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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_613/2022  
 
 
Urteil vom 6. Oktober 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Melina Tzikas, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
SWICA Versicherungen AG, Rechtsdienst, Römerstrasse 38, 8401 Winterthur, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 16. September 2022 (VBE.2021.502). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1983 geborene A.________ war bei der B.________ AG als Pizzabäckerin angestellt und bei der SWICA Versicherungen AG (nachfolgend: SWICA) obligatorisch unfallversichert. Am 3. Februar 2018 verletzte sie sich an einer Treppenstufenkante am linken Fu ssgelenk (Perforation mit einer Eisenstange). Laut Austrittsbericht des Spitals C.________ vom 29. März 2018 wurde A.________ in der Notfallpraxis behandelt. In der Folge verschloss der Hausarzt die zunächst offen gelassene Wunde, die jedoch zehn Tage später wieder aufbrach und im weiteren Verlauf wegen einer Wundheilungsstörung zahlreiche Behandlungen nach sich zog. Die SWICA erbrachte Versicherungsleistungen in Form von Heilbehandlung und Taggeld.  
Zur Beurteilung der weiteren Leistungspflicht gab die SWICA bei der Gutachterstelle D.________ eine Expertise in Auftrag, die diese am 30. September 2020 in den Fachrichtungen Orthopädie, Psychiatrie und Neurologie erstattete. Zudem äusserte sich die Gutachterstelle D.________ am 30. März 2021 erneut zur Sache. Mit Verfügung vom 14. April 2021 stellte die SWICA rückwirkend gestützt auf die gutachterlichen Einschätzungen die Leistungen per 29. Oktober 2020 ein. Zur Begründung führte sie aus, die Selbstverletzung von A.________ habe Komplikationen verursacht, die weitere Heilbehandlungen notwendig gemacht hätten. Die aktuellen Beschwerden stünden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht in kausalem Zusammenhang mit dem Unfallereignis vom 3. Februar 2018. Die dagegen erhobene Einsprache wies die SWICA mit Entscheid vom 15. Oktober 2021 ab. 
 
B.  
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 16. September 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ die Aufhebung des kantonalen Urteils. Die SWICA sei zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen nach UVG auch über den 29. Oktober 2020 hinaus zu bezahlen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz, subeventualiter an die SWICA zu weiteren Abklärungen, zurückzuweisen. 
Die SWICA wie auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 147 I 73 E. 2.1; 145 V 57 E. 4.2; je mit Hinweis).  
 
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht in Bestätigung des Einspracheentscheids zu Recht einen Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin über den 29. Oktober 2020 hinaus verneint hat. 
 
3.  
Die Vorinstanz hat dem Gutachten der Gutachterstelle D.________ vom 30. September 2020 Beweiswert beigemessen. Gestützt auf dessen Ergebnisse wie auch mit Blick auf die Stellungnahme der Experten vom 30. März 2021 hat sie dargelegt, dass die rein unfallbedingten Ursachen ohne Selbstverletzung (Einstichstelle von einem nadelförmigen Instrument auf der Rückseite der ursprünglichen Verletzung und ganz unübliche Keime, namentlich aus der Darmflora) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit spätestens neun Monate nach dem Unfall vom 3. Februar 2018 ohne nennenswerte Folgen abgeheilt gewesen wären. Die noch vorhandenen Beschwerden seien somit nicht mehr natürlich kausal auf das Unfallereignis, sondern auf eine absichtliche Selbstschädigung zurückzuführen. Damit entfalle eine Leistungspflicht der SWICA. 
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführerin stellt in erster Linie den Beweiswert (vgl. BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a) der Expertise der Gutachterstelle D.________ in Frage. Sie macht geltend, es hätten noch ein Wundexperte sowie ein Facharzt für Infektiologie hinzugezogen werden müssen.  
 
4.2. Gutachterinnen und Gutachtern steht bei der Wahl der Untersuchungsmethoden ein weiter Ermessensspielraum zu (vgl. z.B. Urteile 8C_260/2016 vom 13. Juli 2016 E. 5.1; 8C_780/2014 vom 25. März 2015 E. 5.1; je mit weiteren Hinweisen). Dazu gehört auch die Auswahl der durchzuführenden fachärztlichen Abklärungen (Urteil 8C_820/2016 vom 27. September 2017 E. 5.5 mit Hinweis). Es liegt somit im Ermessen der begutachtenden Personen, ob der Beizug weiterer Fachrichtungen notwendig ist (Urteil 8C_495/2021 vom 16. März 2022 E. 4.3 mit Hinweis). Gemäss dem einleitenden Text der Expertise räumte die SWICA den Gutachtern der Gutachterstelle D.________ die Möglichkeit ein, nach Rücksprache mit ihr weitere Fachpersonen einzuschalten. Die Experten haben sich offensichtlich in der Lage gesehen, den Gesundheitszustand mit den Disziplinen Orthopädie, Psychiatrie und Neurologie abschliessend beurteilen zu können, weshalb der Vorinstanz keine Rechtsverletzung vorgeworfen werden kann, wenn sie dem Gutachten auch ohne zusätzliche Fachpersonen Beweiswert zuerkannt hat.  
 
5.  
 
5.1. Die Beschwerdeführerin rügt weiter, der Vorwurf der selbstschädigenden Handlung stütze sich auf blosse Vermutungen. Es sei nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bewiesen, dass sie die Wundheilungsstörung absichtlich herbeigeführt habe.  
 
5.2. Selbstschädigung und Selbsttötung setzen gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG ein absichtliches Handeln voraus. Auch Eventualvorsatz genügt (BGE 143 V 285 E. 4.2.4). Ob eine Selbstschädigung vorliegt, beurteilt sich nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Dabei dürfen angesichts praktischer Beweisschwierigkeiten an den Nachweis einer freiwilligen Selbstbeeinträchtigung keine überspitzten Anforderungen gestellt werden (Urteile 8C_828/2019 vom 17. April 2020 E. 4.4.1; 8C_663/2009 vom 27. April 2010 E. 2.4 mit Hinweisen). Anders als bei der Selbsttötung gilt bei der Selbstschädigung die natürliche Vermutung nicht, wonach aufgrund der Macht des Selbsterhaltungstriebs in der Regel von der Unfreiwilligkeit einer solchen Tat auszugehen ist (vgl. Urteile 8C_591/2015 vom 19. Januar 2016 E. 3.1; 8C_663/2009 vom 27. April 2010 E. 2.3 und 2.4).  
 
5.3.  
 
5.3.1. Die Gutachter der Gutachterstelle D.________ hatten Kenntnis vom Bericht (mit Operationsdatum vom 17. Februar 2020) des behandelnden Arztes Prof. Dr. med. E.________, Facharzt Chirurgie. Dieser äusserte sich zu den Befunden, die seiner Ansicht nach auf eine Selbstverletzung hindeuteten. Im Rahmen der Anamneseerhebung kontaktierten die Gutachterstelle D.________ Gutachter Prof. Dr. med. E.________ telefonisch. Dabei bestätigte er das bereits im Operationsbericht Gesagte nochmals. Er bemerkte, dass bei der Revision der Wunde für Hautinfektionen ganz unübliche Keime (zwei Darmkeime und Klebsiella) nachgewiesen worden seien. Ausserdem habe er bei einem operativen Eingriff mikroskopisch eine Einstichstelle dorsal der ursprünglichen Verletzung entdeckt, weshalb er eine Selbstverletzung mit einem nadelförmigen Instrument vermutet habe. In der Folge habe er während der chirurgischen Behandlung den sogenannten "Scotchcast" verabreicht und damit das ganze Infektionsgebiet abgedichtet. Danach habe die Beschwerdeführerin die Wunde nicht mehr manipulieren können. In dieser Zeit sei es zur Beruhigung und keinen weiteren Infektionen gekommen. Ihm falle auf, so Prof. Dr. med. E.________ weiter, dass die letzte Infektion in der Zeit aufgetreten sei, in der die Beschwerdeführerin nicht unter ärztlicher oder therapeutischer Aufsicht gestanden habe. Dieser Umstand habe seinen Verdacht auf eine selbstinduzierte Infektion deutlich erhärtet.  
Der orthopädische Gutachter der Gutachterstelle D.________ berichtete, dass die Verletzung, welche die Beschwerdeführerin am 3. Februar 2018 erlitten habe, auch beim Auftreten eines Infektes in der Tiefe des linken Unterschenkels spätestens nach sechs bis neun Monaten verheilt wäre. Das bei den Untersuchungen festgestellte desolate Zustandsbild sei ausschliesslich krankheitsbedingt. Aus dem psychiatrischen Teilgutachten der Gutachterstelle D.________ geht hervor, dass es sich bei der Selbstverletzung um eine selbst zugefügte Störung handelt (ICD-10 F68.10). Der Psychiater hielt fest, das einzige diagnostische Kriterium, das zu hinterfragen sei, sei die Voraussetzung, dass das gezeigte Verhalten nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden könne (z.B. eine wahnhafte Störung oder eine andere psychotische Störung). Er kam zum Schluss, dass bei der Beschwerdeführerin ein Verdacht auf eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.31) bestehe. Selbstverletzungen seien bei dieser Störung vergleichsweise häufig. Zudem seien bei der Beschwerdeführerin laut Austrittsbericht der Klinik F.________ psychotische und Derealisationsphänomene objektiviert worden. Bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen sowie bei psychotischen Störungen werde selbstverletzendes Verhalten jedoch in der Regel nicht verheimlicht. Ausserdem sei bei Selbstverletzungen im Rahmen psychischer Störungen die ärztliche Hilfe nicht das primäre Ziel der betroffenen Person. Bei der Beschwerdeführerin habe die vorgetäuschte Störung offensichtlich bewirkt, dass sie als behindert gelte und ihr vor diesem Hintergrund auch berufliche Tätigkeiten nicht mehr zugemutet würden. Die vorliegenden Umstände sprächen daher eher gegen eine Selbstschädigung aufgrund einer psychischen Störung. 
In ihrer Stellungnahme vom 30. März 2021 bestätigten die Gutachter nochmals, dass die Wundheilungsstörung durch eine Selbstverletzung verursacht worden sei. Wann diese begonnen habe, sei schwer zu erfassen. Spätestens ab dem Zeitpunkt, als Prof. Dr. med. E.________ die chirurgische Behandlung übernommen und Massnahmen ergriffen habe ("Scotchcast"), habe sich der Verdacht der Selbstverletzung erhärtet. 
 
5.3.2. Das kantonale Gericht hat erkannt, es stehe aufgrund dieser gutachterlichen Aussagen mit dem Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit fest, dass die noch bestehenden Einschränkungen auf einer absichtlichen Selbstschädigung basieren. Die Beschwerdeführerin zeigt insgesamt keine konkreten Anhaltspunkte auf, die gegen die vorinstanzliche Beweiswürdigung sprechen. Vielmehr legt sie im Wesentlichen ihre eigene Sicht dar, wie die Wundheilungsstörung zustande gekommen sei, wie die medizinischen Unterlagen zu würdigen und welche Schlüsse daraus zu ziehen seien. Dies genügt nicht, um die vorinstanzliche Beurteilung als bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen (vgl. E. 1 oben; Urteil 8C_380/2022 vom 27. Dezember 2022 E. 11.1 mit Hinweis).  
Die Beschwerdeführerin macht namentlich geltend, der Einstichkanal, aus dem Prof. Dr. med. E.________ und die Gutachter der Gutachterstelle D.________ die Selbstverletzung ableiten würden, beruhe darauf, dass sowohl im Universitätsspital Basel als auch in der Klinik F.________ Eiterblasen aufgestochen worden seien. Dies ist jedoch, wie sie selbst konstatiert, in den jeweiligen Berichten nicht dokumentiert. Auch der Vorwurf der Beschwerdeführerin, die behandelnden Medizinalpersonen hätten sie mehrmals ohne Hygienehandschuhe behandelt, ist nicht belegt. Ausserdem hat die Vorinstanz richtig erkannt, dass für die Gutachter der Gutachterstelle D.________ zwar unklar geblieben sei, seit wann genau sich die unüblichen Keime in der Wunde befunden hätten. Sie seien aber davon ausgegangen, dass dies spätestens ab dem Zeitpunkt der Behandlung durch Prof. Dr. med. E.________ (Operationsdatum 17. Februar 2020) der Fall gewesen sei. Inwiefern das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt haben soll, indem es für die Frage des Zeitpunkts der Selbstschädigung auf den gutachterlich festgelegten Moment abgestellt hat, ist nicht ersichtlich. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend bemerkt, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Verunreinigung der Wunde bereits früher stattgefunden hat, doch würde dies an der Einstellung der Leistungen auf den 29. Oktober 2020 hin nichts zu ihren Gunsten ändern. 
Aus dem gleichen Grund geht auch der Verweis der Beschwerdeführerin auf den Bericht der Klinik F.________ vom 21. November 2019 und der damit verbundene Vorwurf, eine Manipulation (der Wunde) sei damals nicht erkennbar gewesen, ins Leere. Auch dazu ist festzuhalten, dass die Gutachter der Gutachterstelle D.________ eine Selbstverletzung erst zu einem späteren Zeitpunkt annahmen und die SWICA ihre Leistungen entsprechend erst im Oktober 2020 einstellte. 
 
5.4.  
 
5.4.1. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz in antizipierter Beweiswürdigung (BGE 144 V 361 E. 6.5) bundesrechtskonform auf weitere Abklärungen verzichtet. Mit dem kantonalen Gericht ist der Expertise der Gutachterstelle D.________ folgend davon auszugehen, dass die noch vorhandenen Beschwerden auf die Selbstverletzung zurückzuführen sind. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die Schlussfolgerung der Vorinstanz, wonach die unfallbedingten Ursachen gestützt auf die Ergebnisse der Expertise der Gutachterstelle D.________ ohne die selbstverschuldete Störung spätestens neun Monate nach dem Ereignis vom 3. Februar 2018 ohne nennenswerte Folgen ausgeheilt gewesen wären. Mit dem kantonalen Gericht ist von einer (zumindest eventualvorsätzlichen) Herbeiführung des Gesundheitsschadens auszugehen (vgl. Art. 37 Abs. 1 UVG und E. 5.2 oben).  
 
5.4.2. Zusammenfassend hat die Vorinstanz die Leistungseinstellung der SWICA auf den 29. Oktober 2020 hin im Ergebnis zu Recht bestätigt.  
 
6.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. Oktober 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber