dauer der Massnahme, denn die Kundgebung sei lediglich für den Samstag geplant gewesen. Die Anordnung, dass er sich auch am nächsten Tag nicht auf dem Kantonsgebiet aufhalten dürfe, sei unverhältnismässig gewesen. 
 
3.  
Die polizeilichen Massnahmen der Wegweisung und Fernhaltung beschränken die Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 BV; BGE 147 I 103 E. 10.3 mit Hinweisen). Sie müssen deshalb insbesondere dem Verhältnismässigkeitsprinzip genügen (Art. 36 Abs. 3 BV). Danach muss eine Massnahme für das Erreichen des im öffentlichen oder privaten Interesse liegenden Ziels geeignet und erforderlich sein und sich für die Betroffenen in Anbetracht der Schwere der Grundrechtseinschränkung als zumutbar erweisen. Erforderlich ist eine Massnahme, wenn der angestrebte Erfolg nicht durch gleich geeignete, aber mildere Massnahmen erreicht werden kann (BGE 147 I 346 E. 5.5 mit Hinweisen). 
Die Kantonspolizei äusserte sich im kantonalen Verfahren mit einer Stellungnahme vom 29. April 2021 ausführlich zu den Ereignissen rund um die verbotene Kundgebung und ihrem eigenen Vorgehen. Insbesondere führte sie aus, dass schon kurz nach dem Verbot in den sozialen Medien zu einem "Spaziergang" gegen die Corona-Massnahmen in Altdorf und Schattdorf aufgerufen worden sei. Wo dieser tatsächlich stattfinden würde, sei jedoch unklar gewesen. Auch in den Medien sei das Thema sehr präsent gewesen. Es sei zu befürchten gewesen, dass sich eine grosse Anzahl Menschen zu einer nicht bewilligten Kundgebung versammeln könnten. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass bei derartigen Kundgebungen die Pflicht zum Tragen von Gesichtsmasken missachtet werde, was zur Verbreitung des Coronavirus beitrage. Trotz des Polizeieinsatzes hätten sich denn auch rund 500 Personen in Altdorf zu einem Umzug zusammengefunden und dabei mehrheitlich keine Maske getragen. Zum Geltungsbereich der zahlreichen am 10. April 2021 erlassenen Wegweisungs- und Fernhalteverfügungen hielt die Kantonspolizei fest, dass diese bei Personen mit einem ausserkantonalen Wohnsitz das ganze Kantonsgebiet umfasst hätten. 
Der Beschwerdeführer stellt ein öffentliches Interesse an der Verhinderung der Kundgebung aus epidemiologischen Gründen nicht in Abrede, weshalb darauf nicht einzugehen ist. Nach dem Ausgeführten richtet sich seine Kritik vielmehr auf die örtliche Ausdehnung und die Dauer der gegen ihn gerichteten polizeilichen Massnahme. Tatsächlich ist nicht ersichtlich, weshalb er für die Dauer von zwei Tagen vom gesamten Kantonsgebiet ferngehalten werden musste. Zwar durfte die Kantonspolizei berücksichtigen, dass sich die Personen, die sich augenscheinlich über das Kundgebungsverbot hinwegsetzen wollten, nicht unbedingt an dem Ort versammeln würden, für den die Kundgebung ursprünglich beantragt worden war. Andererseits scheint die Befürchtung, diese Personen könnten sich irgendwo im Kanton zu einer Kundgebung versammeln, objektiv nicht gerechtfertigt. Gemäss ihrer eigenen Einschätzung laut der oben erwähnten Stellungnahme erwartete die Kantonspolizei Menschenansammlungen in Altdorf und Schattdorf. Entsprechend konzentrierte sie ihre Präsenz auf dieses Gebiet, wo die nicht bewilligte Kundgebung denn auch stattfand. Andere Gebiete, bei denen vernünftigerweise nicht von unbewilligten Kundgebungen ausgegangen werden musste, hätten somit vom räumlichen Geltungsbereich der Wegweisung und Fernhaltung ausgenommen werden können. Dies betrifft insbesondere auch Isleten, wo der Beschwerdeführer nach seinen eigenen Angaben an jenem Tag Surfer beobachten wollte. 
Die Wegweisungs- und Fernhalteverfügung war somit unverhältnismässig. Indem das Obergericht sie bestätigte, verletzte es Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 36 Abs. 3 BV. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und es kann offenbleiben, wie es sich mit den weiteren Rügen des Beschwerdeführers verhält. Insbesondere ist nach dem Ausgeführten nicht von Bedeutung, ob seine Behauptung, er habe nicht an die Kundgebung, sondern zur Beobachtung von Surfern nach Isleten fahren wollen, glaubhaft ist. 
 
4.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Da das Obergericht die bei ihm erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ebenfalls hätte gutheissen und zudem die Grundrechtsverletzung in seinem Entscheid feststellen müssen, ist das Dispositiv seines Entscheids entsprechend neu zu formulieren (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG). Damit entfällt die Kostenauferlegung durch das Obergericht und den Regierungsrat. Da der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren nicht anwaltlich vertreten war und somit keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung hatte, ist diesbezüglich nichts weiter anzuordnen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Uri hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Obergerichts Uri wie folgt geändert: "1. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen. Es wird festgestellt, dass die am 10. April 2021 von der Kantonspolizei Uri gegen den Beschwerdeführer erlassene Wegweisungs- und Fernhalteverfügung rechtswidrig war. 2. Es werden keine Verfahrenskosten erhoben." 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Uri hat den Beschwerdeführer mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Regierungsrat und dem Obergericht des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 15. März 2024 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Dold