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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_85/2022  
 
 
Urteil vom 18. Juli 2022  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Müller, 
nebenamtlicher Bundesrichter Weber, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Rolf Rüegg, Kreisgericht See-Gaster, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer 
des Kantons St. Gallen vom 26. Januar 2022 
(AK.2021.568-AK). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Gegen A.________ wird ein Strafverfahren wegen Ungehorsams gegen Anordnungen eines Sicherheitsorgans des öffentlichen Verkehrs (Art. 9 des Bundesgesetzes vom 18. Juni 2010 über die Sicherheitsorgane der Transportunternehmen im öffentlichen Verkehr, BGST; SR 745.2), Übertretung nach Epidemiengesetz (Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen, EpG; SR 818.101), Übertretung der Covid-19-Verordnung besondere Lage (Verordnung vom 19. Juni 2020 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie; AS 2020 2213) sowie der revidierten Covid-19-Verordnung vom 23. Juni 2021 (AS 2021 379) geführt. Ihm wird vorgeworfen, am 30. Dezember 2020 als Reisender im Zug von U.________ in Richtung V.________ trotz Aufforderung der SBB-Transportpolizei keine Gesichtsmaske getragen zu haben. Ebenfalls habe er am 10. August 2021 während des Einvernahmetermins beim Untersuchungsamt Uznach keine Gesichtsmaske getragen. A.________ macht geltend, durch ein Attest von der Maskenpflicht befreit gewesen zu sein. 
 
B.  
Das sprach A.________ am 13. Dezember 2021 des Ungehorsams gegen Anordnungen eines Sicherheitsorgans des öffentlichen Verkehrs schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 140.--. Von der Übertretung nach Epidemiengesetz und der Übertretung der Covid-19-Verordnung besondere Lage wurde er freigesprochen. 
Das zu Beginn der Hauptverhandlung vom 13. Dezember 2021 gestellte Ausstandsgesuch gegen Einzelrichter Rolf Rüegg leitete dieser an die Anklagekammer des Kantons St. Gallen weiter. Diese wies das Gesuch mit Entscheid vom 26. Januar 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 22. Februar 2022 beantragt A.________ sinngemäss, den Entscheid vom 26. Januar 2022 der Anklagekammer des Kantons St. Gallen aufzuheben und das Ausstandsgesuch gegen Einzelrichter Rolf Rüegg gutzuheissen. 
Die Vorinstanz und der Beschwerdegegner haben auf Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren in einer Strafsache (Art. 78 Abs. 1 und Art. 92 Abs. 1 BGG). Die Anklagekammer des Kantons St. Gallen hat als letzte und einzige kantonale Instanz entscheiden (Art. 80 BGG i.V.m. Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO). Als beschuldigte Person ist der Beschwerdeführer gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde legitimiert. 
 
2.  
 
2.1. Nach Art. 105 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Abs. 1). Es kann diese Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Abs. 2). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 143 IV 241 E. 2.3.1 mit Hinweis). Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG). Eine entsprechende Rüge ist substanziiert vorzubringen (Art. 42 Abs. 2 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG).  
 
2.2. Nach der Feststellung des Sachverhalts der Vorinstanz wies der Beschwerdegegner den Beschwerdeführer zu Beginn der Hauptverhandlung vom 13. Dezember 2021 auf die in den Räumlichkeiten des Kreisgerichts See-Gaster geltende Maskenpflicht hin und forderte ihn auf, eine Gesichtsmaske zu tragen. Der Beschwerdegegner habe dies damit begründet, dass es sich bei der vom Beschwerdeführer vorgelegten Erklärung nicht um ein ärztliches Attest handle und deshalb nicht glaubhaft sei, dass er aus medizinischen Gründen keine Maske tragen könne. Da der Beschwerdeführer dieser Aufforderung keine Folge geleistet habe, sei er unter Hinweis auf Art. 64 StPO erneut aufgefordert worden, eine Gesichtsmaske zu tragen. Hierauf habe der Beschwerdeführer den Ausstand des Beschwerdegegners beantragt, da dieser sein "Attest" bereits vor der Hauptverhandlung für ungültig erklärt und ihn damit vorverurteilt habe.  
 
2.3. Der Beschwerdeführer schildert in seiner Beschwerdeschrift die zu seinem Ausstandsgesuch führenden Ereignisse aus seiner Sicht, ohne jedoch eine willkürliche oder im Sinne von Art. 95 BGG rechtsfehlerhafte Feststellung des entscheidwesentlichen Sachverhalts zu rügen. Eine solche ist auch sonst nicht ersichtlich, weshalb vom Sachverhalt, wie er von der Vorinstanz festgestellt wurde, auszugehen ist.  
 
3.  
 
3.1. Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Gericht ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Die Garantie des verfassungsmässigen Gerichts soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Diese Garantie wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten Verhalten der betreffenden Gerichtsperson oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein (BGE 142 III 732 E. 4.2.2 mit Hinweisen; Urteil 1B_240/2021 vom 8. Februar 2022 E. 3.1). Auf das bloss subjektive Empfinden einer Partei kann bei der Beurteilung nicht abgestellt werden. Die abgelehnte Gerichtsperson muss nicht tatsächlich befangen sein; der Anschein der Befangenheit genügt (BGE 144 I 234 E. 5.2; 143 IV 69 E. 3.2; 141 IV 178 E. 3.2.1; je mit Hinweisen).  
Die genannte verfassungs- bzw. konventionsrechtliche Garantie wird unter anderem durch Art. 56 StPO konkretisiert (BGE 144 I 234 E. 5.2 mit Hinweisen). Gemäss dieser Bestimmung tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person unter anderem in den Ausstand, wenn sie in einer anderen Stellung, insbesondere als Mitglied einer Behörde, als Rechtsbeistand einer Partei, als Sachverständige oder Sachverständiger, als Zeugin oder Zeuge, in der gleichen Sache tätig war (sog. Vorbefassung; lit. b) oder wenn sie aus "anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte" (Art. 56 lit. f StPO). Die Gerichte gehören zu den Strafbehörden (vgl. Art. 13 StPO). 
Ist die vom Ausstandsgesuch betroffene Person in derselben Stellung mit der gleichen Sache mehrfach befasst, liegt keine Vorbefassung im Sinne von Art. 56 lit. b StPO, sondern eine sog. Mehrfachbefassung vor (BGE 143 IV 69 E. 3.1; Urteil 1B_98/2021 vom 3. März 2022 E. 5.4 mit Hinweis, zur Publikation vorgesehen). Die Mehrfachbefassung kann unter dem Gesichtswinkel von Art. 56 lit. f StPO Bedeutung erlangen, wenn zu erwarten ist, die betroffene Gerichtsperson habe sich in Bezug auf einzelne Fragen bereits in einem Masse festgelegt, dass das Verfahren im späteren Verfahrensabschnitt nicht mehr als offen erscheint (Urteil 1B_593/2021 vom 11. April 2022 E. 4.3 mit Hinweisen). 
Ob eine unzulässige, den Verfahrensausgang vorwegnehmende Mehrfachbefassung vorliegt, kann nicht allgemein gesagt werden und ist anhand der tatsächlichen und verfahrensrechtlichen Umstände in jedem Einzelfall zu klären (BGE 131 I 113 E. 3.4; Urteil 1B_98/2021 vom 3. März 2022 E. 5.4, zur Publikation vorgesehen; Urteil 1B_593/2021 vom 11. April 2022 E. 4.4.1; je mit Hinweisen). Zu berücksichtigen ist dabei, in welchen prozessualen Funktionen die Gerichtsperson mit der Sache befasst war, welche Fragen sie zu entscheiden hatte und in welchem Zusammenhang diese zu den aktuell zu beantwortenden Fragen stehen, sowie der Umfang ihrer Entscheidbefugnis; auch die Bedeutung jedes einzelnen Entscheids für den Fortgang des Verfahrens kann in die Beurteilung einbezogen werden (vgl. BGE 138 I 425 E. 4.2.1; 131 I 24 E. 1.2 mit Hinweisen). 
 
3.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Beschwerdegegner habe anlässlich der Hauptverhandlung vom 13. Dezember 2021 eine "klare Vorverurteilung und Befangenheit" gezeigt, als er ihm mitgeteilt habe, dass er sein "Attest", auf welches er sich auch im Hauptverfahren beruft, nicht akzeptiere. Er habe damit "schon ein Urteil gefällt", ohne den Beschwerdeführer angehört zu haben. Der Beschwerdeführer rügt damit sinngemäss eine Verletzung der Bestimmungen über den Ausstand nach Art. 56 ff. StPO und der Garantie auf ein unparteiisches, unvoreingenommenes und unbefangenes Gericht nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK.  
 
3.3. Der Argumentation des Beschwerdeführers kann nicht gefolgt werden. Der Beschwerdegegner hat das "Attest" vor Beginn der Hauptverhandlung in seiner Funktion als Verfahrensleiter allein unter sitzungspolizeilichen Gesichtspunkten geprüft. Im anschliessenden Hauptverfahren hatte er das fragliche "Attest" dagegen in seiner Eigenschaft als urteilender Richter unter Einhaltung aller strafrechtlichen Verfahrensgarantien zu würdigen. Eine solche Mehrfachbefassung des Beschwerdegegners als Verfahrensleiter und Organ der gerichtlichen Sitzungspolizei gemäss Art. 62 und 63 StPO einerseits und als in der Sache urteilender Strafrichter gemäss Art. 19 StPO andererseits ist bereits im Gesetz angelegt und insoweit nicht zu beanstanden.  
Der Beschwerdegegner hatte jeweils nicht nur unterschiedliche Sachverhalte, sondern auch andere Rechtsgrundlagen zu prüfen. So warf die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer insbesondere eine Verletzung der Maskenpflicht gemäss Art. 3a Covid-19-Verordnung besondere Lage vom 19. Juni 2020 (in der vom 22. Dezember 2020 bis 8. Januar 2021 gültig gewesenen Fassung) sowie nach Art. 6 Abs. 1 der revidierten Covid-19-Verordnung besondere Lage vom 23. Juni 2021 (in der vom 26. Juni bis 12. September 2021 gültig gewesenen Fassung) vor, während sich die Maskenpflicht im Gerichtssaal zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung auf Art. 6 Abs. 1 der revidierten Covid-19-Verordnung besondere Lage vom 23. Juni 2021 in der vom 6. bis 13. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung stützte. 
Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Ausgang des Hauptverfahrens trotz der verweigerten Befreiung von der Maskenpflicht in den Räumlichkeiten des Kreisgerichts See-Gaster immer noch offen erschien, wobei die erfolgten Freisprüche in der Sache (vgl. vorne lit. B) diese Annahme bestätigen. Die Vorinstanz hat das Ausstandsgesuch somit zu Recht abgewiesen. 
 
4.  
Nach dem Dargelegten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der unterliegende Beschwerdeführer kostenpflichtig (vgl. Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 18. Juli 2022 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern