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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_206/2023  
 
 
Urteil vom 12. Mai 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter, Chaix, Kölz, 
Gerichtsschreiber Schurtenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Duri Bonin, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, Schwere Gewaltkriminalität, 
Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich, 
 
Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung, 
Rechtsdienst der Amtsleitung, 
Hohlstrasse 552, Postfach, 8090 Zürich. 
 
Gegenstand 
Versetzung vom geschlossenen vorzeitigen Strafvollzug in den offenen vorzeitigen Strafvollzug, 
 
Beschwerde gegen die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich, Präsident der I. Strafkammer, vom 22. März 2023 (SB220601). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 9. Abteilung, vom 20. Juli 2022 wurde A.________ wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und weiterer Delikte unter anderem zu einer Freiheitsstrafe von 5 1/2 Jahren verurteilt. Das diesbezügliche Berufungsverfahren ist am Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, hängig. 
 
B.  
A.________ befindet sich seit dem 27. Juni 2020 in Untersuchungshaft respektive im vorzeitigen Strafvollzug. Mit Eingabe vom 20. Februar 2023 beantragte er die Versetzung in den offenen vorzeitigen Strafvollzug. Dieses Gesuch wies das Obergericht mit Präsidialverfügung vom 22. März 2023 ab. 
 
C.  
Dagegen hat A.________ mit Eingabe vom 19. April 2023 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er beantragt, den vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben und ihn in den offenen Vollzug zu versetzen, eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter beantragt er die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren. 
Das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung hat mit Stellungnahme vom 26. April 2023 die Abweisung der Beschwerde beantragt. Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der angefochtenen Verfügung hat die Vorinstanz als letzte kantonale Instanz über die anwendbaren Haftmodalitäten entschieden. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht offen (vgl. Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1 und 2 und Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; siehe BGE 143 I 241 E. 1). Auf die Beschwerde in Strafsachen ist einzutreten. 
 
2.  
Die Vorinstanz hat das Gesuch des Beschwerdeführers um Versetzung in den offenen Vollzug aufgrund nach wie vor bestehender Wiederholungsgefahr abgewiesen. Sie erwägt, im psychiatrischen Gutachten vom 19. Mai 2021 werde festgehalten, dass die Rückfallgefahr davon abhänge, ob die dem Beschuldigten vorgeworfene versuchte vorsätzliche Tötung aus einem bewusst intendierten oder sogar geplanten oder aber einem situativ geprägten Geschehen resultiert sei. Im ersteren Fall sei das Rückfallrisiko für Gewaltdelikte als moderat bis deutlich einzuschätzen, im letzteren Fall liege indessen bloss ein geringes bis moderates Rückfallrisiko vor. Welche dieser Sachverhaltshypothesen zutreffe, sei nun aber gerade Gegenstand des Berufungsverfahrens, würden die Parteien sich diesbezüglich doch auf diametral entgegengesetzte Standpunkte stellen. Es könne daher "nicht unbesehen auf die Darstellung des Beschuldigten abgestellt werden", weshalb unter Hinweis auf das psychiatrische Gutachten nach wie vor von einem moderat bis deutlichen Rückfallrisiko betreffend Gewaltdelikte auszugehen und die Wiederholungsgefahr daher weiterhin zu bejahen sei. 
 
3.  
 
3.1. Gemäss Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG müssen Entscheide, die der Beschwerde an das Bundesgericht unterliegen, die massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art, insbesondere die Angabe der angewendeten Gesetzesbestimmungen, enthalten. Aus dem Entscheid muss klar hervorgehen, von welchem festgestellten Sachverhalt die Vorinstanz ausgegangen ist und welche rechtlichen Überlegungen sie angestellt hat (BGE 141 IV 244 E. 1.2.1; 138 IV 81 E. 2.2; 135 II 145 E. 8.2). Die Begründung ist insbesondere mangelhaft, wenn der angefochtene Entscheid jene tatsächlichen Feststellungen nicht trifft, die zur Überprüfung des eidgenössischen Rechts notwendig sind oder wenn die rechtliche Begründung des angefochtenen Entscheids so lückenhaft oder unvollständig ist, dass nicht geprüft werden kann, wie das eidgenössische Recht angewendet wurde. Die Begründung ist ferner mangelhaft, wenn einzelne Tatbestandsmerkmale, die für die Subsumtion unter eine gesetzliche Norm von Bedeutung sind, von der Vorinstanz nicht oder nicht genügend abgeklärt wurden (BGE 135 II 145 E. 8.2; 119 IV 284 E. 5b; Urteil 1B_474/2022 vom 29. September 2022 E. 3.1; je mit Hinweisen).  
 
3.2. Der angefochtene Entscheid ist äusserst knapp begründet. Die Vorinstanz beschränkt sich im Wesentlichen darauf, festzustellen, dass bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr sich zwei diametral widersprechende Sachverhaltshypothesen gegenüberstehen. Weshalb sie auf die für den Beschwerdeführer ungünstigere Sachverhaltsvariante abstellt und folglich von einem moderat bis deutlichen Rückfallrisiko ausgeht, begründet sie nicht. Insbesondere geht sie nicht auf den Umstand ein, dass zum Tatgeschehen bereits eine ausführliche erstinstanzliche Beurteilung durch das Bezirksgericht vorliegt, und setzt sich nicht mit dieser auseinander, wie es im Haftverfahren nach ständiger Rechtsprechung geboten ist (vgl. BGE 139 IV 270 E. 3; Urteil 1B_540/2022 vom 17. November 2022 E. 5.4.1; je mit Hinweisen). Unter diesen Umständen erlaubt es das angefochtene Urteil nicht, die korrekte Rechtsanwendung zu überprüfen.  
 
3.3. Genügt ein Entscheid wie vorliegend den Anforderungen gemäss Art. 112 Abs. 1 BGG nicht, so kann das Bundesgericht ihn in Anwendung von Art. 112 Abs. 3 BGG an die kantonale Behörde zur Verbesserung zurückweisen oder aufheben. Hingegen steht es ihm nicht zu, sich an die Stelle der Vorinstanz zu setzen, die ihrer Aufgabe nicht nachgekommen ist (BGE 141 IV 244 E. 1.2.1). Die angefochtene Verfügung ist somit aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese einen den Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 BGG genügenden Entscheid trifft (Art. 112 Abs. 3 BGG).  
 
3.4. Vor diesem Hintergrund erübrigt es sich, auf die Rügen des Beschwerdeführers in der Sache einzugehen. Mit Blick auf das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen (Art. 5 Abs. 2 StPO; Art. 31 Abs. 4 BV) ist die Vorinstanz indessen darauf hinzuweisen, dass sie aus Gründen der Prozessökonomie dazu gehalten ist, bei der erneuten Beurteilung auch die weiteren Voraussetzungen der Gewährung des offenen Strafvollzugs zu prüfen (vgl. dazu Urteil 1B_197/2023 vom 4. Mai 2023 E. 4.5). Insbesondere wird sie sich - unabhängig von der Beurteilung der Wiederholungsgefahr - mit den Anträgen des Amts für Justizvollzug und Wiedereingliederung auseinandersetzen müssen, welches die Versetzung des Beschwerdeführers in den offenen Vollzug mit Blick auf ihre Vollzugsplanung (noch) als verfrüht erachtet.  
 
4.  
Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde gutzuheissen, die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Zürich hat dem obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 BGG). Das vom Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich vom 22. März 2023 wird aufgehoben und die Sache an dieses zurückgewiesen zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Zürich hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Duri Bonin, für das Verfahren vor Bundesgericht mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, dem Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung, und dem Obergericht des Kantons Zürich, Präsident der I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 12. Mai 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger