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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.263/2002 /bmt 
 
Urteil vom 28. August 2002 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesrichter Aeschlimann, Féraud, 
Gerichtsschreiber Pfäffli. 
 
H.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Präsidium des Bezirksgerichtes Diessenhofen, 8255 Schlattingen, 
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8500 Frauenfeld, 
Obergericht des Kantons Thurgau, Promenadenstrasse 12, 8500 Frauenfeld. 
 
Art. 32 Abs. 2 und Art. 9 BV (Bestellung eines Offizialverteidigers), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 11. März 2002. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Das Untersuchungsrichteramt des Kantons Thurgau führt gegen H.________ eine Strafuntersuchung wegen mehrfacher Veruntreuung zu Lasten seiner früheren Arbeitgeberin, der Gemeinde X.________. Gemäss dem polizeilichen Schlussbericht vom 4. Oktober 2001 geht es um 47 einzelne Positionen mit einem Deliktsbetrag von insgesamt Fr. 281'531,85. In 22 Fällen mit einem Deliktsbetrag von Fr. 233'096,35 ist der Angeschuldigte geständig. 
B. 
Am 10. Dezember 2001 stellte H.________ ein Gesuch um amtliche Verteidigung. Der Untersuchungsrichter leitete das Gesuch mit dem Antrag auf Bewilligung an das Bezirksgerichtspräsidium Diessenhofen weiter. Zur Begründung führte er aus, dass aufgrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse und nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft der Angeschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einer Gefängnisstrafe von mehr als 18 Monaten zu rechnen habe. Zudem sei die Strafuntersuchung kompliziert und es ergäben sich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht diverse Punkte, deren Beurteilung oder Erörterung die Fähigkeiten des Angeschuldigten übersteigen würden. Schliesslich sei ausgewiesen, dass der Angeschuldigte bedürftig sei. 
 
In der Folge wies das Bezirksgerichtspräsidium Diessenhofen am 5. Februar 2002 das Gesuch um amtliche Verteidigung zur Zeit ab. Der Angeschuldigte erhob dagegen Beschwerde beim Obergericht des Kantons Thurgau. Dieses wies die Beschwerde am 11. März 2002 ab. Zusammenfassend führte es zur Begründung aus, es liege nur ein relativ schwerer Fall vor. Der nicht vorbestrafte Angeschuldigte habe von Anfang an mit den Untersuchungsbehörden kooperiert. Mit der Staatsanwaltschaft sei nicht davon auszugehen, dass die verhängte Strafe über 18 Monaten zu liegen komme. In rechtlicher Hinsicht seien keine besonderen Probleme ersichtlich. Aufgrund der Ausbildung und Erfahrung des Angeschuldigten seien auch in tatsächlicher Hinsicht - zumal der Sachverhalt nicht unübersichtlich, sondern klar strukturiert sei - keine Probleme vorhanden, denen der Angeschuldigte, auf sich alleine gestellt, nicht gewachsen wäre. 
C. 
H.________ führt mit Eingabe vom 17. Mai 2002 staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 11. März 2002 und beantragt dessen Aufhebung. 
D. 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Thurgau beantragen die Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie eingetreten werden kann. Das Präsidium des Bezirksgerichts Diessenhofen stellte keinen formellen Antrag. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der angefochtene Entscheid des Obergerichts ist kantonal letztinstanzlich (Art. 86 Abs. 1 OG). Er schliesst das Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab und ist somit ein Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 OG. Zwischenentscheide über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung gelten nach konstanter Bundesgerichtspraxis als Zwischenentscheide mit nicht wieder gutzumachendem Nachteil im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG (BGE 126 I 207 E. 2a). Auf die Beschwerde ist daher, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 127 I 38 E. 3c mit Hinweisen), einzutreten. 
2. 
Der Anspruch auf amtliche Verteidigung wird in erster Linie durch die Vorschriften des kantonalen Strafprozessrechts geregelt. Unabhängig davon greifen die direkt aus Verfassung (Art. 29 Abs. 3 BV) und Europäischer Menschenrechtskonvention (Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK) hergeleiteten Minimalgarantien Platz. 
2.1 
Nach § 50 Abs. 4 der Strafprozessordnung des Kantons Thurgau (StPO) muss der Angeklagte vor Gericht grundsätzlich durch einen Anwalt verteidigt sein, wenn er zur Wahrung seiner Interessen unfähig ist oder wenn eine Strafe beantragt wird, bei welcher der bedingte Strafvollzug wegen ihrer Dauer ausgeschlossen ist oder in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bestehen, deren Beurteilung oder Erörterung die Fähigkeiten des Angeklagten übersteigt. Der Beschwerdeführer macht nicht in einer den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG entsprechenden Weise geltend, das Obergericht habe § 50 Abs. 4 StPO willkürlich angewendet; dies ist auch nicht ersichtlich. 
2.2 
Der Beschwerdeführer beruft sich auf Art. 32 Abs. 2 BV. Er legt jedoch nicht dar - und es ist auch nicht zu erkennen - inwiefern diese Bestimmung durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sein soll. Aus seinen Ausführungen ergibt sich jedoch, dass er wohl eine Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV geltend machen wollte. 
 
Nach Art. 29 Abs. 3 BV (früher Art. 4 aBV) hat die bedürftige Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Prozess Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand, sofern ein solcher zur gehörigen Interessenwahrung erforderlich ist (vgl. BGE 126 I 194 E. 3a; 125 I 161 E. 3b). Für den Bereich des Strafverfahrens ist die Bestellung eines amtlichen Rechtsvertreters nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts geboten, wenn das Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen des Betroffenen eingreift. Dies trifft unabhängig von den tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens zu, wenn ein schwerer Fall vorliegt, das heisst dem Angeschuldigten konkret eine schwerwiegende freiheitsentziehende Massnahme oder eine Strafe droht, deren Dauer die Gewährung des bedingten Strafvollzuges ausschliesst. Falls kein besonders schwerer Eingriff in die Rechte des Gesuchstellers droht, müssen zur relativen Schwere des Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller - auf sich alleine gestellt - nicht gewachsen wäre. Als besondere Schwierigkeiten fallen nicht nur Umstände wie Kompliziertheit der Rechtsfragen, Unübersichtlichkeit des Sachverhalts, besondere verfahrensrechtliche Schwierigkeiten und dergleichen in Betracht, sondern insbesondere auch in der Person des Angeschuldigten liegende Gründe, wie etwa dessen Fähigkeiten, sich im Verfahren zurechtzufinden. Dass im betreffenden Verfahren die Offizialmaxime gilt, vermag die Notwendigkeit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung nicht a priori auszuschliessen. Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, verneint die Bundesgerichtspraxis jeglichen verfassungsmässigen Anspruch auf eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung (BGE 122 I 49 E. 2c/bb; 120 Ia 43 E. 2). 
2.3 
Das Obergericht geht davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht mit einer Freiheitsstrafe von über 18 Monaten zu rechnen habe. Es schliesst - mit Blick auf den gegenwärtig bekannten Sachverhalt - unter Würdigung der bundesgerichtlichen Praxis zur Strafzumessung in Veruntreuungsfällen bei Ersttätern eine unbedingte Freiheitsstrafe aus. Damit verneinte es das Vorliegen eines besonders schweren Falles im Sinne der dargelegten Bundesgerichtspraxis, welcher eine amtliche Verteidigung unabhängig von den tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten gebietet. Der Beschwerdeführer beanstandet dies nicht. Er macht einzig geltend, das Obergericht hätte ihm aufgrund der besonderen Schwierigkeiten des Falles einen unentgeltlichen amtlichen Verteidiger zugestehen müssen. Insbesondere seine psychische Verfassung würde es ihm verunmöglichen, sich selber zu verteidigen. 
2.4 
Der polizeiliche Schlussbericht vom 4. Oktober 2001 führt 47 einzelne Positionen mit einem Deliktsbetrag von insgesamt Fr. 281'531,85 auf. Der Beschwerdeführer ist dabei geständig, in der Zeit vom Sommer 1998 bis Oktober 2000 als Angestellter der Gemeindeverwaltung X.________ in 22 Fällen insgesamt rund Fr. 230'000.-- veruntreut zu haben. Die übrigen 25 Positionen im Gesamtbetrag von Fr. 48'435,50 sind im polizeilichen Schlussbericht unter der Rubrik "Kein Delikt/kein Geständnis" aufgeführt. 
2.4.1 
Nach Auffassung des Obergerichts gehe es in tatsächlicher Hinsicht vorab um die genannten 25 Positionen. Bei jedem Deliktsbetrag stehe fest, wann und auf welche Weise er abdisponiert worden sei und in welchem Zusammenhang er stehe. Der Beschwerdeführer sei zu sämtlichen Positionen befragt worden. Im Wesentlichen gehe es immer um die Frage, ob Beträge, welche der Gemeinde belastetet wurden, und vom beauftragten Treuhandunternehmen anlässlich einer Revision der Buchhaltung keinem Zweck zugeordnet werden konnten, vom Beschwerdeführer bezogen wurden. 
 
Der Beschwerdeführer bezeichnet sich in seiner Beschwerde als Fachmann in Finanz- und Steuerfragen. Bei dieser Sachlage ist nicht ersichtlich, und wird vom Beschwerdeführer auch nicht in einer den Anfordrungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise geltend gemacht, inwiefern sich in tatsächlicher Hinsicht komplexe und heikle Fragen stellen könnten, denen er nicht gewachsen wäre. Die Beschwerde ist insoweit abzuweisen, soweit überhaupt darauf einzutreten ist. 
2.4.2 
Der Beschwerdeführer macht nicht in einer den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise geltend, das Obergericht hätte ihm aufgrund der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten des Falles einen unentgeltlichen amtlichen Verteidiger zugestehen müssen. In diesem Punkt setzt sich der Beschwerdeführer überhaupt nicht mit den Ausführungen im obergerichtlichen Entscheid auseinander. Darauf ist nicht einzutreten. 
2.4.3 
Der Beschwerdeführer bestreitet unter Hinweis auf seine psychischen Probleme, sich selbst verteidigen zu können. Er sei suizidgefährdet. Diese Gefahr würde steigen, wenn er sich wieder intensiv mit seinen Straftaten beschäftigen müsste. 
Aus dem bei den Akten liegenden Arztzeugnis vom 8. Februar 2002 lässt sich entnehmen, dass sich der Beschwerdeführer seit dem 29. August 2001 in psychiatrischer Behandlung zur Verarbeitung der Vorgänge an seinem letzten Arbeitsplatz auf einer Gemeindeverwaltung befinde. Sein Zustand habe sich gebessert, jedoch nicht in dem Masse, dass er erneut auf einer Gemeinde arbeiten könne. Die relative Stabilität würde wieder gefährdet und der psychische Zustand würde sich aller Voraussicht nach wieder verschlechtern, weshalb es notwendig sei, eine andere Arbeit zu finden. Zur Frage, ob der Beschwerdeführer aufgrund seiner psychischen Verfassung nicht in der Lage sei, sich selber zu verteidigen, äussert sich das Arztzeugnis indessen nicht. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer gemäss den Ausführungen des Obergerichts im angefochtenen Entscheid, auf die gemäss Art. 36a Abs. 3 OG verwiesen werden kann, anlässlich einer Befragung selbst erklärt habe, die psychotherapeutische Betreuung sei nicht nötig in Bezug auf eine allfällige Belastung durch die Strafuntersuchung; vielmehr absolviere er diese mit dem Interesse, für sich zu klären, wie er zu seiner Delinquenz gelangt sei. Mit diesen Ausführungen setzte sich der Beschwerdeführer nicht rechtsgenüglich auseinander. Daher ist nicht ersichtlich, inwiefern das Obergericht verfassungsmässige Rechte des Beschwerdeführers verletzt haben sollte, als es zum Schluss kam, es bestünden vom gesundheitlichen Standpunkt her keine Anhaltspunkte, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen. Die Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden kann. 
2.4.4 
Der angefochtene Entscheid äussert sich nicht zur Frage der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers. Da jedoch das Obergericht bereits das Vorliegen besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Probleme verneint hatte, brauchte es die Bedürftigkeit des Angeschuldigten als weitere Voraussetzung für eine amtliche Verbeiständung nicht mehr zu prüfen. 
3. 
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
Bei diesem Verfahrensausgang hat grundsätzlich der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege stellte er nicht. Angesichts des Streitgegenstandes rechtfertigt es sich jedoch, ausnahmsweise von der Erhebung von Verfahrenskosten abzusehen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Präsidium des Bezirksgerichts Diessenhofen sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 28. August 2002 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: